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a) Eröffnung des Anwendungsbereichs der Grundrechtecharta
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Voraussetzung für das Eingreifen des Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh ist die Eröffnung des Anwendungsbereichs der GRCh. Nach Art. 51 Abs. 1 GRCh gelten die unionalen Grundrechte „für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“. Dadurch soll ein lückenloser Grundrechtsschutz gewährleistet werden, der insbesondere auch den im Ausbau begriffenen „Raum der Freiheit der Sicherheit und des Rechts“ umfasst (vgl. Art. 67 Abs. 1 AEUV).[244] „Durchführung“ des Unionsrechts bedeutet Umsetzen oder Vollziehen, insbesondere im Bereich der Grundfreiheiten[245], aber auch im Bereich des Sekundärrechts (Verordnungen, Richtlinien).[246] Insbesondere im Wirtschaftsstrafrecht mit seinen vielen Inbezugnahmen europarechtlicher Vorschriften kann der Ausschluss der Einschränkung des Meistbegünstigungsprinzips daher Bedeutung erlangen.[247] Jedoch lässt Art. 52 Abs. 1 GRCh bei der Achtung des „Wesensgehalts“ der Grundrechte und „unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit“ Einschränkungen zu, wenn sie „erforderlich“ sind sowie weiteren Voraussetzungen entsprechen.[248] Art. 52 Abs. 1 GRCh wird vom EuGH „einschränkungsfreundlich“ ausgelegt.[249]
b) Erstreckung des Milderungsgebots auf Richtlinien, Verordnungen und Rahmenbeschlüsse
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Die Geltung des Milderungsgebots hat zur Folge, dass unionsrechtliche Regelungen, die aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts zu einer Milderung der Rechtslage im Strafrecht führen, als gesetzliche Milderungen zu berücksichtigen sind. Dies gilt nicht nur für Verordnungen, die als blankettausfüllende Normen in Bezug genommen werden, sondern gleichermaßen für Richtlinien und Rahmenbeschlüsse, die begünstigend auf das Strafrecht wirken.[250] Nur auf diese Weise kann dem Milderungsgebot des Unionsrechts zu umfassender Geltung verholfen werden. Würde man Einschränkungen des Milderungsgebots in Abhängigkeit vom Unrechtsbezug des Unionsrechts vornehmen, so könnte und müsste der Richter mittels Bestimmung des geschützten Rechtsguts über den Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Milderungsgebots entscheiden.
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In der Entscheidung Antoine Kortas[251] hat der EuGH die Geltung des Grundsatzes des milderen Gesetzes und die unmittelbare Wirkung von Richtlinien auch ohne deren Umsetzung in nationales Recht bestätigt. Der Grundsatz der lex mitior gebiete es, von dem Gesetz auszugehen, welches die Tat am mildesten beurteilt.[252] Daraus ergebe sich, dass ein nachträglicher Wegfall des Verbots – mag dieser auch durch ein Ablaufen der Umsetzungsfrist zwischen Tatbegehung und Entscheidung bedingt sein – zur Straflosigkeit führen müsse.[253] Entsprechend wurde im Fall „Awoyemi“ für unerheblich erklärt, dass die Umsetzungsfrist für die Richtlinie noch nicht abgelaufen war.[254] Durch die Umsetzungsfrist bei Richtlinien soll den nationalen Gesetzgebern lediglich eine unter Praktikabilitätsgesichtspunkten unabdingbare Frist eingeräumt werden; in materieller Hinsicht ist hingegen die Anwendung des richtlinienwidrigen Gesetzes mit In-Kraft-Treten der Richtlinie nicht mehr erwünscht. Der europäische Gesetzgeber hat bereits eine andere rechtliche Grundanschauung getroffen, und diese muss auch durchgesetzt werden. Wenn aber eine nationale Gesetzesänderung nicht auf der besonderen Zeitgebundenheit des Gesetzes, sondern auf einem Wandel der Rechtsanschauung beruht, ist eine Einschränkung des Milderungsgebots nicht vertretbar. Vielmehr ist dem Gebot verhältnismäßiger Gerechtigkeit Rechnung zu tragen. Dieses Ergebnis stimmt im Übrigen mit der h.M. zum nationalen Recht überein, nach der die Sonderregelung für Zeitgesetze (§ 2 Abs. 4 StGB) im Falle einer geänderten Rechtsanschauung nicht anwendbar ist,[255] sondern das Milderungsgebot eingreift.
c) Erstreckung des Milderungsgebots auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts?
