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72
Unter „Gesetz“ im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB ist grundsätzlich jede Rechtsnorm zu verstehen, auf die ein Strafgesetz Bezug nimmt.[178] Denn durch die Verweisung des Strafrechts auf außerstrafrechtliche Normen wird deren Inhalt dem Strafrecht einverleibt und damit zum Bestandteil der verweisenden Strafrechtsnorm.[179] Damit verändert jede durch einen Straftatbestand genommene neue Rechtsnorm den strafrechtlichen Auslegungstatbestand und damit auch die strafrechtliche Verbotsmaterie, unabhängig davon, ob es sich dabei um eine Blankettverweisung, ein normatives Tatbestandsmerkmal oder eine mittelbare Inbezugnahme handelt. Um den Anforderungen des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts zu entsprechen, muss das in Frage stehende Verhalten nach der neuen Gesetzeslage noch strafbar sein und das neue Gesetz muss als aktuelle Bewertung eines Sachverhalts durch den Gesetzgeber und damit als die bessere Rechtserkenntnis zugunsten des Täters zur Anwendung kommen. Nur wenn keine Bewertungsänderung vorliegt, weil die gesetzliche Änderung rein technische Regelungen betrifft, greift das Milderungsgebot nicht ein. Allein auf diese Weise kann den im Strafrecht besonders hohen Anforderungen an die Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit Rechnung getragen werden, die auch für Rechtsgeltungsvorschriften gelten.[180] Außerdem kann durch die umfassende Anerkennung des Milderungsgebots erreicht werden, dass Normen, die wechselnden Bedürfnissen dienen, keine weiter reichende Rechtsgeltung eingeräumt wird als den klassischen, auf Dauer angelegten Straftatbeständen. Daher muss auch für außerstrafrechtliche Regelungen jede Gesetzesänderung grundsätzlich als „verbessernde Rechtserkenntnis“ zu einer strafrechtlichen Milderung führen.[181]
cc) Anwendbarkeit des Milderungsgebots auf rechtsnormative Tatbestandsmerkmale
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Bei der Verwendung normativer Tatbestandsmerkmale gestaltet der Gesetzgeber den Straftatbestand selbst in abschließender Weise, bedient sich aber einzelner, in anderen Rechtsteilen beheimateter, ausfüllungsbedürftiger Begriffe und macht sich deren ursprüngliche Auslegung zu Eigen.[182] Soweit es sich hierbei um Tatbestandsmerkmale handelt, deren Feststellung die Geltung und Anwendung von Rechtsnormen voraussetzt, werden diese als rechtlich-normative Merkmale bezeichnet.[183] Für diese gilt der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt nicht.[184] Wird jedoch ein bereits eingetretener außerstrafrechtlicher Regelungseffekt wie die Minderjährigkeit usw. durch die Aufhebung eines Gesetzes beseitigt, so wirkt sich dies als strafrechtliche Milderung aus. Daher ist nach h.M. § 2 Abs. 3 StGB auf die Herabsetzung der Volljährigkeit anwendet, wenn ein Strafgesetz Minderjährige schützt.[185] Auch hier gilt, dass Gesetzesänderungen, die auf Gerechtigkeitserwägungen beruhen stets eine strafrechtlich beachtliche Bewertungsänderung beinhalten, die dem Milderungsgebot unterliegt.
c) Feststellung des mildesten Gesetzes
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Wenn eine relevante Änderung des (im Übrigen „Identität“ wahrenden) Gesetzes vorliegt, bedarf es der Feststellung des mildesten Gesetzes, die im Wege eines Vergleiches der alten und der neuen Regelung vorzunehmen ist. Die Vergleichsbildung ist dabei konkret im Hinblick darauf vorzunehmen, welches Gesetz im konkreten Fall die für den Täter günstigste Rechtsfolge vorsieht.[186] Die Gründe, die zu der Gesetzesänderung geführt haben, sind irrelevant.[187] Die Prüfung ist für jeden Beteiligten getrennt durchzuführen.
