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Unabhängig von der Diskussion um einen etwaigen Erfolgsort abstrakter Gefährdungsdelikte ergeben sich jedenfalls bei Erfolgsdelikten im Internet in der Regel Jurisdiktionskonflikte. So ist an sich auf jegliche Beleidigung in einem Forum oder in einem Kommentar eines sozialen Netzwerks das deutsche Strafrecht anwendbar, weist § 185 StGB doch wegen seines Kundgabecharakters überall dort einen Erfolgsort auf, wo die ehrverletzende Äußerung wahrgenommen werden kann.[228] Gleiches gilt für Verletzungen des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen, z.B. für die unbefugte Veröffentlichung von Nacktbildern im Internet, soweit die einzelnen Tatmodalitäten des § 201a Abs. 1 StGB als Erfolgsdelikte angesehen werden (näher → BT Bd. 4: Brian Valerius, Verletzung des Rechts am eigenen Wort und Bild, § 13 Rn. 24 f.). Zumindest in diesen Konstellationen bleibt somit der Frage nachzugehen, ob wirklich jeder Staat nur deswegen seine Strafgewalt beanspruchen kann, weil die nach seiner Rechtsordnung strafbaren Inhalte auch von seinem Territorium aus abgerufen werden können, selbst wenn sie etwa nach der Rechtsordnung des Heimatstaates des Täters legal sein sollten.[229] Am verbreitetsten dürfte insoweit ein Ansatz sein, der bei sozialschädlichen Verhaltensweisen im Internet einen besonderen territorialen Bezug zum Inland fordert, damit deutsches Strafrecht anwendbar ist, und ansonsten § 9 Abs. 1 StGB teleologisch reduzieren will.[230] Denkbar wäre des Weiteren, eine Rangfolge der einzelnen Begehungsorte zu erstellen – schließlich weisen die genannten multiterritorialen Delikte in der Regel nur einen Handlungs-, aber eine Unzahl von Erfolgsorten auf (Rn. 77) – und den Handlungsort als primären Anknüpfungspunkt für die nationale Strafgewalt heranzuziehen. Der Erfolgsstaat könnte hingegen sein Strafrecht nur dann anwenden, wenn die Tat auch am Handlungsort mit Strafe bedroht ist bzw. der Handlungsort keiner Strafgewalt unterliegt.[231] Unabhängig von solchen dogmatischen Lösungsversuchen blieben freilich internationale Vereinbarungen zu begrüßen, in denen die einzelnen Staaten selbst ihre Zuständigkeiten für Straftaten im Internet regeln und gegenseitig begrenzen.[232]
2. Grenzüberschreitende Kooperation
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Bei der Bestimmung der Reichweite der nationalen Strafgewalt kann auch die zunehmende grenzüberschreitende berufliche Zusammenarbeit Schwierigkeiten bereiten. Nicht zuletzt Forschungsvorhaben werden inzwischen häufig international betrieben und können insbesondere dann Strafbarkeitsrisiken für sämtliche Beteiligte begründen, wenn sie ein (zumeist ethisch wie auch) rechtlich in der Staatengemeinschaft umstrittenes Projekt zum Gegenstand haben. Exemplarisch kann insoweit auf die Forschung an embryonalen Stammzellen verwiesen werden, die nach derzeitigem Stand der Wissenschaft nur durch die Abtötung von Embryonen gewonnen werden können und deren Gewinnung (sowie die darauf aufbauende Forschung) demzufolge in den einzelnen Staaten äußerst unterschiedlich geregelt ist. Das Spektrum reicht von den Extremen der uneingeschränkten rechtlichen Gestattung solcher Forschungsvorhaben (z.B. in Großbritannien und in den Niederlanden) einerseits und einem völligen Verbot (z.B. in Polen und Italien) andererseits bis hin zur eingeschränkten Zulässigkeit (wie in Deutschland unter den Voraussetzungen der §§ 4 f. StZG).