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Wenn sich das Unionsrecht begrenzend auf eine nationale Strafnorm auswirkt, ohne dass das nationale Gesetz geändert worden ist, stellt sich gleichermaßen die Frage nach dem zeitlichen Anwendungsbereich des Strafrechts, also nach dem Zeitpunkt, ab dem sich eine aus dem Unionsrecht ergebende Milderung aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts strafbegrenzend auswirkt. Da das Strafgesetz nicht geändert wird, sondern lediglich Anwendungsvorrang für das Unionsrecht besteht, können die nationalen Regelungen über die Anwendung des milderen Rechts, die eine Gesetzesänderung voraussetzen, nach dem Gesetzeswortlaut keine unmittelbare Anwendung finden. Wenn es sich beim Milderungsgebot jedoch um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts handelt, müssen auch Veränderungen der Rechtslage, die sich infolge des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts ergeben, zugunsten des Täters berücksichtigt werden. Denn die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, die allgemeinen Rechtsgrundsätze bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen und die darin getroffenen Vorgaben einzuhalten. Entsprechend hat der EuGH im Fall „Awoyemi“, in dem eine nationale Strafnorm gegen eine Richtlinie verstoßen hat, deren Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen war, zum strafrechtlichen Milderungsgebot Stellung genommen und ein Eingreifen bejaht, um eine möglichst rasche und effektive Umsetzung des Gemeinschaftsrechts in nationales Recht durchzusetzen.[256]
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In der Berlusconi-Entscheidung musste sich der EuGH mit der Frage auseinander setzen, ob das strafrechtliche Milderungsgebot auch dann eingreift, wenn ein Mitgliedstaat eine strafrechtliche Norm, zu deren Statuierung er aufgrund einer Richtlinie verpflichtet ist,[257] aufgehoben hat und nach der neuen nationalen Regelung Straflosigkeit eingetreten ist. Generalanwältin Kokott[258] kam in ihren Schlussanträgen zu dem Ergebnis, dass aufgrund des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts die frühere strafrechtliche Regelung weiterhin anwendbar sei. Ein nachträglich erlassenes gemeinschaftsrechtswidriges Strafgesetz stelle gar kein anwendbares milderes Strafgesetz dar.[259] Der EuGH[260] kommt zu dem entgegengesetzten Ergebnis: Der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes gehöre zu den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und sei damit Bestandteil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, die der nationale Richter bei der Anwendung des nationalen Rechts zu beachten habe. Eine Richtlinie dürfe aber nicht dazu führen, die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Angeklagten festzulegen oder zu verschärfen.[261] In der Literatur[262] wird beiden Lösungen, der der Generalanwältin und des EuGH, entgegengehalten, dass jede von ihnen einen Ausgleich zwischen dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts, dem Prinzip der „lex mitior“ und dem Verbot der strafbegründenden bzw. –schärfenden (unmittelbaren) Wirkung einer Richtlinie nur unter völliger Preisgabe eines der Prinzipien erreichen könne. Der EuGH hebele die wohl grundlegendste Maxime der Gemeinschaftsrechtsordnung aus, um zu verhindern, dass ein Beschuldigter nach dem zum Tatzeitpunkt geltenden (!) Strafgesetz verurteilt wird. Nüchtern betrachtet müsse dies erstaunen, weil der „lex mitior“-Grundsatz, der das nachträgliche Strafgesetz überhaupt erst berücksichtigungsfähig werden lasse, in den meisten nationalen Rechtsordnungen nicht einmal verfassungsrechtlich garantiert werde.[263] Der unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinie vorgelagert ist jedoch die Frage, ob sich der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts bei einer nationalen Norm auch auf die in dieser Norm liegende derogierende Wirkung erstreckt. Dies hätte zur Folge, dass eine nationale Norm für rein inländische Sachverhalte außer Kraft gesetzt wäre, während dieselbe Regelung für grenzüberschreitende und die Europäische Union betreffende Sachverhalte fortbestünde, also in Geltung wäre. Damit käme der Europäischen Union gleichsam die Kompetenz zur Anordnung der Fortgeltung von Strafnormen für unionsrechtlich relevante Fälle zu. Eine solche Kompetenz auf dem Gebiet des Strafrechts wird von der ganz h.M. jedoch, sieht man von Art. 325 AEUV bezüglich Strafnormen zum Schutz der finanziellen Interessen ab, zutreffend verneint. Sowohl in der Rechtsprechung des EuGH[264] und des BGH[265] als auch in der einschlägigen Literatur[266] besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Mitgliedstaaten keine originäre Kompetenz zur Schaffung eines supranationalen Strafrechts übertragen haben.[267] Hinzu kommt, dass eine Erstreckung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts auch auf die derogierende Wirkung im Ergebnis über einen bloßen Anwendungsvorrang hinausginge und zum Geltungsvorrang des Unionsrechts führen würde. Eine so weitreichende Wirkung des Unionsrechts hat der EuGH jedoch stets abgelehnt.[268] Das Vorrangprinzip ist von vornherein nicht darauf gerichtet, eine im nationalen Recht bestehende oder entstandene Lücke durch hinzugedachtes nationales Recht zu füllen.[269]
d) Verdrängung der Sonderregelung für Zeitgesetze in § 2 Abs. 4 StGB durch Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh?
