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c) Durchbrechung des Meistbegünstigungsprinzips für Zeitgesetze
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Bei Zeitgesetzen kommt das Milderungsgebot dem Täter nach § 2 Abs. 4 StGB nicht zugute. Hier gilt das Meistbegünstigungsprinzip nicht. Vielmehr soll für Zeitgesetze, weil deren Außerkrafttreten vorhersehbar ist, die faktische Geltungskraft der Norm sichergestellt werden, so dass dem Täter die Erwartung einer späteren Folgenlosigkeit des Rechtsbruchs genommen wird. In diesen Fällen muss es aus Gründen, die mit der Natur des Zeitgesetzes und den vom Gesetzgeber in dieser Hinsicht verfolgten Regelungszwecken zusammenhängen, bei der Anwendung des Tatzeitrechts bleiben (Rn. 78 ff.). Eine solche Durchbrechung des Meistbegünstigungsprinzips sieht Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh allerdings nicht vor.
d) Sonderregelung für Verfall, Einziehung und Unbrauchbarmachung
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Für die gegen das Eigentum gerichteten Sanktionen des Verfalls, der Einziehung und der Unbrauchbarmachung, die nach der Gliederung des Strafgesetzbuchs weder den Strafen und Nebenfolgen noch den Maßregeln der Besserung und Sicherung zuzuordnen sind, sondern mit den Maßregeln zur Gruppe der „Maßnahmen“ (§ 11 Nr. 8 StGB) gehören, gelten die vorgenannten Grundsätze gemäß § 2 Abs. 5 StGB entsprechend (Rn. 83).
e) Sonderregelung für Maßregeln der Besserung und Sicherung
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§ 2 Abs. 6 StGB sieht für Maßregeln der Besserung und Sicherung vor, dass nach dem Gesetz zu entscheiden ist, das zur Zeit der Entscheidung gilt, und schließt damit das Eingreifen des Rückwirkungsverbots grundsätzlich aus, gestattet aber abweichende gesetzliche Regelungen (Rn. 84 ff.). Damit wird im Bereich der Prävention ermöglicht, flexibel vorzugehen und neue Vorstellungen sofort durchzusetzen, um eine zeitgerechte Prävention zu erreichen.[38]
2. Zeitlicher Geltungs- und Anwendungsbereich von Strafgesetzen
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Der zeitliche Geltungsbereich der Strafgesetze wird durch verschiedene Grundsätze geprägt: Es geht um das Zusammenspiel des Grundsatzes „lex posterior derogat legi priori“ mit dem Grundsatz „nullum crimen sine lege“, speziell in seinen Ausprägungen des Gesetzlichkeitsprinzips und des Rückwirkungsverbots, und weiterhin mit dem „lex mitior“-Grundsatz.[39] Der lex posterior-Grundsatz ist ein staatsrechtlicher Grundsatz, „nullum crimen, nulla poena sine lege“ hat Verfassungsrang (Art. 103 Abs. 2 GG) und das Milderungsgebot hat nach h.M. in Deutschland den Rang einfachen Rechts, während es in der Grundrechtscharta als Verfassungsprinzip genannt wird.
