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50
Gleiches muss für die rückwirkende Beseitigung des Strafantragserfordernisses gelten, weil hierdurch ein staatliches Bestrafungsrecht erst nachträglich geschaffen wird.[104] Dies muss jedenfalls gelten, wenn die Strafantragsfrist abgelaufen ist. Weiterhin muss Art. 103 Abs. 2 GG Anwendung finden, wenn durch das neue Gesetz das Strafbedürfnis höher als zuvor eingestuft wird, so wenn die Geringfügigkeit der Verfehlung nicht mehr anerkannt und das Strafantragserfordernis aus diesem Grund aufgehoben wird oder wenn besondere persönliche Beziehungen zum Opfer Grundlage des Strafantragserfordernisses sind. Die Aufhebung des Strafantragserfordernisses bedeutet in diesen Fällen eine Veränderung in der Bewertung der Delikte. Hingegen bleibt die Tatbewertung unberührt, wenn allein Geheimhaltungsinteressen der Opfer für nicht mehr schützenswert gehalten werden oder das Strafantragsrecht, das bestimmten Fachbehörden wegen ihres besseren Überblicks über die Notwendigkeit der Strafverfolgung zugewiesen ist, aufgehoben wird. In diesen Fällen wirkt sich eine nachträgliche Änderung des Strafantragserfordernisses nur mittelbar auf den Straftäter aus: Die Bewertung der Tat selbst bleibt dadurch unberührt.
51
Bei den Vorschriften über die Einstellung des Verfahrens aus Opportunitätsgründen ist zwischen der Einstellung nach § 153a und nach § 153 StPO zu unterscheiden: Die Einstellung des Verfahrens bedeutet einen Verzicht auf Strafe, wird aber im Rahmen eines kriminalpolitischen Gesamtkonzepts abgestufter strafrechtlicher Interventionen zur strafrechtlichen Sanktion, wenn bei § 153a StPO Auflagen verhängt werden, die der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen. Hingegen handelt es sich bei den Weisungen um Maßregeln der Besserung und Sicherung, auf die der „nulla-poena“-Satz nicht anwendbar ist. Allerdings beinhaltet § 153 StPO keine gesetzgeberische Entscheidung, dass Bagatellverstöße nicht strafbar sind. Diese Regelung trägt vielmehr dem Problem der begrenzten Ressourcen bei der Strafverfolgung Rechnung. Da dadurch keine Entscheidung über die fehlende Strafbedürftigkeit von Bagatell-Delikten getroffen wird, kann sich eine nachträgliche Einschränkung der Einstellungsmöglichkeiten nicht als verschärfende Rückgängigmachung einer Tatbewertung auswirken.[105]
52
Soweit außerstrafrechtliche Beweisvermutungen und Beweislastregeln durch Strafgesetze ohne Verstoß gegen die Unschuldsvermutung in Bezug genommen werden können,[106] unterliegen auch diese Art. 103 Abs. 2 GG. Dies gilt gleichermaßen für eine Änderung der Promille-Grenze bei § 316 StGB.[107] Hingegen dienen Beweisverbote dem Schutz außerprozessualer Interessen und Rechte des Beschuldigten, die von Art. 103 Abs. 2 GG nicht erfasst werden.[108]
d) Änderungen der Rechtsprechung
53
Die Anwendbarkeit des Rückwirkungsverbots auf die strafrechtliche Rechtsprechung ist umstritten.[109] Rechtsprechung und h.M. in der Literatur wenden auf Änderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung § 2 StGB nicht an, da Art. 103 Abs. 2 GG nur „gesetzliche“ Bestimmtheit fordere.[110] Diese Problematik ist insbesondere anhand der Änderung der Rechtsprechung zum Begriff der absoluten Fahruntüchtigkeit in § 316 StGB diskutiert worden: Eine Kammer des Bundesverfassungsgerichts hat die Herabsetzung der Promillegrenze von 1,3‰ auf 1,1‰ durch den BGH mit der Begründung gebilligt, die Gerichte seien nicht gehindert, bestimmte Sachverhalte aufgrund neuer tatsächlicher Erkenntnisse als tatbestandsmäßig zu qualifizieren.