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Umstritten ist, wie zu verfahren ist, wenn über die Hauptsanktion hinaus auf Nebenfolgen erkannt werden darf. Rechtsprechung und h.L. gehen vom Grundsatz strikter Alternativität aus; hiernach ist die Anwendung des Gesetzes nur als Ganzes geboten[188] und nicht getrennt nach Schuldspruch, Strafdrohung, Strafzumessungsvorschriften des Allgemeinen Teils sowie Nebenfolgen die jeweils günstigere Regelung zu finden und anzuwenden.[189] Dies ist jedoch unter dem im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG bedenklich. Daher ist es vorzugswürdig, für jede Sanktionsfolge getrennt zu ermitteln, welches Gesetz das Mildere darstellt.[190]
d) Mehrfache Gesetzesänderungen und Zwischengesetze
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Wenn sich die Rechtslage zwischen der Handlungszeit und dem Zeitpunkt der Entscheidung mehrfach geändert hat, stellt sich die Frage, ob auch die im Ahndungszeitpunkt außer Kraft getretenen Zwischengesetze zu berücksichtigen sind, sofern diese eine mildere Beurteilung des Tatgeschehens zulassen. Obwohl Nichtberücksichtigung milderer Zwischengesetze keinen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot bedeutet[191], handelt es sich um ein „Gebot der Billigkeit“.[192] Hierfür sprechen sowohl der Gesetzeswortlaut als auch der Zweck der Norm stützen dieses Ergebnis, so dass einhellig die Berücksichtigung milderer Zwischengesetze eintritt gefordert wird.[193] Wenn ein Verhalten in der Zwischenzeit straflos war, ist dies die mildeste Regelung, die zur Straflosigkeit führt, es sei denn, es handelt sich um ein Versehen des Gesetzgebers, das innerhalb kurzer Zeit behoben wird.[194]
6. Sonderregelungen für Zeitgesetze
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Der Gesetzgeber hat den Grundsatz der Berücksichtigung einer mildernden Gesetzesänderung in § 2 Abs. 4 S. 1 StGB für Gesetze, die nur für eine bestimmte Zeit gelten[195], eingeschränkt. Solche Zeitgesetze sind auf Taten, die während deren Geltung begangen worden sind, auch dann anzuwenden, wenn sie außer Kraft getreten sind. Dies gilt gemäß § 2 Abs. 4 S. 2 StGB nicht, soweit ein Gesetz etwas anderes bestimmt. Diese Regelung verstößt nicht gegen Art. 15 Abs. 1 S. 3 IPbpR, da Deutschland diesbezüglich einen Vorbehalt erklärt hat.[196]
a) Grundlagen
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Zweck dieser Regelung ist, dass bei uneingeschränkter Rückwirkung des mildesten Rechts Zeitgesetze „gegen Ende ihrer Geltungszeit an Wirksamkeit verlören und Beschuldigte dem Versuch unterliegen könnten, das Verfahren zu verzögern“.[197] Allerdings muss die begangene Tat auch noch zur Zeit der Entscheidung einen „gegenwärtigen Konflikt“[198] bedeuten, so dass mit der Bestrafung noch auf einen gegenwärtig bestehenden Konflikt reagiert wird.[199] Deshalb entfällt jeder Grund für eine Bestrafung der Altfälle, wenn ein Zeitgesetz nicht wegen der Befristung oder des Wegfalls seiner tatsächlichen Voraussetzungen, sondern wegen „geläuterter Rechtsauffassung“ des Gesetzgebers aufgehoben wird. In diesen Fällen bleibt es bei der Anwendung des Meistbegünstigungsprinzips des § 2 Abs. 3 StGB.[200] Zeitgesetze können auch durch andere Zeitgesetze abgelöst werden. Dann gilt ebenfalls die Regelung des § 2 Abs. 3 StGB, so dass sich der Betroffene auf das mildeste Zeitgesetz berufen kann.[201]
b) Begriff des Zeitgesetzes
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In § 2 Abs. 4 StGB wird das Zeitgesetz als ein Gesetz definiert, das nur für eine bestimmte Zeit gelten soll. Abgestellt ist damit auf eine zeitliche Befristung, die der Gesetzgeber gewollt hat. Sein Wille muss Niederschlag im Gesetz gefunden haben. Dies ist bei Zeitgesetzen im engeren Sinn der Fall, für die das Gesetz einen nach dem Kalender festgelegten Zeitpunkt oder ein sonstiges zukünftiges Ereignis bestimmt, an dem das Gesetz außer Kraft treten soll.[202] Zeitgesetze liegen aber auch dann vor, wenn ohne ausdrückliche Befristung Regelungen getroffen werden, „die erkennbar von vornherein Übergangscharakter haben“, denen also nach ihrem „Zweck und erkennbaren Willen nur vorübergehende Bedeutung zukommt“ (Zeitgesetze im erweiterten Sinn).[203] Diese Feststellung kann im Einzelfall zu Feststellungsschwierigkeiten führen[204], denen durch eine restriktive Auslegung Rechnung zu tragen ist:[205] Nur wenn eine für den Normadressaten klar erkennbare Regelung mit Übergangscharakter vorliegt, ist der Grundsatz der Gesetzesbindung gewahrt.