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Sofern sich an solchen grenzüberschreitenden Projekten verschiedene Personen von verschiedenen Staaten aus beteiligen, sind auch die ggf. unterschiedlichen nationalen rechtlichen Regelungen einschließlich etwaiger Straftatbestände im Blick zu behalten. Da das Strafanwendungsrecht jedenfalls in Deutschland keine Kollisionsregelung enthält und das begrenzende „lex loci“-Erfordernis nur in § 7 StGB aufgenommen wurde, können sich insbesondere von Deutschland aus an dem Projekt teilnehmende Personen in der Regel nicht darauf berufen, dass ggf. in einem anderen Staat die rechtliche Zulässigkeit des Projekts außer Frage steht, selbst wenn es dort hauptsächlich betrieben wird. In diesem Fall begründet bereits die eigene Mitwirkung an dem jeweiligen Vorhaben von Deutschland aus hierzulande einen Handlungsort gemäß § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB für Täter bzw. gemäß § 9 Abs. 2 S. 1 Var. 2 StGB für Teilnehmer, so dass eine Inlandstat gegeben und somit deutsches Strafrecht unabhängig von der Rechtslage am Hauptort des Projekts anwendbar ist. Für den Teilnehmer regelt § 9 Abs. 2 S. 2 StGB sogar ausdrücklich, dass für die Teilnahme an einer Auslandstat vom Inland aus das deutsche Strafrecht gilt, auch wenn die Tat nach dem Recht des Tatorts nicht mit Strafe bedroht ist.
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Bei Auslandstaten sind vor allem bei Forschungsvorhaben zudem § 5 Nr. 12 und 13 StGB zu beachten, sofern es sich bei dem Wissenschaftler um einen Amtsträger oder für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten handelt. Dies betrifft vor allem verbeamtete Wissenschaftler an staatlichen Universitäten. Hingegen sind Forscher an privaten Hochschulen oder auch an Max-Planck-Instituten bei gleicher wissenschaftlicher Tätigkeit wegen ihrer fehlenden Verbeamtung nicht erfasst.
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Die vorstehenden Strafbarkeitsrisiken betreffen allerdings nicht nur Forscher im Inland, sondern auch Projektbeteiligte, die allein im Ausland tätig werden. Einen etwaigen Erfolgsort ebenfalls einmal nur im Ausland unterstellt, wäre auf ihre Forschungsbeiträge wegen ihres eigenen lediglich ausländischen Tätigkeitsortes das deutsche Strafrecht in der Regel an sich nicht anwendbar. Etwas anderes ergibt sich allerdings wegen der nach herrschender Meinung weitgehenden Zurechnung von Begehungsorten zwischen den einzelnen Beteiligten (Rn. 81 ff.). Sollte an einem vollständig im Ausland stattfindenden und dort rechtlich zulässigen Projekt jemand aus Deutschland als (Mit-)Täter mitwirken und hierzulande das Vorhaben strafrechtlich untersagt sein, würde den Beteiligten im Ausland der Tätigkeitsort ihres (Mit-)Täters zugerechnet werden. Für die im Ausland tätigen Forscher läge somit gleichfalls eine Inlandstat vor und wäre deutsches Strafrecht anwendbar, und zwar unabhängig davon, ob das Gesamtvorhaben im Ausland straflos ist. Ebenso würde im Ausland tätigen Teilnehmern der Tätigkeitsort des hierzulande aktiven (Mit-)Täters über § 9 Abs. 2 S. 1 Var. 1 StGB zugerechnet werden.[233] Ein solches Ergebnis erscheint durchaus fragwürdig. Schließlich besteht der einzige Anknüpfungspunkt für die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts auf die im Ausland tätigen Wissenschaftler in der Mitwirkung einer Person von Deutschland aus. Unberücksichtigt bleibt hingegen völlig, dass sie sich regelkonform mit den Vorschriften ihres Aufenthaltsstaates verhalten, in dem das Projekt maßgeblich betrieben wird.