a) Inkrafttreten und Derogation von Gesetzen
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Strafrechtliche Gesetzesänderungen richten sich nach den allgemeinen Regeln über das Inkrafttreten und die Derogation von Gesetzen.[40] Für ihre Geltung müssen alle Gesetze von dem zuständigen Organ in einem ordnungsgemäßen Verfahren erlassen, ausgefertigt und in der vorgeschriebenen Form verkündet worden sein (Art. 82 GG). Außerdem müssen sie in Kraft getreten und geblieben sein und dürfen nicht in Widerspruch zu einer geltenden ranghöheren Rechtsquelle stehen.[41]
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Die Derogation von Gesetzen, das „Außergeltungtreten“, kann durch Zeitablauf, durch förmliche Aufhebung oder nachträgliche Kollision mit einer Norm gleichen oder höheren Ranges erfolgen. Dabei stellt das Außerkrafttreten durch Zeitablauf eine Ausnahmeerscheinung dar, die voraussetzt, dass die Geltungsdauer gesetzlich befristet war (sog. Zeitgesetz im engeren Sinne[42]). In der Regel setzt die Derogation von Gesetzen einen späteren Rechtssetzungsakt des Gesetzgebers voraus, durch den die bisher bestehende Vorschrift aufgehoben wird. Hierfür besteht zum einen die Möglichkeit, dass der Gesetzgeber eine Norm durch einen späteren Rechtsakt ausdrücklich aufhebt, und zum anderen, dass er die Rechtslage durch einen ranggleichen oder ranghöheren Rechtssatz bestimmt. Da die Geltung eines Gesetzes auf dem Willen des Gesetzgebers beruht und durch Verabschiedung der „lex posterior“ der gesetzgeberische Wille, der für die Geltung des alten Rechts konstitutiv war, aufgegeben wird, kommt das alte Gesetz grundsätzlich ganz in Wegfall. Nur die neue Regelung beansprucht alleinige und umfassende Geltung.
b) Dogmatische und systematische Konzeption des § 2 StGB
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Die dogmatische und systematische Konzeption, die § 2 StGB zugrunde liegt, ist nach wie vor umstritten. Nach h.M. wird durch § 2 Abs. 1 StGB die Anwendung des zur Tatzeit geltenden Rechts als Grundsatz angeordnet; dieser Norm wird damit die Funktion einer speziellen strafrechtlichen Rechtsgeltungsregel zugesprochen. Die Gegenposition hält an den allgemeinen staatsrechtlichen Rechtsgeltungsregeln auch für das Strafrecht fest und sieht in § 2 StGB eine spezielle Rechtsanwendungsregel für Strafgesetze.
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Die h.M. in Rechtsprechung und Literatur verortet den Kern der gesetzlichen Regelung in § 2 Abs. 1 StGB und versteht die Anwendung des zur Zeit der Tat geltenden Gesetzes als Grundprinzip des intertemporalen Rechts.[43] Begründet wird dies damit, dass dem Rückwirkungsverbot im Strafrecht eine Sonderrolle zukomme, weil es den Richter zwinge, sich am Tatzeitrecht zu orientieren.[44] Das Strafgesetz diene dem Bürger als Grundlage, sein Verhalten eigenverantwortlich so einzurichten, dass er eine Strafbarkeit vermeidet.[45] Der Normbefehl könne einen Täter nur motivieren, wenn er bereits zur Tatzeit Geltung gestanden habe.[46] § 2 Abs. 1 StGB wird damit die Funktion einer Rechtsgeltungsregel für das Strafrecht zugesprochen, die ergänzend neben den lex posterior-Grundsatz tritt.
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Die Gegenposition stellt maßgeblich auf das zur Entscheidungszeit geltende Gesetz ab[47] und begründet dies damit, dass bereits das Rückwirkungsverbot eine Ausnahme von dem allgemeinen Prinzip bildet, dass der Richter das jeweils neueste Recht anzuwenden hat, um legitimerweise in Grundrechte des Straftäters eingreifen zu können. Außerdem liege der Vorrang auf dem zur Entscheidungszeit geltenden Gesetz jedenfalls in dem Sinne, dass die Geltung der Norm für Altfälle noch im Entscheidungszeitpunkt bestehen muss.[48] Aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Gesetzlichkeitsprinzips (Art. 103 Abs. 2 GG) folgt jedoch, dass bereits im Zeitpunkt der Tat das sanktionsfähige Verhalten und der Sanktionsrahmen gesetzlich festgelegt sein müssen. Insofern hat das Tatzeitrecht nicht nur eine limitierende, sondern eine komplementäre, die Strafbarkeit begründende Funktion.[49] Deshalb erfordern die Absätze 1, 3 und 4 des § 2 StGB eine zusammenfassende Würdigung.