[111] Damit liegt der Umkehrschluss nahe, Änderungen des strafrechtlichen Unwerturteils durch die Rechtsprechung seien dem Rückwirkungsverbot zu unterwerfen: Wenn ein Gesetz erst durch eine konkretisierende Rechtsprechung hinreichend bestimmt wird, müssten Änderungen der Rechtsprechung zulasten des Betroffenen konsequenterweise auch dem Rückwirkungsverbot unterfallen.[112] Allerdings darf die Anerkennung der gesetzesergänzenden Funktion der Rechtsprechung nicht zur Gleichsetzung von Rechtsprechung und Gesetzgeber führen, denn gewisse Auslegungsspielräume sind der Rechtsprechung als fallorientierter Entscheidungsinstanz eigen.[113] Gleichwohl dürfte das Bundesverfassungsgericht[114] einen Wandel eingeläutet haben, weil es bei der Präzisierung unscharfer Tatbestandsmerkmale durch die Rechtsprechung dem Vertrauensschutz bei Rechtsprechungsänderungen gesteigerte Bedeutung beimisst. Entsprechend sollte das Rückwirkungsverbot auf (unangekündigte) Änderungen der Bewertungsgrundlage einer gefestigten Rechtsprechung angewendet werden, die das Risiko einer Bestrafung für einen informierten Durchschnittsadressaten ausgeschlossen erscheinen lassen.[115]
e) Geltung des Gesetzes „zur Zeit der Tat“
54
Die Geltung eines Gesetzes „zur Zeit der Tat“ (§ 2 Abs. 1 StGB) ist gleichbedeutend mit der Geltung „während der Begehung der Tat“ (vgl. § 2 Abs. 2 StGB). Eine Tat ist zu der Zeit begangen, zu welcher der Täter oder Teilnehmer gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen (§ 8 S. 1 StGB). Zu welchem Zeitpunkt der tatbestandsmäßige Erfolg eintritt, ist – anders als für den Beginn der Verjährung (§ 78a S. 2 StGB) – nicht maßgebend (§ 8 S. 2 StGB).[116] Denn Strafrechtsnormen als „Bestimmungsnormen“ müssen ihre verhaltensregulierende Kraft spätestens bis zum Zeitpunkt des strafbaren Handelns entfalten.[117]
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Die Tatbegehung beginnt mit dem mit Strafe bedrohten Versuch; ein Handeln oder Unterlassen im straflosen Vorbereitungsstadium genügt nicht. Ist der Versuch nicht strafbar, so ist auf den Beginn des tatbestandsmäßigen Verhaltens abzustellen. Bei mehreren Beteiligten kommt es auf die Handlung jedes Einzelnen an, so dass für einen Gehilfen, der seinen Beitrag im Vorbereitungsstadium leistet, das zu diesem Zeitpunkt geltende Gesetz maßgebend ist.[118]
f) Änderungen der Strafbarkeit während der Begehung der Tat
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Gesetzesänderungen, welche die Strafbarkeit betreffen und zu einer Verschärfung führen, unterfallen § 2 Abs. 1 StGB[119] und nicht § 2 Abs. 2 StGB, der nach h.M. nur Änderungen der Strafart und Strafhöhe (Rn. 44) betrifft. Wenn ein bestimmtes Verhalten erst während seines Vollzuges durch Gesetzesänderung strafbar wird, darf der Täter nur bestraft werden, wenn sein Verhalten nach der Gesetzesänderung noch sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt.[120] Tätigkeiten, die zu einem Zeitpunkt vorgenommen worden sind, als sie noch nicht strafbar waren, müssen auch nach der Gesetzesänderung straffrei bleiben und dürfen nicht über Rechtsfiguren wie die natürliche oder rechtliche Handlungseinheit in die Strafbarkeit einbezogen werden,[121] so etwa bei der Vorteilsannahme bei Drittbegünstigung nach § 331 StGB, wenn die Grundvereinbarung zum Zeitpunkt ihres Abschlusses noch straflos und erst bei Annahme der Vorteile strafbar war.[122] Hierin läge ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Eine Änderung strafbegründender Merkmale kann nur die Teilakte erfassen, bei deren Begehung das neue Gesetz bereits in Kraft war.[123] Die Berücksichtigung von Änderungen der Strafhöhe während der Begehung der Tat bestimmen sich nach § 2 Abs. 2 StGB.