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Der Gesetzgeber kann ein ursprünglich als vorübergehend gedachtes Gesetz nachträglich zu einem dauerhaften machen und in Kraft lassen. Dadurch verliert das Gesetz seinen Zeitgesetzcharakter. Unter diesen Voraussetzungen ist § 2 Abs. 3 StGB anzuwenden.[206] Zur Bedeutung des unionsrechtlichen Milderungsgebots (Art. 49 Abs. 1 GRCh), das keine Ausnahme für Zeitgesetze kennt (siehe unten Rn. 95).
c) Vorbehalt für abweichende Regelungen
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Nach § 2 Abs. 4 S. 2 StGB kann die Nachwirkung des Zeitgesetzes aus besonderen Gründen kraft Gesetzes beseitigt oder beschränkt werden.
7. Verfall, Einziehung und Unbrauchbarmachung
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Nach § 2 Abs. 5 StGB gelten für Verfall, Einziehung und Unbrauchbarmachung die Absätze 1–4 entsprechend. Dadurch wird dem Umstand Rechnung getragen, dass es sich bei Verfall, Einziehung und Unbrauchbarmachung um strafähnliche Maßnahmen handelt.[207] Im Falle einer Rechtsänderung muss daher im Hinblick auf die Anwendung des mildesten Gesetzes für den konkreten Einzelfall bestimmt werden, welche Rechtsfolgen weniger einschneidend sind.[208] Wenn sich Verfall, Einziehung oder Unbrauchbarmachung ausnahmsweise auf eine Tat beziehen, die auf einem Zeitgesetz i.S.d. Absatz 4 beruht, ist die Anwendung des „Meistbegünstigungsprinzips“ ausgeschlossen, so etwa bei Verfall und Einziehung von Gewinnen aus Embargoverstößen.[209]
8. Ausnahme für Maßregeln der Sicherung und Besserung
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Nach § 2 Abs. 6 StGB gilt das Rückwirkungsverbot für Maßregeln der Besserung und Sicherung nicht.[210] Allerdings kann der Gesetzgeber gegenteilige Regelungen treffen und hat hiervon in der Vergangenheit auch mehrfach Gebrauch gemacht. Allerdings ist die Anordnung des Rückwirkungsverbots überwiegend durch das Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23. Juli 2004[211] aufgehoben worden. Gegenwärtig betrifft § 2 Abs. 6 StGB die Sicherungsverwahrung, die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) oder einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) und die Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB). Gesetzgeberische Ausnahmen finden sich nur noch in Art. 303 EGStGB für die Führungsaufsicht (§ 68 StGB) und in Art. 305 EGStGB für das Berufsverbot (§ 70 StGB).
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Für die Sicherungsverwahrung sieht der 2013 eingeführte Art. 316f EGStGB vor, dass die Neuregelungen nur für Anlasstaten gelten, die nach Inkrafttreten des Neurechts begangen worden sind. Nach Art. 316f Abs. 2 EGStGB gelten die materiellen Anordnungsvoraussetzungen des alten, mit dem Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010[212] geschaffenen Rechts[213], wenn die letzte Anlasstat vor dem 1. Juni 2013 begangen wurde. Für den Vollzug der Sicherungsverwahrung ordnet Art. 316f Abs. 3 EGStGB demgegenüber sowohl für Alt- als auch für Neufälle ohne zeitliche Differenzierung die Geltung des § 66c StGB an.