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Die Frage, unter welchen Voraussetzungen § 2 Abs. 4 StGB von Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh verdrängt wird, ist nicht abschließend geklärt. Die hier bestehende Kontroverse wurde im Zusammenhang mit der Einschränkung von Grundfreiheiten Angehöriger von Mitgliedstaaten, die neu der EU beigetreten waren (Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bulgaren und Rumänen), und dem späteren Wegfall dieser Einschränkungen wurde ebenso diskutiert[270] wie die Rechtsprechung des BGH[271] zur Berücksichtigung (abgeschaffter) Antidumpingzölle.[272] Der EuGH hat bislang zu dieser Frage nicht Stellung genommen, obwohl im Fall Awoyemi in Folge der noch nicht abgelaufenen Umsetzungsfrist für die Richtlinie die Nichtanwendung des nationalen Strafrechts zeitlich absehbar geworden war und damit die Gefahr bestand, dass die Strafnorm ihre verhaltenssteuernde Wirkung verlieren könnte. Der EuGH legte dar, dass das Gemeinschaftsrecht nicht verbiete, dass nationale Gerichte für die Zwecke der Anwendung des nationalen Rechts nach einem Grundsatz ihres Strafrechts die günstigeren Bestimmungen des EG-Rechts berücksichtigen, auch wenn das Gemeinschaftsrecht keine dahin gehende Verpflichtung enthalte.[273]
1. Rückwirkungsverbot
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Das Rückwirkungsverbot wirft eine Reihe von Grundsatzfragen auf, wie die großen Debatten, die in jüngerer Zeit um § 2 StGB geführt worden sind[274], zeigen: die rückwirkende Verlängerung der Verjährungsfrist für NS-Morde,[275] die sogenannte Parteispendenaffäre,[276] die strafrechtliche Beurteilung „staatsverstärkter“ Kriminalität in der früheren DDR[277] und das Strafrecht der Außenwirtschaft und der Finanzsanktionen,[278] das zunehmend an praktischer Bedeutung gewinnt. Hinzu kommen Entscheidungen des EuGH zum zeitlichen Geltungsbereich von Strafgesetzen, in denen sich das Gericht mit dem Verhältnis des Vorrangs des Unionsrechts zum strafrechtlichen Milderungsgebot und zum Verbot der strafbegründenden bzw. –verschärfenden (unmittelbaren) Wirkung einer Richtlinie auseinander setzen musste.[279]
a) Tötungen an der innerdeutschen Grenze
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Eine zentrale Frage des Rückwirkungsverbots ist die nach seiner Reichweite bzw. nach seiner Einschränkbarkeit. Hiermit haben sich das Bundesverfassungsgericht[280] und der EGMR[281] insbesondere in ihren Entscheidungen zu den Tötungen an der innerdeutschen Grenze (sogenannte Mauerschützenfälle) auseinandergesetzt. Hierbei ging es um die Frage, ob Personen, die Todesschüsse an der ehemaligen innerdeutschen Grenze zu verantworten haben, nach der Wiedervereinigung wegen Totschlags oder Mordes verurteilt werden konnten. Der Einigungsvertrag schreibt für diese Konstellation die Anwendung des Strafrechts der DDR vor (Art. 8 EV und Art. 315 EGStGB[282]). § 27 des Grenzgesetzes der DDR hatte eine Befugnis zum Gebrauch der Schusswaffe statuiert, „um die unmittelbar bevorstehende Ausführung … einer Straftat (d.h. des “ungesetzlichen Grenzübertritts“) zu verhindern“, „wenn kein anderes Mittel Erfolg verspricht“, wobei das Leben von Menschen „möglichst zu schonen“ ist. Hierbei kam es entscheidend darauf an, ob diese Vorschrift im Lichte des DDR-Selbstverständnisses oder nach bundesdeutschem bzw. menschlich westlich-menschenrechtlichen Verständnis auszulegen ist. Der EGMR hat sich der Sache nach für die zweite Möglichkeit entschieden und deshalb die Taten wegen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip als nicht gerechtfertigt angesehen.[283] Damit wurde aber die Orientierungsfunktion des Rückwirkungsverbots unterlaufen.[284]
103