3. „Straftatentourismus“
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Angesichts der mittlerweile alltäglichen grenzüberschreitenden Kommunikation und der gestiegenen Mobilität erscheint eine an staatliche Grenzen gebundene Hoheitsgewalt schon fast als Anachronismus. Der einzelne Staat ist nahezu machtlos und vermag selbst mit Strafvorschriften das Verhalten seiner Bevölkerung nicht zu steuern, wenn es jedem ohne Weiteres möglich ist, sich in einen insoweit liberaleren Staat zu begeben und dort die hierzulande strafbare Tat im Einklang mit der dortigen Rechtsordnung zu begehen. Beispiele für ein solches Verhalten werden bereits praktiziert und sind nicht nur rein theoretischer Natur. So werden Spätabtreibungen in den Niederlanden vorgenommen, die einen Schwangerschaftsabbruch unter bestimmten Voraussetzungen noch bis zur 22. Schwangerschaftswoche und nicht „nur“ bis zur 12. Schwangerschaftswoche wie in Deutschland zulassen.[234] Die Rede ist diesbezüglich von einem „Abtreibungstourismus“.[235] Eine ähnliche Situation ist im Bereich der Sterbehilfe im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme der Tätigkeit von Sterbehilfegesellschaften vorzufinden. Der hier praktizierte „Sterbetourismus“ dürfte nach der Einführung des zum 10. Dezember 2015 in Kraft getretenen § 217 StGB durch das Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung vom 3. Dezember 2015[236] voraussichtlich weiter zunehmen.
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Unterschiedliche (straf)rechtliche Regelungen in den einzelnen Staaten lassen sich auch bei dem Umgang mit Äußerungen nicht zuletzt in den Kommunikationsdiensten des Internets bemerken. Das Spektrum der zu bekämpfenden Inhalte reicht insoweit von ehrverletzenden Kundgaben oder sonstige Persönlichkeitsrechte des Betroffenen beeinträchtigenden Veröffentlichungen (z.B. die unbefugte Publikation von Nacktbildern) bis hin zu links- wie rechtsextremistischer Propaganda und kinderpornographischen Dateien. Aufgezeigt am Beispiel des Umgangs mit rechtsextremistischen Äußerungen sind insoweit in Deutschland anlässlich seiner leidvollen Geschichte restriktive Regelungen zu verzeichnen, welche die Auseinandersetzung mit volksverhetzenden und ähnlichen Erklärungen dem Strafrecht überlassen und nicht nur der gesellschaftlichen Diskussion überantworten wollen. Wer sich hiesigen rechtlichen Konsequenzen entziehen will, begibt sich ggf. in einen ausländischen Staat, der z.B. die Leugnung des Holocaust oder die Verbreitung von Symbolen des NS-Regimes nicht unter Strafe stellt, um von dort aus – etwa über die Kommunikationsdienste des Internets – entsprechende Inhalte auch nach Deutschland zu verbreiten.[237]
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Fraglich ist, wie ein Staat auf solche Formen des „Straftatentourismus“ mit seinen beschränkten, grundsätzlich auf das eigene Territorium bezogenen Möglichkeiten reagieren soll. Auf rein nationaler Ebene stehen dem Gesetzgeber im Wesentlichen grundsätzlich zwei gangbare Wege zur Verfügung. Zum einen ist denkbar und wird in letzter Zeit auch zunehmend praktiziert (Rn. 53), die Staatsgewalt auf bestimmte Auslandstaten auszudehnen, indem die entsprechenden Strafvorschriften in den Katalog des § 5 StGB aufgenommen werden.