4. Regelungsgehalt des § 2 Abs. 2 StGB: Änderungen der Strafart und Strafdrohung zwischen Beginn und Beendigung der Tat
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§ 2 Abs. 2 StGB regelt die Frage, welche Tatzeit zugrunde zu legen ist, wenn die Strafart oder Strafdrohung während der Begehung der Tat geändert wird. Diese Regelung, die § 2 Abs. 1 StGB ergänzt, hat Bedeutung für zeitlich gestreckte Tatbestandsverwirklichungen, insbesondere für Dauerdelikte, bei denen Einzelakte oder die Begründung eines rechtswidrigen Zustandes in den zeitlichen Geltungsbereich verschiedener Gesetze fallen können, sowie bei Zustandsdelikten. Hier ist es notwendig, der Einheitlichkeit der Dauer- oder Zustandsstraftat durch eine einheitliche Beurteilung auch bei der Rechtsanwendung Rechnung zu tragen.[124] In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Reichsgerichts[125] stellt § 2 Abs. 2 StGB auf das bei Beendigung der Handlung geltende Gesetz ab.[126]
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Die Strafdrohung muss sich während der Begehung der Handlung geändert haben, nämlich gemildert oder verschärft worden sein.[127] Die Anwendung auch strengeren Rechts soll sich daraus legitimieren, dass die Handlung zeitlich in den Geltungsbereich der verschärften Sanktion hineinreicht und der Täter deshalb mit der strengeren Ahndung rechnen musste.[128] Jedoch dürfen die Teilakte, die vor der Sanktionsverschärfung lagen, bei der Strafzumessung nur mit dem Gewicht berücksichtigt werden, das ihnen schon vor der verschärfenden Gesetzesänderung zukam.[129] Dies gilt auch dann, wenn ein verbotenes Verhalten vom Gesetz bis zu einem bestimmten Zeitpunkt als Ordnungswidrigkeit eingestuft war und erst danach als Straftat qualifiziert wurde.[130] Da es sich hierbei um einen Vorgang der Strafbegründung handelt, dürfen die der Rechtsänderung vorausgegangenen Teilakte auch bei der Strafzumessung nicht berücksichtigt werden.[131] Wird ein Straftatbestand in eine Ordnungswidrigkeit umgewandelt, so ist gemäß § 2 Abs. 2 StGB i.V.m. § 4 OWiG die Geldbuße zu verhängen.[132]
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Grundsätzlich ist nach § 2 Abs. 2 StGB die bei Beendigung der Tat geltende Strafdrohung maßgeblich.[133] Für den Begriff der Beendigung der Tat kommt es auf den Zeitpunkt des letzten Teilaktes der Straftat an.[134] Bei Zustandsdelikten, wie den Eigentums- und Vermögensdelikten, den Körperverletzungsdelikten und der Personenstandsfälschung, führt der Täter einen rechtswidrigen Zustand herbei, mit dem die Tat abgeschlossen ist; die Aufrechterhaltung des durch die Tat geschaffenen Zustandes hat keine selbstständige strafrechtliche Bedeutung.[135] Daher sind Gesetzesänderungen, die nach Eintritt des rechtswidrigen Zustands eintreten, nicht zu berücksichtigen. Erst wenn durch das Untätigbleiben die Gefahr oder der Schaden vergrößert wird, kommt eine Fortsetzung durch unechtes Unterlassen in Betracht.[136] Demgegenüber enden Dauerdelikte, wie die Freiheitsberaubung, die fortdauernde Nötigung oder die Trunkenheitsfahrt erst mit der Aufhebung des rechtswidrigen Zustandes. Die Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustandes bedeutet hier eine Intensivierung des Eingriffs.[137] Daher gehören sowohl Handlungen, die den Zustand schaffen, aufrechterhalten und schließlich abbrechen, als auch Unterlassungen, die ihn nicht beenden, zum tatbestandsmäßigen Verhalten,[138] soweit der Täter noch Einfluss auf das Geschehen hat.[139] Solange der vom Täter geschaffene rechtswidrige Zustand in die Geltungszeit des neuen Gesetzes hineinreicht, ist dieses Gesetz bei Dauerdelikten anzuwenden. Dies gilt für Verschärfungen sowohl der Strafbarkeit als auch der Strafhöhe sowie dann, wenn der weitaus überwiegende Teil der Dauerstraftat unter der Geltung der milderen Strafdrohung verübt worden ist. Der Tatrichter hat diese Besonderheit bei der Strafzumessung zu berücksichtigen; insoweit gilt bezüglich des vor der Gesetzesänderung liegenden Verhaltens auch das Rückwirkungsverbot.[140]
5. Regelungsgehalt des § 2 Abs. 3 StGB: Meistbegünstigungsprinzip
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Gemäß § 2 Abs. 3 StGB ist für den Fall, dass zwischen dem Zeitpunkt der Tatbegehung und dem Zeitpunkt der Entscheidung eine Änderung des Gesetzes vorgenommen worden ist, das mildeste Gesetz anzuwenden.[141]
a) Anwendung des mildesten Gesetzes bei Gesetzesänderungen zwischen Beendigung der Tat und Entscheidung