Das Bundesverfassungsgericht hat die Strafbarkeit der Verantwortlichen aufgrund des Totschlagtatbestandes des DDR-Strafgesetzbuchs durch den BGH[285] bestätigt und damit begründet, dass der Rechtfertigungsgrund des DDR-Rechts wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unbeachtlich sei. Befürworter einer Unanwendbarkeit des DDR-Rechtfertigungsgrundes wenden dabei die so genannte Radbruch'sche Formel[286] an,[287] die einen Kernbereich des Unverfügbaren enthält, allerdings nicht ermöglicht, eine schärfere Linie zu ziehen.[288] Entsprechend will das Bundesverfassungsgericht die Formel auf extreme Ausnahmefälle – „extremes Unrecht“ – beschränken[289] und die Formel mithilfe völkerrechtlicher Normen präzisieren und positivieren.[290] Die DDR war zwar an den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte gebunden, der in Art. 6 die willkürliche Tötung von Menschen verbietet und in Art. 12 Einschränkungen der Ausreisefreiheit zulässt, jedoch war der Pakt nicht in innerstaatliches Recht umgesetzt und deshalb zur Konkretisierung der Radbruch'schen Formel nicht geeignet.[291] Wohl aber kann in den Fällen eines völkerrechtlichen Verbrechens auf Art. 7 Abs. 2 EMRK zurückgegriffen werden, der eine rückwirkende Bestrafung zulässt, wenn die Tat zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar waren (Rn. 87).
b) Geltung des Rückwirkungsverbots für Maßregeln der Besserung und Sicherung?
104
Im Strafrecht wird grundsätzlich zwischen Strafen und Maßregeln der Besserung und Sicherung differenziert. Nur erstere sollen dem Rückwirkungsverbot unterliegen, während für Maßregeln das jeweils geltende Gesetz gelten soll (§ 2 Abs. 6 StGB). Diese Zweispurigkeit des Strafrechts wurde zunehmend in Frage gestellt[292], nachdem die Entwicklungen des Maßregelrechts in den letzten Jahrzehnten zur Entstehung eines einheitlichen, stark aufeinander bezogenen Sanktionssystems geführt haben, das die von der Rechtsprechung betonte scharfe Trennung von Strafen und Maßregeln[293] nicht mehr getragen hat[294] und eine unterschiedliche Behandlung von Strafen und Maßregeln nicht mehr rechtfertigen konnte.[295] Gleichwohl geht die herrschende Meinung nach wie vor davon aus, dass es sich bei den Maßregeln der Besserung und Sicherung nicht um Strafen handelt, die ihren Grund in der konkreten, schuldhaften Fehlentscheidung einer freien, selbstverantwortlichen Person haben, sondern um Maßnahmen, die – losgelöst von dem Erfordernis eines für den Täter zuvor unmittelbar einsichtigen Rechtssatzes – an der Gefährlichkeit anknüpfen.[296]
105
Auch das BVerfG hat sich in seinen Entscheidungen zur Sicherungsverwahrung in Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des EGMR für die Anerkennung und Beibehaltung der Zweispurigkeit der Strafrechtsfolgen ausgesprochen und eine klare und trennscharfe Abgrenzung der Strafe von der Maßregel vorgenommen, mit der Folge, dass es die Anwendung des Art. 103 Abs. 2 GG auf Maßregeln abgelehnt hat.[297] Demgegenüber hat der EGMR im Jahre 2009 und in Folgeentscheidungen die Sicherungsverwahrung als Strafe im Sinne von Art. 7 Abs. 1 EMRK qualifiziert[298], und zwar auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung, bei der der weitgehend ähnliche Vollzug der Freiheitsstrafe und der Sicherungsverwahrung eine zentrale Rolle spielte.[299]