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§ 2 Abs. 6 StGB wird als rechtsstaatlich bedenklich angesehen, weil der Gesetzgeber jederzeit eine Rückwirkung ausschließen, sie aber auch wieder aufheben kann. Denn die Maßregeln der Besserung und Sicherung hätten, auch wenn sie neben den Strafen stehen und rein präventiven Zielen dienen sollen,[214] für den Täter die gleiche einschneidende Wirkung wie Strafen.[215] Auch der Gesichtspunkt, dass es um Zweckmäßigkeit gehe, die wandelnder Anschauung unterliege und dem aktuellen Schutzzweck folge[216], könne die Durchbrechung des Rückwirkungsverbots nicht rechtfertigen.[217] Das BVerfG hat jedoch in seiner Entscheidung vom 5. Februar 2004 die rückwirkende Verlängerung der Sicherungsverwahrung (§ 67d Abs. 3 i.V.m. § 66b StGB, Art. 1a EGStGB) für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt und insbesondere einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG sowie das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot (Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) verneint[218](näher dazu unten Rn. 100 f.).
7. Abschnitt: Geltungsbereich des Strafrechts › § 30 Zeitlicher Geltungsbereich › C. Internationalisierung, vornehmlich Europäisierung des Strafrechts
I. Rückwirkungsverbot
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Der Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege“ ist in Art. 7 EMRK (Rn. 87) sowie in Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh (Rn. 88 ff.) garantiert.
1. Art. 7 EMRK
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Art. 7 EMRK garantiert das Rückwirkungsverbot, soweit die Rückwirkung den Angeklagten benachteiligt.[219] In Fällen eines völkerrechtlichen Verbrechens lässt Art. 7 Abs. 2 EMRK eine rückwirkende Bestrafung für Taten zu, die zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar waren.[220] Das Rückwirkungsverbot war unter dem Gesichtspunkt einer zusätzlich rückwirkend verhängten Strafe[221] bei der nachträglich verhängten Sicherungsverwahrung und bei der Aufhebung der früheren Höchstfrist der Sicherungsverwahrung[222] einschlägig (Rn. 105 f.). Die deutsche Ahndung der Mauerschützenfälle[223], die den Rechtfertigungsgrund des § 27 Abs. 2 GrenzG der DDR infolge eines Widerspruchs zu übrigem Recht der DDR und zu höherrangigen internationalen Konventionen außer Acht ließ, hat der EGMR bei der Anwendung auf einfache Soldaten[224] nicht beanstandet[225] (Rn. 102 f.). Eine Verletzung des Rückwirkungsverbots kann bereits dann gegeben sein, wenn eine Strafnorm zur Zeit der „Tat“ zwar bestanden hatte, bestimmte – von ihrem Wortlaut erfassbare – Verhaltensweisen aber derart akzeptiert waren, dass von einer De-Facto-Entkriminalisierung auszugehen war.[226]
2. Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh
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Auch Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh garantiert den Grundsatz „nullum crimen“ und damit auch das Rückwirkungsverbot. Bezüglich dieses Grundsatzes hat der EuGH bereits im „Bosch“-Urteil festgestellt, dass es sich hierbei um eine elementare Ausprägung des Gesetzlichkeitsprinzips handele, die auch im Gemeinschaftsrecht Geltung beanspruche.[227] Aus diesem Grund wendete der Gerichtshof das europäische Kartellordnungswidrigkeitenrecht erst ab dem Zeitpunkt des Beitritts eines Mitgliedstaates auf wettbewerbswidrige Praktiken der Unternehmen an.[228] So stellte er im Verfahren „Tepea/Watts“ darauf ab, dass die zwischen einem englischen und einem niederländischen Unternehmen seit Mitte der fünfziger Jahre praktizierte Marktaufteilung erst seit dem 1. Juni 1973 – dem Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft – ordnungswidrig gewesen sei, denn erst ab diesem Zeitpunkt sei der Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigt worden. Zuvor habe sich die Vereinbarung lediglich auf den Binnenhandel der Niederlande ausgewirkt. Für die außerstrafrechtlichen Normierungen hielt er dagegen eine Rückwirkung für möglich.[229] Der EuGH hat ferner in der Entscheidung Regina/Kirk Kent[230] im Hinblick auf eine britische Regelung, die den Zugang dänischer Schiffe zu britischen Hoheitsgewässern bei Strafsanktion verbot, die Bedeutung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots betont. Die Entscheidung betraf eine Fallkonstellation, in der es den Mitgliedstaaten für eine Übergangszeit erlaubt war, Maßnahmen zu treffen, die vom Nichtdiskriminierungsgebot abwichen. Nach Ablauf dieser Zeit war es dem Rat vorbehalten, eine Verlängerung der Übergangszeit zu beschließen. Dieser Beschluss einer Verordnung des Rates erfolgte erst am 25. Januar 1983, während die Übergangsfrist, in der Einschränkungen nicht erlaubt waren, am 31. Dezember 1982 abgelaufen war. Auch wenn der Rat seiner Verordnung rückwirkende Wirkung gegeben hatte, hat der EuGH die Strafsanktion gegen den dänischen Fischer Kirk, der sich am 6. Januar 1983 in britische Hoheitsgewässer begab, dennoch als Verstoß gegen Art. 7 EMRK gewertet und für unzulässig erklärt.