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§ 2 Abs. 3 StGB begründet ein Rückwirkungsgebot für das mildeste Gesetz. Diese „Meistbegünstigungsklausel“ entspricht der Regelung in Art. 15 Abs. 1 S. 3 IPbpR und der in Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh, wonach es dem Täter zugutekommt, wenn das Gesetz nach Begehung der Straftat eine leichtere Strafe vorsieht.[142] Das Gebot der Rückwirkung des mildesten Gesetzes ist bereits nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 3 StGB obligatorisch. Die Einschränkung des Reichsgerichts, die Gesetzesänderung müsse auf einer „geläuterten Rechtsauffassung“ beruhen, hat der BGH zu Recht aufgegeben[143] und damit dem Umstand Rechnung getragen, dass das Rückwirkungsgebot aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt und dem Prinzip des Vertrauensschutzes, dem Willkürverbot sowie dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung trägt.[144] Mit diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben, insbesondere mit dem Gebot der materiellen Gerechtigkeit, wäre es unvereinbar, eine Sanktion zu verhängen, die in ihrer Existenz oder Strenge nicht mehr vom Willen des parlamentarischen Gesetzgebers gedeckt ist.[145]
62
Auch bei milderen Zwischengesetzen sind diese Gerechtigkeitsvorstellungen von Bedeutung: Dem Betroffenen darf die ihm günstigere Gestaltung der Rechtslage durch ein milderes Zwischengesetz nicht nachträglich entzogen werden. Auch wenn überwiegend dem Milderungsgebot kein Verfassungsrang beigemessen wird, so dass der Gesetzgeber im Einzelfall abweichende Regelungen treffen könne,[146] kann dies nicht bedeuten, dass eine solche Entscheidung im Belieben des Gesetzgebers stünde.[147] Denn die Berücksichtigung des mildesten Zwischengesetzes stellt ein Problem der Willkürfreiheit und des allgemeinen Vertrauensschutzes, beide Bestandteile des Rechtsstaatsprinzips,[148] dar. Dies bedeutet, dass im Falle einer nur kurzfristigen Ahndungslücke infolge eines Fehlers des Gesetzgebers das mildeste Gesetz ausnahmsweise nicht zur Anwendung kommen muss.[149] Erforderlich ist allerdings, dass der Gesetzgeber den Fehler nachträglich behebt. Schließlich wird die Nichtberücksichtigung einer zwischenzeitlichen Gesetzesaufhebung unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes problematisch, wenn die Straflosigkeit über eine längere Zeitspanne besteht[150] und nicht nur wenige Wochen andauert.[151] Außerdem ist das durch Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh garantierte Milderungsgebot zu beachten, das keine Einschränkungen kennt.[152]
b) Bestimmung des mildesten „Gesetzes“
63
Eine Milderung kann sich aus Änderungen des Besonderen wie auch des Allgemeinen Teils ergeben, unabhängig davon, ob sich die Regelung auf die Strafbarkeitsvoraussetzungen oder auf die Rechtsfolge bezieht. Die völlige Aufhebung der Strafbarkeit bedeutet stets eine „Milderung“.[153] Gleiches gilt, wenn ein Strafaufhebungs- oder Strafausschließungsgrund eingeführt oder die Strafdrohung eingeschränkt wird.[154] Auch die Herabsetzung der Verjährungsfrist muss zugunsten des Täters berücksichtigt werden[155], nicht hingegen die durch den Beitritt eines Landes zur Europäischen Union verursachte Änderung des persönlichen Anwendungsbereichs einer Norm.[156]
aa) Anforderungen an die Unrechtskontinuität
64
Wenn der Gesetzgeber die Tatbestandsvoraussetzungen modifiziert, so dass das Verhalten sowohl nach dem früheren Recht strafbar war als auch noch nach neuem Recht strafbar ist, muss zunächst geprüft werden, ob die Gesetzesänderung eine Fortsetzung der ursprünglichen Strafbarkeit darstellt oder aber wegen fehlender Unrechtskontinuität eine ersatzlose Streichung und Einführung eines neuen Straftatbestandes bedeutet. Dies bestimmt sich danach, ob der Unrechtskern des Delikts erhalten geblieben oder ob ein neuer Unrechtstyp geschaffen worden ist, weil der Gesetzgeber die bisherige Regelung für unzutreffend hielt und diese aus Gerechtigkeitsgründen bereits in der Vergangenheit nicht hätte angewendet werden sollen.[157] Im letzteren Fall wird einer Bestrafung des damaligen Normverstoßes rückwirkend die gesetzliche Grundlage entzogen. Wenn hingegen die bisherige Regelung nur verbessert und durch eine gerechtere ersetzt werden soll, entzieht die Gesetzesänderung für die damalige Straftat nicht die gesetzliche Grundlage des Strafens. Es soll lediglich für die Zukunft eine Verbesserung erreicht werden. Diese Abgrenzung nehmen Rechtsprechung und h.M. durch das Kriterium der Unrechtskontinuität vor.[158] Hierbei werden keine hohen Anforderungen an das Vorliegen eines gemeinsamen Unrechtskerns gestellt. Es soll ausreichen, wenn das Grunddelikt fortbesteht.[159] Auch Veränderungen des geschützten Rechtsguts sollen den Unrechtskern nicht tangieren.