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Für letztere Auffassung spricht, dass das lex posterior-Prinzip als staatsrechtlicher Grundsatz nicht durch § 2 Abs. 1 StGB durchbrochen und modifiziert werden kann. Die allgemeinen Regeln über das Inkrafttreten und die Derogation von Gesetzen gelten für alle Gesetze, auch für Strafgesetze. Sie beruhen auf staatsrechtlichen Grundlagen und sind daher der Entscheidungsbefugnis des Gesetzgebers vorgegeben. Die Geltungsregeln werden deshalb durch § 2 Abs. 1 StGB nicht ersetzt oder modifiziert, sondern bleiben unberührt. § 2 Abs. 1 StGB regelt nur den zeitlichen Anwendungsbereich.[50] Im Einzelnen:
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In einer Demokratie ist der Wille des Volkssouveräns unverzichtbare Grundlage für die Geltung eines Gesetzes. Dieser Wille entfällt durch ein späteres Gesetz. Wenn durch ein allgemeines Gesetz, wie es § 2 Abs. 1 StGB ist, dieser Grundsatz generell außer Kraft gesetzt werden soll, scheitert dies bereits daran, dass staatsrechtliche Grundlagen wie der Grundsatz „lex posterior derogat legi priori“ einer generellen, nicht nur einen konkreten Einzelfall betreffenden Entscheidung des Gesetzgebers entzogen sind. Der Gesetzgeber kann lediglich im Einzelfall anordnen, dass ein bestimmtes Gesetz weitergelten soll und so in Bezug auf Einzelregelungen die Fortgeltung der bisherigen Regelung anordnen. Ein allgemeines Gesetz, das den Grundsatz „lex posterior derogat legi priori“ für ein ganzes Rechtsgebiet wie das Strafrecht außer Kraft setzen soll, ist mit einer demokratischen Rechtsordnung nicht vereinbar. Wenn man bei blankettausfüllenden Gesetzen § 2 Abs. 1 StGB als Rechtsgeltungsregel verstünde, wären auch die durch Strafnormen in Bezug genommenen Regelungen dem „lex posterior derogat legi priori“-Grundsatz entzogen und würden fortgelten. Entweder kommt man dann zu einer gespaltenen Rechtsgeltung ein und desselben Gesetzes im strafrechtlichen und im außerstrafrechtlichen Bereich, was mit den staatsrechtlichen Grundlagen der Gesetzeslehre nicht vereinbar ist, oder es wird zu einer Frage des Anwendungsbereichs einer Regelung, nämlich ob sie nur in den außerstrafrechtlichen Rechtsgebieten noch zum Tragen kommt. Vergegenwärtigt man sich schließlich, dass das Strafrecht nicht nur durch Blankettverweisungen außerstrafrechtliche Normen in Bezug nimmt, sondern darüber hinaus auch andere Regelungen insbesondere bei rechtsnormativen Tatbestandsmerkmalen die Strafrechtslage bestimmen können, so wird deutlich, dass § 2 Abs. 1 StGB bei der Interpretation als Rechtsgeltungsregelung letztlich zum Grundsatz erhoben und der „lex posterior“-Satz zur Ausnahme würde. Selbst wenn ein Strafgesetz ausdrücklich aufgehoben wird, müsste es aufgrund von § 2 Abs. 1 StGB, sofern man hierin eine strafrechtliche Geltungsregel sieht, fortgelten. Der Gesetzgeber kann sich jedoch durch § 2 Abs. 1 StGB nicht der Kompetenz entledigen, ein Strafgesetz vollständig außer Kraft zu setzen.