1. Verortung des Milderungsgebots im Grundsatz „nullum crimen sine lege“ (Art. 7 EMRK) durch den EGMR
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In der Europäischen Menschenrechtskonvention findet sich keine explizite Regelung des Milderungsgebots. Art. 7 EMRK nennt lediglich das Gesetzlichkeitsprinzip und verbietet rückwirkende Strafschärfungen. Allerdings hat die Große Kammer des EGMR[231] in der Rechtssache Scoppala/Italien aus dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot das Milderungsgebot hergeleitet und als Leitsatz formuliert:
„Inzwischen besteht in Europa und darüber hinaus ein Konsens, dass die Anwendung eines späteren milderen Strafgesetzes ein Grundsatz der Strafrechtspflege ist. Dem trägt der Gerichtshof, der früher anders entschieden hatte, Rechnung und bekräftigt, dass Art. 7 EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz) nicht nur garantiert, dass strengere Strafvorschriften nicht rückwirkend angewendet werden dürfen, sondern auch, dass mildere Strafgesetze rückwirkend anzuwenden sind.“
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Dabei stützte sich die Große Kammer maßgeblich auf die internationalen Entwicklungen in Bezug auf das Milderungsgebot, die seit der Entscheidung der EKMR in der Rechtssache „X/Deutschland“[232] stattgefunden haben. Das gelte insbesondere für das Inkrafttreten der Amerikanischen Menschenrechtskonvention, die in Art. 9 die rückwirkende Anwendung eines nach der Tat ergangenen milderen Gesetzes garantiert. Zu erwähnen sei weiter „die Europäische Menschenrechtserklärung, die in Art. 49 I im Wortlaut von Art. 7 EMRK abweicht, und das kann nur bewusst geschehen sein (s. mutatis mutandis EGMR, Slg. 2002-VI Nr. 100 = NJW-RR 2004, 289 = FPR 2004, 275 L – Christine Goodwin/Vereinigtes Königreich), und bestimmt: ,Wird nach Begehung einer Straftat durch Gesetz eine mildere Strafe angedroht, so ist diese zu verhängen.‘“ Schließlich habe der EuGH im Fall Berlusconi[233] ausgesprochen, dieser Grundsatz sei Teil der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten. Auch der französische Kassationshof habe diesen Grundsätzen im Urteil vom 19. September 2007 (06–85899) zugestimmt. Schließlich sei die Anwendung des milderen Gesetzes im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs bestimmt und in der Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien bekräftigt. Aus diesen Gründen sei anzunehmen, dass sich in den letzten 40 Jahren in Europa und allgemein international ein Konsens entwickelt habe, dass es ein Grundsatz des Strafrechts ist, das mildere Strafgesetz anzuwenden, auch wenn es nach der strafbaren Handlung in Kraft getreten ist.[234]
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Zur Fundierung des Milderungsgebots legt die Große Kammer[235] dar, dass Art. 7 EMRK zwar nicht ausdrücklich die Pflicht der Konventionsstaaten erwähne, dem Beschuldigten die Anwendung einer nach der strafbaren Handlung ergangenen Gesetzesänderung zugutekommen zu lassen. Es entspreche aber dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, von dem Art. 7 EMRK ein wesentlicher Teil sei, von einem Strafgericht zu erwarten, dass es für jede strafbare Handlung die Strafe verhängt, die der Gesetzgeber für angemessen hält. Zu einer schwereren Strafe nur deswegen zu verurteilen, weil das zur Zeit der Tat vorgesehen war, würde bedeuten, dass man zum Nachteil des Beschuldigten die Regeln über die zeitliche Folge von Strafgesetzen anwendet. Es würde außerdem bedeuten, eine dem Beschuldigten vorteilhafte Gesetzgebung vor der Verurteilung außer Betracht zu lassen und fortzufahren, Strafen zu verhängen, die der Staat und die Gemeinschaft, die er repräsentiert, jetzt