65
Gegen das Kriterium der Kontinuität des Unrechtstyps spricht dessen Unbestimmtheit, die nicht mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar ist.[160] Will man dem Rückwirkungsverbot und dem Schuldgrundsatz Rechnung tragen, so müssen die Schutzrichtung und die Angriffsmodalität identisch bleiben, denn beide prägen das Unrecht.[161] Dies ist aber nur der Fall, wenn strikte Kontinuität in dem Sinne vorliegt, dass der neue Tatbestand vollständig in dem alten enthalten ist und nicht an nach dem bisherigen Recht irrelevante Sachverhaltsteile angeknüpft wird[162], so wenn eine der bisherige Bestrafungsvoraussetzung durch einen Gattungsbegriff generalisiert oder eine Strafbarkeitsausnahme durch einen Artbegriff spezialisiert[163] oder wenn die Strafbarkeit beschränkt wird und das vom Täter verwirklichte Unrecht nach der Einschränkung der Strafbarkeit noch von dem neuen Tatbestand erfasst wird.[164] Zudem muss dem Schuldgrundsatz Rechnung getragen und die Schuld des Täters auf den Tatbestand bezogen werden. Damit können aber neue Tatbestandsmerkmale nicht einbezogen werden, denn das Tatzeitrecht hat diese noch nicht umfasst. Würde man den Täter gleichwohl bestrafen, so würde die Strafbarkeit auf die auf den alten Straftatbestand bezogene Schuld gegründet. Diese reicht aber nach dem neuen Recht gerade nicht mehr aus, um die Strafbarkeit zu begründen.[165]
66
Unrechtsidentität besteht daher zum einen bei einer bloßen Erweiterung des Tatbestandes, sofern der neue Tatbestand bereits in dem alten enthalten war, so dass die Sanktionsvoraussetzungen generalisiert worden sind[166], und zum anderen bei einer Beschränkung der Sanktionsvoraussetzungen, sofern der spezifizierte neue Tatbestand in dem alten Tatbestand implizit miterfasst war.[167] Hingegen entfällt jenseits dieser Konstellationen die Identität beim Austausch sanktionsbegründender Merkmale.[168]
bb) Anwendbarkeit des Milderungsgebots auf Blankettvorschriften
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Der Gesetzgeber kann im Strafrecht Rechtsänderungen nicht nur dadurch herbeiführen, dass er die Strafnormen selbst oder die Strafandrohung ändert, sondern auch dadurch, dass er außerstrafrechtliche Normen ändert, auf die in Straftatbeständen verwiesen wird (Blankettstrafgesetze). Sowohl das Erfordernis des Gesetzesvorbehalts als auch der dem Milderungsgebot zugrundeliegende Gedanke, die verbessernde Rechtserkenntnis auf noch nicht abgeschlossene Sachverhalte anzuwenden, spricht für eine uneingeschränkte Anwendung des Milderungsgebots auf blankettausfüllende Normen: Wenn das ausfüllende Gesetz aufgehoben worden ist, fehlt es zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an einer Eingriffsermächtigung, die eine Bestrafung ermöglicht. Eine Verurteilung würde gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen. Außerdem ist aufgrund der Regelung des § 2 Abs. 3 StGB im Strafrecht grundsätzlich jede neue gesetzgeberische Entscheidung, die zur Aufhebung oder Einschränkung der Strafbarkeit oder Strafe führt, als Rechtsverbesserung zugunsten des Täters zu berücksichtigen, sofern sie sich mildernd auswirkt. Um jedoch „absurde Begünstigungen“ zu vermeiden, die mit einer Einbeziehung aller Ausfüllungsnormen in den Anwendungsbereich des Milderungsgebots verbunden sein sollen,[169] werden verschiedene Einschränkungskriterien gefordert.