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Schließlich spricht gegen die Einordnung von § 2 Abs. 1 StGB als Rechtsgeltungsregel, dass durch diese Vorschrift das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG bestätigt wird. Bei Art. 103 Abs. 2 GG handelt es sich aber nach ganz h.M. um ein Grundrecht des Bürgers, das der staatlichen Machtausübung Grenzen setzt, und nicht um eine Rechtsgeltungsregel.[51] Außerdem wird in § 2 Abs. 1 StGB klargestellt, dass sich die Strafe und ihre Nebenfolgen nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt, bestimmt. Die Aussage, dass ein Gesetz, das zwischen Tat und Verurteilung aufgehoben oder geändert worden ist, weiterhin gilt, enthält § 2 Abs. 1 StGB nicht. Damit handelt es sich nicht um eine Rechtsgeltungsregel. Der Einwand, ein außer Kraft gesetztes Strafgesetz könne als „Nichtrecht“ nicht mehr angewendet werden, verkennt, dass aufgehobene Rechtsnormen sich durchaus als limitierende Faktoren für jüngere Gesetze erweisen können, um Grundrechtseingriffe zu vermeiden. In solchen Fällen wird die Neuregelung durch das vorausgehende Gesetz inhaltlich begrenzt. Hierfür bedarf es keiner Fortgeltung früherer Gesetze; es reicht eine Einschränkung des zeitlichen Anwendungsbereichs des neuen Gesetzes aus, und die Rechtsfolgen können weiterhin nach dem inzwischen aufgehobenen Gesetz bestimmt werden. Die Anwendung eines nicht (mehr) gültigen Gesetzes ist im Übrigen der Rechtsordnung keineswegs fremd, wie die Rechtslage bezüglich nachkonstitutioneller verfassungswidriger Gesetze zeigt, die bis zur Verwerfung durch das Bundesverfassungsgericht von den Gerichten anzuwenden sind und Rechtswirkungen hervorbringen.[52]
c) Regelung des zeitlichen Anwendungsbereichs durch § 2 StGB
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Vom „zeitlichen Geltungsbereich“ einer Norm ist ihr „zeitlicher Anwendungsbereich“ zu unterscheiden. Beim zeitlichen Geltungsbereich geht es um die Frage, ab wann und wie lange eine Norm gilt. Beim zeitlichen Anwendungsbereich geht es um die Frage, wofür das Gesetz gilt, also in welchem Zeitraum sich die von dem Tatbestand erfassten Sachverhalte und Vorgänge ereignet haben müssen, damit die Regelung anwendbar ist. Wenn ein Gesetz Rechtsfolgen an vergangene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen knüpft, die sich noch während der Geltung des früheren Gesetzes ereignet haben, liegt ein Fall der Rückwirkung vor.
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Wenn der Anwendungsbeginn eines Gesetzes auf einen Tag nach In-Kraft-Treten der neuen Regelung verlegt wird, ist das Gesetz mit seinem In-Kraft-Treten zwar gültig, aber noch nicht anwendbar. Die Anwendbarkeit kann auch für einen späteren Zeitpunkt als das Inkrafttreten angeordnet werden. Die Anordnung der zeitlichen Anwendung betrifft somit nicht die Gültigkeit der Norm, sondern deren materiellen Inhalt.[53] Die Normen betreffend die Geltung sind also den Regelungen des § 2 StGB, die den materiellen Inhalt bestimmen, vorgelagert.
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Für die hier getroffene Unterscheidung zwischen „Geltung“ und „Anwendung“ des Gesetzes spricht schließlich die Konsistenz und größere Klarheit.[54] Zwar kann auch ein „anzuwenden sein“ als „gelten für“ verstanden werden. Dieser weite Geltungsbegriff, der Formulierungen wie „anzuwenden“, „sich bestimmen nach“, „zu entscheiden sein nach“ einbezieht und der sich auch in der Überschrift des § 2 StGB findet, sollte zugunsten des die Rechtslage klarer umschreibenden engen Geltungsbegriffs aufgegeben und von der Anwendung einer Norm unterschieden werden.