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Ein anderer Weg, die nationale Strafgewalt auszudehnen, um auch im Ausland vorgenommene Handlungen zu sanktionieren, die nach der eigenen Rechtsordnung als kriminell eingestuft werden, ist die Anknüpfung an Vorbereitungshandlungen im Inland. In jüngerer Zeit wurde dieses Verfahren etwa bei der Einführung der eigenständigen Strafvorschrift der Zwangsheirat in § 237 StGB angewandt, als in dessen Abs. 2 die sog. Heiratsverschleppung unter Strafe gestellt wurde, die der an sich zu bekämpfenden erzwungenen Eheschließung vorangeht. Die Zwangsheirat als solche findet aber nicht selten im Ausland statt, so dass hierauf die nationale Strafgewalt nicht ohne weiteres erstreckt werden kann (zur Heiratsverschleppung → AT Bd. 1: Brian Valerius, Strafrecht und Interkulturalität, § 25 Rn. 64).
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Solche Entwicklungen sind nicht völlig unkritisch zu begleiten. Es gilt, die Grenzen der eigenen Staatsgewalt anzuerkennen und zu begreifen, dass der nationale Gesetzgeber allein ohnmächtig ist, um gegen die Formen des Straftatentourismus oder auch gegen Verhaltensweisen im Generellen wirkungsvoll vorzugehen, die nach hiesiger Werteordnung strafwürdig erscheinen. Hier die grundsätzlich zur Verfügung stehenden Wege wie nicht zuletzt eine Erweiterung des Katalogs des § 5 StGB überzustrapazieren, zeugt weniger von einer Lenkungsgewalt des Gesetzgebers, sondern beinhaltet eher eine Missachtung anderer staatlicher Souveräne und droht den völkerrechtlichen Nichteinmischungsgrundsatz zu verletzen. Im Ausland dürfte ein derartig einseitiges Vorgehen des Gesetzgebers auch zu Recht einen befremdlichen Eindruck ob des demonstrierten Selbstbewusstseins des Gesetzgebers hinterlassen, seine Werteordnung auch außerhalb des eigenen Territoriums mit Mitteln des Strafrechts schützen und verbreiten zu wollen.[238] Nationale Alleingänge sind somit grundsätzlich nicht empfehlenswert, wenn entsprechende Verhaltensweisen wirklich bekämpft werden sollen und nicht nur die eigene Bevölkerung durch ein vermeintlich entschlossenes Auftreten beruhigt werden soll. Vielfach werden hierfür nur diplomatische Mittel verbleiben, um für das eigene Verständnis zu werben und entsprechende völkerrechtliche bi- und multilaterale Vereinbarungen zu schließen. Dieser Weg ist zwar lang und beschwerlich und führt nicht einmal sicher zum Ziel, ist aber nationalen Alleingängen vorzuziehen.[239]
4. Strafanwendungsrecht als Kollisionsrecht?
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In anderen Rechtsgebieten ist ein weitaus größeres Bemühen zu verzeichnen, internationale Sachverhalte nach einer einzigen Rechtsordnung zu regeln. So dient vor allem das Internationale Privatrecht dem Zweck, bei privatrechtlichen Sachverhalten mit Auslandsbezug aus mehreren denkbaren einschlägigen Rechtsordnungen diejenige auszuwählen, die allein anzuwenden bleibt.[240] Bei den entsprechenden Regelungen, die in Deutschland etwa in den Art. 3 ff. EGBGB zu finden sind, handelt es sich somit um echtes Kollisionsrecht.[241] Insoweit ist allerdings zu beachten, dass im Privatrecht bereits zahlreiche unionsrechtliche und staatsvertragliche Kollisionsnormen existieren, die – wie Art. 3 EGBGB ausdrücklich festhält – vorrangig heranzuziehen sind.[242]