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Im Jahre 2011 hat das BVerfG[300], als es sich erneut mit der Sicherungsverwahrung und ihrer Einordnung als Strafe befassen musste, sich weder für eine Korrektur seiner Entscheidung aus dem Jahre 2004 entschieden, noch gegen die Entscheidung des EGMR: Es hielt am zweispurigen System fest und verneinte erneut den Strafcharakter der Sicherungsverwahrung[301], monierte aber zugleich, dass sich die Sicherungsverwahrung im Hinblick auf ihren tatsächlichen Vollzug zu sehr einer Strafe angenähert habe. Es wird also nicht die Aufgabe der Zweispurigkeit, sondern deren konsequente Einhaltung bei der Vollstreckung der Sanktion gefordert. Die Sicherungsverwahrung wurde als besonders gravierende Sanktion bezeichnet, als „Sonderopfer“, das strengen Grenzen unterworfen werden müsse[302], weil die Sicherungsverwahrung nicht auf dem Beweis einer begangenen Straftat, sondern auf einer bloßen Prognose der Gefährlichkeit beruhe.[303] Hierbei sieht das BVerfG die Legitimation der Strafe zutreffend darin, dass eine Tat schuldhaft begangen wurde.[304] Strafe sei Reaktion auf schuldhaftes Verhalten, die dem Schuldausgleich dient; dies sei die zentrale Funktion der Strafe.[305] Ihre Berechtigung liege in der Schuld des Betroffenen.[306] Damit ist das BVerfG der These von der Verwischung der Zweispurigkeit durch Schaffung eines einheitlichen, stark aufeinander bezogenen Sanktionssystems entgegentreten und hat sich für eine klarere Einhaltung der Zweispurigkeit auch im praktischen Vollzug ausgesprochen.
a) Anforderungen an eine Ahndungslücke
107
Im Kontext gesetzlicher Neuregelungen treten immer wieder Fehler des Gesetzgebers auf, die zu einer Ahndungslücke führen. Als Beispiel kann die Strafbarkeit der Marktmanipulation durch das Erste Finanzmarktnovellierungsgesetz genannt werden, bei der es zu einer eintägigen temporalen „Ahndungslücke“ gekommen ist, weil der deutsche Gesetzgeber die bisherigen Strafnormen der Marktmanipulation durch eine sonstige Täuschungshandlung bereits zum 2. Juli 2016 aufgehoben und außer Kraft gesetzt hat.[307] Zwar hat der Gesetzgeber die neuen Strafvorschriften bereits zum 2. Juli 2016, also gleichsam „nahtlos“ in Kraft gesetzt. Diese verwiesen auf die Vorschriften der MAR (Market Abuse Regulation) als blankettausfüllende Verhaltensnormen, die jedoch erst ab dem 3. Juli 2016 in Geltung traten, also erst einen Tag bzw. 24 Stunden später als die Außerkraftsetzung der alten die Strafbarkeit begründenden Normenkette. Hierbei handelte es sich offenbar um ein kurioses Versehen, zu dem es im Rahmen des komplexen Gesetzgebungsprozesses gekommen war.[308]
108
Der 5. Strafsenat des BGH verneinte eine Ahndungslücke, obwohl die in Bezug genommenen unionsrechtlichen Regelungen erst seit dem 3. Juli 2016 in den Mitgliedstaaten der EU als unmittelbar geltendes Recht anwendbar seien. Die Verweisungen in den Strafgesetzen auf die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften am 2. Juli 2016 seien nicht „ins Leere“ gegangen. Vielmehr führten die Bezugnahmen in den Strafnormen dazu, dass die EU-rechtlichen Regelungen bereits vor ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit durch den Bundesgesetzgeber im Inland für (mit)anwendbar erklärt worden seien. Es sei der Wille des deutschen Normgebers ersichtlich, unionsrechtliche Vorschriften ungeachtet ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit im nationalen Recht in eine Blankettnorm aufzunehmen. Es sei daher nicht zweifelhaft, dass der Gesetzgeber eine lückenlose Ahndung von Marktmanipulationen und Insiderhandel erreichen wollte.[309]
109
Diese Entscheidung ist erkennbar von dem Willen getragen, eine Ahndungslücke für die Dauer des 2. Juli 2016 zu verneinen. Allerdings ist zweifelhaft, ob dem nationalen Gesetzgeber das Recht zusteht, eine unionsrechtlich noch nicht geltende Norm über eine strafrechtliche Verweisung in Geltung zu setzen[310] und dadurch das intertemporale Strafrecht zu unterlaufen: Eine Ahndungslücke führt zur Straffreiheit. Mit dem Beginn der Strafbarkeitslücke greift das Milderungsgebot des § 2 Abs. 3 StGB ein und schließt eine Strafbarkeit ab diesem Zeitpunkt aus.