d) § 2 StGB als Rechtsgeltungsregel für das frühere Gesetz
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Die Anwendung des Rechts ist im Strafrecht den Strafverfolgungsorganen vorbehalten. Zwar richten sich Strafnormen mit den in ihnen enthaltenen Verboten an den Einzelnen, und für diesen muss die Strafbarkeit zum Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung vorhersehbar sein. Die Aburteilung, d.h. die Verhängung der Strafe, kann jedoch nur von den staatlichen Organen vorgenommen werden, und diese können sich nur auf das jeweils in Kraft befindliche Gesetz stützen, das einen Eingriff in die Rechte des Einzelnen vorsieht (Vorbehalt des Gesetzes).[55] In Kraft ist aber zum Zeitpunkt der Verurteilung nur noch die später erlassene Vorschrift; die frühere Regelung hat entsprechend dem Grundsatz „lex posterior derogat legi priori“[56] ihre Geltung verloren.[57] Dennoch bleibt die frühere Regelung auf die zur Zeit ihrer Geltung begangenen Taten anwendbar. Diesbezüglich kann von einer „Nachwirkung des alten Rechts“ gesprochen werden,[58] die insbesondere im Rahmen einer rückwirkenden Strafschärfung als Grenze der Rechtsanwendung Bedeutung erlangt. Hingegen kann eine Norm wie § 2 StGB als einfachrechtliche Regelung nicht zur (Fort-)Geltung im engeren Sinne eines Gesetzes für den Bereich des Strafrechts führen.[59]
e) Grundsätzliche Geltung des Urteilszeitrechts
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Wenn man somit von der grundsätzlichen Geltung des Urteilszeitrechts ausgeht[60], stellt das zur Entscheidungszeit geltende Gesetz das grundsätzlich anzuwendende Gesetz dar.[61] Hierin kommt zum Ausdruck, dass das Rückwirkungsverbot jedenfalls formell eine Ausnahme von dem allgemeinen Prinzip bildet, dass der Richter das jeweils neueste Recht anzuwenden hat. Unter Zugrundelegung dieser Sichtweise bezieht sich § 2 Abs. 1 StGB nur auf die an den Richter gerichtete Sanktionsnorm und nicht auf die an den Bürger gerichtete Verhaltensnorm.[62] Die Anwendung der allein in Geltung befindlichen lex posterior ist dann kein Fall der Rückwirkung zugunsten des Täters, sondern Folge des Grundsatzes, dass die lex posterior die lex prior außer Kraft gesetzt hat. Aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben folgt, dass bereits im Zeitpunkt der Tat das sanktionsfähige Verhalten und der Sanktionsrahmen gesetzlich festgelegt sein müssen. Dem Tatzeitrecht ist dabei eine limitierende Funktion zuzusprechen.[63] Der Gesetzgeber musste zum Zeitpunkt der Tatbegehung die Freiheit des Bürgers durch ein allgemeines Gesetz begrenzt haben. Hierin kann eine komplementäre Funktion des Tatzeitrechts gesehen werden.[64] Sie bedeutet jedoch keine Durchbrechung des lex posterior-Prinzips. Wenn es sich bei der lex posterior um ein Zeitgesetz handelt, das „nur für eine bestimmte Zeit gelten“ sollte, ordnet § 2 Abs. 4 StGB an, dass dieses Gesetz anwendbar bleibt, um zu verhindern, dass die Bürger im Hinblick auf das baldige Außerkrafttreten der Norm Straftaten begehen.
f) Praktische Bedeutung der unterschiedlichen Konzeptionen des § 2 StGB
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In der praktischen Handhabung wirken sich die unterschiedlichen Konzeptionen des § 2 StGB in der Regel nicht aus; sie können aber durchaus im Einzelfall bedeutsam werden, insbesondere wenn sich Fragen des Vorrangs des Unionsrechts stellen (Rn. 102).[65]
3. Regelungsgehalt des § 2 Abs. 1 StGB: limitierende Funktion der aufgehobenen Rechtsnormen
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§ 2 Abs. 1 StGB sieht vor, dass sich die Strafe und ihre Nebenfolgen nach dem Gesetz bestimmen, das zur Zeit der Tat gilt. Damit wird das in Art. 103 Abs. 2 GG garantierte Rückwirkungsverbot („nulla poena sine lege praevia“) aufgegriffen und die Regelung des § 1 StGB ergänzt. Gesetzesänderungen nach Begehung der Tat können sich nicht mehr zu Lasten des Täters auswirken. Dies gilt unabhängig davon, ob man in § 2 Abs. 1 StGB eine Rechtsgeltungsregel oder aber eine Rechtsanwendungsregel sieht, die die aufgehobenen Rechtsnormen als limitierende Faktoren zur Anwendung bringt.