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Ebenso sind dem Öffentlichen Recht Regelungen nicht fremd, die Kollisionen der einzelnen Hoheitsgewalten auflösen wollen, indem bei grenzüberschreitenden Sachverhalten das Verhältnis der eigenen zu anderen staatlichen Rechtsordnungen bestimmt wird.[243] Jedoch scheint eine intensivere Diskussion über ein „internationales öffentliches Recht“ – freilich nicht verstanden als Völkerrecht, sondern als nationales Kollisionsrecht – bislang kaum geführt zu werden.[244]
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Im Strafrecht beschränken sich die nationalen Gesetzgeber im Wesentlichen gleichfalls darauf, die Reichweite der Strafgewalt auch auf grenzüberschreitende Sachverhalte einseitig zu bestimmen anstatt von vornherein Kollisionen durch entsprechende Regelungen zu vermeiden. Je weiter ein nationaler Gesetzgeber hierbei den Anwendungsbereich seiner Strafrechtsordnung im Allgemeinen zieht, desto wahrscheinlicher entstehen bei einer konkreten Tat Jurisdiktionskonflikte mit anderen Staaten. Allerdings muss ein extensives Strafanwendungsrecht nicht stets einem Bedürfnis des nationalen Gesetzgebers entspringen, sondern kann auch entsprechenden Vorgaben in völkerrechtlichen Regelungen geschuldet sein,[245] die (positive) Jurisdiktionskonflikte durch ein engmaschiges Netz nationaler Strafgewalten mehren wollen, damit gerade die Strafverfolgung von grenzüberschreitender Kriminalität gewährleistet wird.[246] Freilich ist die Ausgangslage bei Jurisdiktionskonflikten im Strafrecht gerade gegenüber dem Privatrecht zum einen insofern eine andere, als konkurrierende ausländische Regelungen ein Rechtsverhältnis widersprüchlich zu klären drohen, während bei konkurrierenden Strafgewalten in der Regel „nur“ eine Mehrfachsanktion droht, die ggf. noch auf anderem Wege vermieden werden könnte. Völlig ausgeschlossen scheint es allerdings nicht, dass widerstreitende nationale Rechtsordnungen den Normunterworfenen auch in ein Dilemma stürzen können, in dem sowohl ein aktives Tun nach der einen als auch dessen Unterlassen nach der anderen Rechtsordnung strafbar ist.[247] Zum anderen bliebe zu beachten, dass strafrechtliche Kollisionsregelungen nur die Voraussetzungen zum Gegenstand haben dürften, unter denen das eigene Recht angewendet werden kann; der unmittelbare Rückgriff nationaler Gerichte auf ausländische Strafvorschriften wird hingegen – anders als im Internationalen Privatrecht – bislang nicht diskutiert.[248]
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Eine Ursache für die bisher gezeigte Zurückhaltung gegenüber strafrechtlichen Kollisionsregelungen mag darin liegen, dass gerade die nationale Strafgewalt eines Staates als ein Ausdruck der hoheitlichen Macht angesehen wird[249] und in diesem Bereich daher nur ungern Kompetenzen abgegeben werden. Ein ähnliches Bild lässt sich bei der Diskussion um ein Europäisches Strafrecht bemerken, bei der – losgelöst von sämtlichen Bedenken an der konkreten Entwicklung und an der unzureichenden Berücksichtigung zentraler Rechtsprinzipien bei den europäischen Einflüssen auf die nationale Strafrechtsordnung – im Allgemeinen Zurückhaltung bei der Übertragung von Zuständigkeiten an den Tag gelegt wird.