b) Möglichkeiten zur Schließung einer intertemporalen Ahndungslücke durch den Gesetzgeber
110
Fraglich ist allerdings, ob der Gesetzgeber im Falle einer Ahndungslücke die Möglichkeit hat, eine solche Ahndungslücke durch ein gesondertes Gesetz nachträglich zu schließen.[311]
111
Das BVerfG ermöglicht es dem Gesetzgeber, im Falle einer kurzzeitigen Ahndungslücke, die durch ein Versäumnis des Gesetzgebers entstanden ist, das mildeste Gesetz für den Täter ausnahmsweise nicht für anwendbar erklärt hat.[312] Eine Nichtberücksichtigung einer zwischenzeitlichen Gesetzesaufhebung wird allerdings unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes problematisch, wenn die Straflosigkeit über eine längere Zeitspanne besteht[313] und nicht nur wenige Wochen andauert.[314] Unter Berufung auf die Entscheidung BVerfGE 81, 132, 137 hat das BVerfG[315] in Bezug auf das Fahrpersonalgesetz die Auffassung vertreten, dass der Gesetzgeber eine zwischenzeitlich entstandene Ahndungslücke nachträglich schließen kann, ohne gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG zu verstoßen. Die zunächst bestehende Ahndungslücke sei durch eine spätere explizite gesetzliche Anordnung der Strafbarkeit geheilt worden. Dem stünde das Grundgesetz nicht entgegen, weil dem Meistbegünstigungsprinzip kein spezifisch verfassungsrechtlicher Schutz zukomme; es sei weder von Art. 103 Abs. 2 GG umfasst, noch liege eine von Art. 3 Abs. 1 GG untersagte Ungleichbehandlung vor. Ein schutzwürdiges Vertrauen des Täters sei nicht entstanden, das allgemeine Willkürverbot sei nicht verletzt. Im konkreten Fall hatte der Gesetzgeber mit § 8 Abs. 3 FPersG eine Regelung getroffen, nach der das Milderungsgebot des § 4 Abs. 3 OWiG nicht zur Anwendung kommen sollte. Der Gesetzgeber hatte also explizit seinen Fehler korrigiert, indem er nachträglich das Milderungsgebot kraft spezialgesetzlicher Regelung angeordnet hat.[316]
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Beide Entscheidungen des BVerfG sind noch vor Inkrafttreten der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ im Jahr 2009 ergangen und berücksichtigten deshalb ausschließlich das nationale Milderungsgebot. Nunmehr ist die Grundrechtecharta als Primärrecht bei der Durchführung des Unionsrechts durch die nationalen Gerichte anwendbar und gibt den Grundrechtsschutz vor, soweit es um die Durchführung des Unionsrechts geht.[317] Art. 49 Abs. 1 S. 3 EU-Grundrechtecharta garantiert das in Art. 15 Abs. 3 IPbpR als Menschenrecht garantierte Milderungsgebot[318] als Grundrecht. Dem Täter muss also die ihn nachträglich begünstigende Änderung der Rechtslage kraft Unionsverfassung zu Gute kommen.[319] Dadurch soll zum einen dem Gleichheitsgrundsatz und dem Schutz vor Willkür sowie dem Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung getragen werden.[320] Die Frage der Vorhersehbarkeit für den Bürger ist beim Milderungsgebot ohne Bedeutung.[321] Selbst kurze Ahndungslücken führen zur Straffreiheit von Alttaten.[322] Durch die Aufnahme dieses Gebots in die Grundrechtecharta ist das strafrechtliche Meistbegünstigungsprinzip rechtlich auf eine neue Grundlage gestellt und mit Verfassungsrang garantiert, so dass einer nachträglichen Korrektur einer Ahndungslücke nunmehr die Unionsverfassung entgegenstehen kann.[323]
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