a) Anwendungsbereich des § 2 Abs. 1 StGB
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Der Gesetzesbegriff wird entsprechend der Ratio des Rückwirkungsverbots weit verstanden und erfasst das gesamte für das Ob und das Wie der Bestrafung maßgebliche Recht.[66]
b) Materielles Strafrecht
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Mit dem „Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt“, ist das gesamte sachliche Strafrecht gemeint, das die Zulässigkeit und die Art und Weise der Bestrafung bestimmt.[67] Dazu gehören unstreitig die Straftatbestände des Besonderen Teils einschließlich der Strafrahmen, auch wenn in § 2 Abs. 1 StGB nur von der „Strafe und ihre(n) Nebenfolgen“ und nicht von der Strafbarkeit die Rede ist. Auch Strafzumessungsregeln unterfallen § 2 StGB.[68]
42
Sodann sind die Vorschriften des Allgemeinen Teils zu nennen,[69] von denen die Strafbarkeit abhängt, so z.B. die Vorschriften über den Versuch, §§ 22 bis 24 StGB,[70] über Täterschaft und Teilnahme, §§ 25 bis 31 StGB,[71] über Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe, die im Strafgesetzbuch (§§ 32 bis 35 StGB)[72] oder im Bürgerlichen Gesetzbuch[73] geregelt sein können oder die als ungeschriebene Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe zu berücksichtigen sind. Weiterhin Strafaufhebungs- und Strafausschließungsgründe.[74] Alle diese Regelungen bestimmen das Tatzeitrecht mit.[75]
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Erfasst sind weiterhin Verwertungsverbote nach dem Bundeszentralregistergesetz,[76] das Strafanwendungsrecht,[77] insbesondere die §§ 3 bis 7 StGB, da auch sie jedenfalls das Ausmaß der Geltung des sachlichen Rechts bestimmen,[78] sowie – wegen ihres Doppelcharakters als Strafaufhebungsgrund und Verfahrenshindernis – die Amnestie.[79]
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Außerdem gilt § 2 Abs. 1 StGB für die Regelungen des Allgemeines Teils, welche die Rechtsfolgen der Tat betreffen, so z.B. die Regelungen über die Anrechnung von Untersuchungshaft nach § 51 StGB[80] und die Bildung einer Gesamtstrafe aus Freiheitsstrafe und Geldstrafe.[81] Als „Strafe und ihre Nebenfolgen“ gelten alle „staatlichen Maßnahmen, die eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein schuldhaftes Verhalten enthalten“[82], so z.B. ehrengerichtliche Maßnahmen[83] oder jugendstrafrechtliche Sanktionen[84] (§§ 5 ff. JGG und 16a JGG[85]) sowie die Urteilsbekanntmachung und die Mehrerlösabführung (§§ 8 ff. WiStG), weiterhin die Kronzeugenregelung nach § 46b StGB.[86]
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Schließlich gehören zum gesamten sachlichen Rechtszustand die Ausfüllungsnormen von Strafblanketten[87] sowie sämtliche sonstigen außerstrafrechtlichen Bezugsnormen. Wenn eine außerstrafrechtliche Norm geändert wird und dies zu einer Verschärfung der Rechtslage führt, die zur Zeit der Tat nicht gegolten hat, ist stets auf das zur Zeit der Tat geltende mildere Recht abzustellen. Die Verschärfung darf sich nicht zu Lasten des Täters auswirken.