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Solche durchaus nicht unberechtigten Bedenken einmal außer Acht gelassen, erweist sich im Strafrecht angesichts der wachsenden Zahl an Sachverhalten, in denen für ein und dasselbe Geschehen mehrere Staaten ihre Strafgewalt beanspruchen können, eine Abstimmung der Kompetenzbereiche indessen als zunehmend überlegenswert. Insoweit wird auch vermehrt auf das sog. Kompetenzverteilungsprinzip verwiesen, wonach die Staaten durch völkerrechtliche Vereinbarungen (insbesondere positive) Jurisdiktionskonflikte möglichst vermeiden und Doppelbestrafungen verhindern sollen.[250] Ob es sich hierbei allerdings um ein völkerrechtliches Prinzip und nicht nur um die Beschreibung eines berechtigten Anliegens und wünschenswerten Ziels handelt, erscheint fraglich. Zum einen vermag die Feststellung der fraglosen Notwendigkeit einer Konfliktlösung bei konkurrierenden Strafgewalten nicht die Diskussion um die hierfür erforderlichen Abgrenzungskriterien zu ersetzen.[251] Diese Kriterien dürfen zudem den völkerrechtlichen Charakter des Strafanwendungsrechts nicht außer Acht lassen.[252] Bereits geschlossene völkerrechtliche Verträge als Quelle heranzuziehen, drohte zum anderen bloße Zweckmäßigkeitsüberlegungen, auf denen Kompetenzabgrenzungen in den getroffenen Vereinbarungen beruhen, zu einem originären Prinzip zu überhöhen.[253]
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In nach wie vor häufiger Ermangelung völkerrechtlicher Vereinbarungen[254] erscheint auch eine Rangfolge der Anknüpfungspunkte für die nationalen Strafgewalten diskussionswürdig. So schlägt Ambos – grob skizziert[255] – vor, grundsätzlich dem Territorialitätsprinzip den generellen Vorrang einzuräumen, wobei die Anknüpfung an den Handlungsort gegenüber dem Erfolgsort vorgehe.[256] Gleichrangig sei aber grundsätzlich das Realprinzip einzustufen, während subsidiär in absteigender Reihenfolge das aktive Personalitätsprinzip, das passive Personalitätsprinzip und schließlich allenfalls ergänzend der Grundsatz stellvertretender Strafrechtspflege einzuordnen seien.[257] Das Weltrechtsprinzip sei gegenüber Territorialitäts- und Personalitätsprinzipien subsidiär, wenn der Territorialstaat zur Strafverfolgung willens und fähig sei.[258] Nicht von der Hand zu weisen sind freilich Bedenken im Hinblick auf die Relativität und die Interdependenz der einzelnen Anknüpfungspunkte. Es erscheint daher bei jedem Versuch einer Hierarchisierung der völkerrechtlichen Prinzipien zum Strafanwendungsrecht fraglich, ob ihm mehr als lediglich ein Programmcharakter zukommt.[259]
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Sollte es nicht zu einer Abstimmung der nationalen Strafgewalten kommen, wäre es zumindest wünschenswert, eine mehrfache Strafverfolgung in verschiedenen Staaten wegen ein und derselben Tat zu verhindern. Allerdings ist im zwischenstaatlichen Rechtsverkehr der „ne bis in idem“-Grundsatz nicht anerkannt,[260] wenngleich immerhin erste Regelungen (z.B. in Art. 54 SDÜ sowie in Art. 50 EuGrCh)[261] existieren. Auch Art. 103 Abs. 3 GG kann insoweit kein Verbot einer Mehrfachbestrafung entnommen werden, da die Norm nur für Entscheidungen deutscher Gerichte gilt.[262] In Deutschland wird lediglich eine im Ausland verhängte und vollstreckte Strafe gemäß § 51 Abs. 3 S. 1 StGB auf die von einem inländischen Gericht ausgesprochene Strafe angerechnet.[263] Außerdem steht der Staatsanwaltschaft gemäß § 153c Abs. 2 StPO die verfahrensrechtliche Möglichkeit offen, von der Verfolgung einer Tat unter bestimmten Umständen abzusehen (Rn. 122).