für übermäßig hält. Die Verpflichtung, unter mehreren Strafvorschriften die dem Beschuldigten günstigste anzuwenden, sei eine Klarstellung der Regeln über die zeitliche Folge von Strafgesetzen, die einem anderen wesentlichen Element des Art. 7 EMRK entspricht, nämlich der Vorhersehbarkeit von Strafen. Aus diesen Gründen sei es notwendig, von der durch die EKMR im Fall X/Deutschland (1978, DR, Bd. 13 S. 70 ff.) begründeten Rechtsprechung abzuweichen und zu bekräftigen, dass Art. 7 EMRK nicht nur den Grundsatz garantiert, dass strengere Strafvorschriften nicht rückwirkend angewendet werden dürfen, sondern stillschweigend auch den Grundsatz der rückwirkenden Anwendung milderen Strafrechts. Dieser Grundsatz ergebe sich aus der Regel, dass die Gerichte das Strafrecht anwenden müssen, dessen Vorschriften für den Beschuldigten am günstigsten sind, wenn es Unterschiede zwischen dem Strafrecht gibt, das zur Tatzeit galt, und späterem, das vor dem rechtskräftigen Urteil in Kraft getreten ist. Es soll also das Meistbegünstigungsprinzip gelten.
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Nach Ansicht der Richter Pintol de Albuquerque und Vicinic verstößt die Verhängung eines schärferen Tatzeitrechts nach Erlass eines milderen Gesetzes nicht gegen nullum crimen sine lege und die Vorhersehbarkeit strafrechtlichen Strafens, sondern gegen das Gewaltenteilungsprinzip. Die Rechtsprechung dürfe das schärfere Tatzeitrecht nicht mehr anwenden, weil die Legislative ihre Bewertung über das Verhältnis zwischen strafbarem Verhalten und Schwere der anwendbaren Strafe geändert habe. Die Anwendung des schärferen Gesetzes trotz entgegenstehenden Legislativaktes führe zu einer widersprüchlichen und deshalb willkürlichen Bewertung desselben Unrechts.[236]
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Auf der Grundlage der Entscheidung Scoppola, dass „Art. 7 Abs. 1 nicht nur das Verbot der rückwirkenden Anwendung schärferen Strafrechts beinhalte, sondern implizit auch das Gebot der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes“[237], bekräftigte der EGMR in mehreren nachfolgenden Entscheidungen die Geltung des lex mitior-Grundsatzes. Hiervon gebe es keine allgemeingültige Ausnahme, da Art. 7 Abs. 2 EMRK „lediglich als kontextuelle Klarstellung der Verpflichtungskomponente“ des in Abs. 1 niedergelegten allgemeinen Rückwirkungsverbots anzusehen sei.[238] Der EGMR konkretisierte die Anforderungen an die Bestimmung des milderen Strafgesetzes dahingehend, dass ein Vergleich der Höchst- mit der Mindeststrafe in abstracto oder der sich an die Höchst- oder Mindeststrafe annähernden nationalen Strafzumessungspraxis nicht genüge[239], sondern Art. 7 Abs. 2 EMRK, wie bereits in der Entscheidung Maktouf and Damjanovi festgestellt, eine konkrete Prüfung der anwendbaren Strafgesetze im Einzelfall erfordere, um die zu erwartenden Strafen für jeden Angeklagten zu ermitteln und die günstigste Strafe anzuwenden.[240]
2. Art. 49 Abs. 1 S. 3 GR-Charta
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Das Milderungsgebot wird für das Unionsrecht nach dem Vorbild des Art. 15 Abs. 1 Satz 3 IPbpR, der als Garantie im Sinne des Meistbegünstigungsprinzips gesehen wird[241], in Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh garantiert[242] und hat damit, anders als das nationale Milderungsgebot nach § 2 StGB, Verfassungsrang. Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh lautet: „Wird nach Begehung einer Straftat durch Gesetz eine mildere Strafe eingeführt, so ist diese zu verhängen.“ Der Wortlaut des Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von § 2 Abs. 3 StGB, wird aber jedenfalls im Grundsatz gleich ausgelegt.[243]