68
Um blankettausfüllende Normen dem Anwendungsbereich des § 2 Abs. 3 StGB zu entziehen, sollen aufgrund der früheren Rechtslage bereits eingetretene „Regelungseffekte“ unberührt bleiben, wenn das Gesetz diesen Regelungseffekt und nicht die Norm selbst sichern wollte, so im Falle der Änderung einer Vorfahrtsregel, des Außerkraftsetzens von Geld, das gefälscht worden ist, und der Fremdheit bei den Eigentumsdelikten.[170] Dies soll auch für die Änderung steuerrechtlicher Normen gelten, sofern der bereits entstandene Steueranspruch durch die Gesetzesänderung nicht tangiert werde.[171]
69
Weiterhin werden Ungehorsamstatbestände, die nicht dem Schutz eines Rechtsguts dienen, vom Anwendungsbereich des Milderungsgebots ausgenommen, wenn sie vor ihrer Aufhebung kraft Gesetzes in Zeitgesetze umgewandelt werden.[172] Die Einordnung eines Strafgesetzes als Ungehorsamsdelikt soll also nur für die Zulässigkeit gesetzlicher Übergangsregelungen Bedeutung haben, nicht aber zum Ausschluss des Milderungsgebots führen.
70
Gegen die Abgrenzung nach der Sicherung eines Regelungseffekts oder das Vorliegen eines Ungehorsamstatbestandes spricht allerdings, dass dieses materielle Kriterium, an dem sich die Anwendbarkeit des § 2 Abs. 3 StGB in solchen Konstellationen entscheiden muss, verfehlt und zudem nicht trennscharf ist.[173] Wer eine blankettausfüllende Norm sichern will, kann dies faktisch nur über die reale Beachtung dieser Norm, also über den Gesetzesgehorsam, erreichen; die Sicherung des Gehorsams hat dann zwangsläufig die Sicherung des Regelungseffekts zur Folge.[174] Stellt man aber nicht auf die faktischen Wirkungen ab, sondern auf die Absicht des Gesetzgebers, lediglich den Regelungseffekt oder den Gehorsam zu sichern, so verliert das Kriterium seine Tauglichkeit, weil der Wille des Gesetzgebers nur selten verlässlich festgestellt werden kann. Außerdem spiegeln sich die Ungereimtheiten der Begrifflichkeiten in den Ergebnissen wider: Warum sollen zwischenzeitliche Herabsetzungen der Geschwindigkeitsbegrenzung im Straßenverkehrsrecht den Straftäter begünstigen, zwischenzeitliche Herabsetzungen der Steuersätze im materiellen Steuerrecht dagegen nicht?[175] Schließlich hätte die Anerkennung außerstrafrechtlicher Regelungseffekte zur Folge, dass dadurch dem Gesetzgeber die Möglichkeit genommen würde, für diese Fälle eine nachträgliche Milderung herbeizuführen. Dies widerspricht aber dem Demokratieprinzip, nach dem der Gesetzgeber hierüber entscheiden können muss.
71
Im Hinblick darauf, dass § 2 Abs. 3 StGB nach materiellen Rechtslagen und deren Ergebnis für den Betroffenen und nicht nach der systematischen Einordnung von blankettausfüllenden Normen fragt, muss entschieden werden, ob eine im konkreten Ergebnis günstigere Gestaltung der gesamten Rechtslage zwischen der Begehung der Tat und der Entscheidung vorliegt.[176] Deshalb seien nur solche Änderungen blankettausfüllender Normen aus dem Anwendungsbereich des Milderungsgebots auszunehmen, die eine Regelungen durch eine andere ersetzen, die Rechtslage aber nicht günstiger gestalten.[177] Als Beispiele hierfür werden Geldfälschungen genannt, die strafbar bleiben sollen, wenn neue Münzen eingeführt werden; ein falscher Offenbarungseid werde nicht dadurch straflos, dass die ZPO an seine Stelle nur noch eine eidesstattliche Versicherung vorsehe; neue Vorfahrtsregeln gestalteten die Rechtslage ebenfalls nicht günstiger.