c) Strafverfahrensrecht
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Strafprozessuale Normen, welche die Verfolgbarkeit regeln, unterliegen nach h.M. in Rechtsprechung und Literatur nicht dem Rückwirkungsverbot des § 1 StGB, da es schon nach dem Wortlaut auf die gesetzliche Bestimmtheit der Strafbarkeit, nicht aber der Verfolgbarkeit ankomme.[88] Daher sollen prozessrechtliche Vorschriften auch nicht zu den Gesetzen im Sinne des § 2 StGB gehören.[89] Dies soll insbesondere für rein formelle Ordnungsvorschriften des Prozessrechts gelten, die sich nicht gestaltend auf die Rechtsposition des Beschuldigten auswirken,[90] sowie für die Prozessvoraussetzungen.[91] Verfahrensvorschriften ergreifen hiernach grundsätzlich nach ihrem Inkrafttreten – vorbehaltlich besonderer gesetzlicher Übergangsregelungen (vgl. Art. 308, 309 EGStGB) – ipso jure auch solche Verfahren, die bereits eingeleitet sind.[92] Der BGH hat bezüglich des Verfahrensrechts den Grundsatz aufgestellt:[93] „Neues Verfahrensrecht gilt, soweit nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist, auch für bereits anhängige Verfahren. Es erfasst sie in der Lage, in der sie sich beim Inkrafttreten der neuen Vorschriften befinden; anhängige Verfahren sind nach diesen weiterzuführen. Dieser Grundsatz gilt nicht nur für Rechtsvorschriften, die das Verfahren des Gerichts regeln, sondern auch für Bestimmungen, welche die Stellung von Verfahrensbeteiligten im Prozess, ihre Befugnisse und Pflichten betreffen, sowie für Vorschriften über die Vornahme und Wirkungen von Prozesshandlungen hängt nicht vom Ort der gesetzlichen Regelung ab, sondern allein von deren Charakter.“
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Die Rechtsprechung geht deshalb davon aus, dass eine Verkürzung der Verjährungsfrist nach Begehung der Tat – vorbehaltlich besonderer Regelungen (vgl. Art. 309 EGStGB) – nicht dem Rückwirkungsverbot unterliegt und deshalb zu Lasten des Täters zu berücksichtigen ist. Sie soll in jedem Fall zurückwirken, sei es nach prozessrechtlichen oder sachlich rechtlichen Grundsätzen.[94] Abweichend vom früheren Recht[95] kann die mit einer Verkürzung der Verjährungsfrist verbundene Milderung des sachlichen Rechts eine nach altem Recht wirksame Unterbrechung der Verjährung allerdings nicht mehr gegenstandslos machen (§ 78c Abs. 5 StGB). Gleiches soll für eine rückwirkende Änderung des Strafantragserfordernisses gelten.[96]
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Demgegenüber nimmt ein Teil der Literatur an, grundsätzlich unterliege das gesamte Verfahrensrecht und damit auch § 2 Abs. 1 StGB dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG.[97] Das Zugriffsrecht des Staates auf den Straftäter dürfe nach Begehung der Tat nicht ausgedehnt werden.[98] Hiervon sollen nur Vorschriften ausgenommen sein, die ausschließlich den formalen Verfahrensablauf und die Einrichtung der Gerichte betreffen.[99]
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Eine zunehmend an Boden gewinnende Meinung in der Literatur[100] will zumindest Verfahrensvoraussetzungen dem Rückwirkungsverbot unterwerfen, soweit ihnen Strafwürdigkeits- oder Strafbedürftigkeitserwägungen zugrunde liegen,[101] bzw. wenn der Gesetzgeber eine Neubewertung der Tat durch die Gesetzesänderung vorgenommen hat.[102] Denn die einfach-rechtliche Unterscheidung zwischen Strafrecht und Strafprozessrecht, zwischen Strafbarkeit und Verfolgbarkeit ist für die Bestimmung des Anwendungsbereichs des Art. 103 Abs. 2 GG nicht verbindlich. Auszugehen ist vielmehr von der staatstheoretisch-verfassungsrechtlichen Wurzel des „nulla-poena“-Prinzips und dessen Ratio, die im Verbot der nachträglichen Umbewertung einer Tat zu Lasten des Täters zu sehen ist. Geht man bei der Verjährung davon aus, dass sie auch materiell-rechtlichen Charakter hat, weil sie nach der Schwere des Delikts, dem vom Gesetzgeber angedrohten Strafrahmen abhängig ist, unterliegt sie Art. 103 Abs. 2 GG und damit auch § 2 Abs. 1 StGB.[103]