7. Abschnitt: Geltungsbereich des Strafrechts › § 31 Räumlicher Geltungsbereich › D. Rechtsvergleich
I. Das Strafanwendungsrecht in Österreich
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Das österreichische Strafanwendungsrecht in den §§ 62 ff. öStGB ist mit seiner deutschen Entsprechung in den §§ 3 ff. StGB weitgehend vergleichbar. Gemeinsam ist beiden Regelungskomplexen zunächst, dass es sich hierbei jeweils nicht um Kollisionsrecht handelt.[264] Außerdem werden die gleichen völkerrechtlichen Prinzipien bemüht, um die Reichweite der nationalen Strafgewalt zu bestimmen und bei Sachverhalten mit Auslandsberührung den notwendigen legitimierenden Anknüpfungspunkt zu bezeichnen.[265] Wiederum wird schließlich die inländische Gerichtsbarkeit als objektive Bedingung der Strafbarkeit angesehen.[266]
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Das primäre völkerrechtliche Prinzip stellt auch im österreichischen Strafanwendungsrecht das Territorialitätsprinzip dar (§ 62 öStGB), das – wie in Deutschland – durch das Flaggenprinzip (§ 63 öStGB) ergänzt wird. Weitere völkerrechtliche Prinzipien, namentlich das Realprinzip (siehe z.B. § 64 Abs. 1 Z. 1 und 3 öStGB), das aktive (§ 64 Abs. 1 Z. 2a, Z. 4a, Z. 4b, Z. 9 und Z. 10 öStGB) wie passive Personalitätsprinzip (§ 64 Abs. 1 Z. 4a lit. a und Z. 7 öStGB), das Weltrechtsprinzip (§ 64 Abs. 1 Z. 1, Z. 5 und 6) sowie das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege (§ 64 Z. 5 lit. d, Z. 9 lit. f und Z. 10, § 65 Abs. 1 Z. 2 öStGB) werden in § 64 und § 65 öStGB aufgegriffen. Diese Vorschriften unterscheiden sich dadurch, dass § 64 öStGB anders als § 65 öStGB keine Strafbarkeit nach dem Recht des Tatorts voraussetzt. Im Groben lassen sich diese Regelungen und die darin zum Ausdruck kommenden Prinzipien mit den §§ 5, 6 StGB einerseits und mit § 7 StGB andererseits vergleichen. Stets setzt die Anwendbarkeit des nationalen Strafrechts – ebenso wie nach deutscher Rechtslage – zudem voraus, dass der jeweilige Straftatbestand nicht allein innerstaatliche Interessen schützt, was sich im Wege seiner Auslegung ergibt.[267]
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Ähnlich wie in § 5 StGB werden auch in § 64 öStGB die einzelnen völkerrechtlichen Prinzipien mitunter scheinbar nach Belieben kombiniert.[268] Insoweit darf vor allem auf § 64 Abs. 1 Z. 7 öStGB verwiesen werden, der sämtliche Auslandstaten eines Österreichers gegenüber einem Österreicher, sofern beide zum Zeitpunkt der Tat ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hatten, der inländischen Gerichtsbarkeit unterwirft und somit eine Kombination aus passivem und aktivem Personalitätsprinzip wie Wohnsitz- und Domizilprinzip darstellt.[269] Generell lässt sich bei § 64 öStGB ein andauernder Wandel und eine stete Erweiterung beobachten, der internationalen Verpflichtungen Österreichs und deren Umsetzung geschuldet ist; hiermit gehen allerdings ein zunehmender Mangel an Systematisierung der Vorschrift und sich überschneidende Anwendungsbereiche einzelner Ziffern einher.[270]
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Sofern eine Auslandstat nicht von §§ 63, 64 öStGB erfasst ist, kommt – subsidiär[271] – eine Anwendung des österreichischen Strafrechts noch nach § 65 öStGB in Betracht. Während dessen Abs. 1 Z. 1 an die österreichische Staatsbürgerschaft des Täters anknüpft und sich daher auch als Ausprägung des aktiven Personalitätsprinzips begreifen lässt, liegt Abs. 1 Z. 2 das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege zugrunde.[272] Das passive Personalitätsprinzip greift § 65 öStGB – anders als § 7 Abs. 1 StGB – nicht auf. § 65 Abs. 1 öStGB setzt eine Strafbarkeit auch nach dem Recht des Tatorts voraus, d.h. die Tat muss im Ausland strafbar sein, ohne dass Rechtfertigungs-, Entschuldigungs-, Strafausschließungs- oder Strafaufhebungsgründe eingreifen.[273] Eine Ausnahme von diesem Prinzip der „identen Norm“[274] gilt gemäß § 65 Abs. 3 öStGB, wenn an dem Tatort keine Strafgewalt besteht; dann genügt allein die Strafbarkeit der Tat nach österreichischem Recht.
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