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Statt zu antworten, zieht Schmidt sich die weißen Plastikhandschuhe aus und reicht sie dem verdatterten Borgfeld.
»Exakte Aussagen sind zu diesem Zeitpunkt nicht möglich. Das wissen Sie doch. Der Mann hat Dreck an den Hosenbeinen. Den muss man untersuchen. Ich lasse die Kleidung ins Labor schicken. Er könnte hier getötet worden sein oder auch nicht. Fifty, fifty.« Ein bellendes Lachen folgt. »Fest steht zumindest, dass er ermordet wurde. Die Druckstellen am Hals sind eindeutig und der Golfball im Rachen spricht Bände.«
Schmidt wirft einen Blick auf seine Uhr. Er sollte sich sputen, sonst schafft er es nicht mehr pünktlich bis in die Innenstadt.
»Der Todeszeitpunkt …«, Schmidt zögert kurz, »damit will und kann ich mich nicht festlegen.«
Während er redet, fingert er einen schwarzen Kamm aus der Innentasche seiner Anzugjacke und zieht seinen Seitenscheitel nach.
»Gehen Sie davon aus, dass der Mann seit mindestens acht Stunden tot ist, eher mehr.« Er steckt den Kamm wieder ein.
»Genaueres später.«
|41|»Wann?« Borgfeld packt die benutzten Handschuhe von der linken in die rechte Hand und sucht mit den Augen nach einem Mülleimer.
»Schau’n wir mal. Ich habe jetzt einen wirklich dringenden Termin, danach mache ich mich sofort an die Untersuchung. Versprochen.«
10
Georg Goldmann ist neben den akkurat geschnittenen Buchsbaumkugeln vor dem Clubhaus stehen geblieben. Mit ernstem Gesicht verfolgt er das Geschehen jenseits der rotweißen Flatterbänder. Polizisten in Uniformen machen Notizen und fotografieren, Männer in weißen Overalls kriechen um das Gebüsch herum und untersuchen jeden Grashalm.
»Hallo, Sie da.« Borgfeld winkt Goldmann zu sich heran. »Sie können jetzt einen Blick auf den Toten werfen, bevor er weggebracht wird.«
Goldmann duckt sich mit steifem Rücken unter dem Absperrband durch und folgt Borgfeld zu der Leiche, die versteckt hinter den Leuten von der Spurensicherung liegt. Als die Kollegen in den hellen Schutzanzügen zur Seite treten, geben sie den Blick auf die Bank frei. Sie ist leer. Goldmanns Blick wandert tiefer. Auf dem Boden liegt eine dunkle Plastikfolie, darauf der Leichnam, bedeckt mit einem weißen Tuch. Nur der Kopf und die nackten Füße schauen an den Stoffenden hervor.
Goldmann tritt näher heran. Er mustert das aufgedunsene |42|Gesicht des Toten und wird eine Spur blasser. Diese Reaktion entgeht Borgfeld nicht.
»Kennen Sie ihn?«
Goldmann starrt den Toten an, ohne ein Wort zu sagen.
»Ist er Mitglied in Ihrem Verein?«
»Gott bewahre«, entfährt es Goldmann.
»Aber Sie kennen ihn?«
»Flüchtig.«
»Wer ist es?«
»… Henry Broderich.« Goldmanns Stimme klingt verhalten.
»Was wissen Sie über ihn?« Borgfeld lässt Goldmann nicht aus den Augen. Weder das Händezittern entgeht ihm, noch die plötzlichen roten Flecken, die auf Goldmanns Wangen blühen wie Mittagsblumen in der Sonne.
»Broderich ist Journalist. Er …« Neuerliches Zögern auf Goldmanns Seite, noch mehr Flecken auf der Wange. Dann folgt minutenlanges Schweigen.
»Woher kannten Sie ihn?«
Goldmann starrt auf den Boden und rührt sich nicht.
»Herr Goldmann, bitte, ich habe Sie was gefragt.«
Borgfelds Worte scheinen nicht zu Goldmann durchzudringen. Kein Muskel bewegt sich in seinem Gesicht, nicht einmal die fleischigen Hängebacken verziehen sich.
»Noch einmal: Woher kannten Sie Henry Broderich?«
Borgfelds Stimme wechselt von freundlich zu bestimmt. Er würde diesen Mann am liebsten schütteln, um eine Antwort zu bekommen. Der weiß mehr, als er zugibt, so viel steht für ihn fest.
Als wenn Goldmann Borgfelds Gedanken gehört hätte, |43|hebt er endlich den Kopf und murmelt: »Er hat mich interviewt.«
»Das ist doch ein Anfang.« Borgfelds Körper spannt sich. Ein Interview kann eine sehr persönliche Angelegenheit sein. Zwei Menschen sitzen zusammen und reden. Einer stellt Fragen, der andere antwortet. Dabei bekommt man nicht nur einen Eindruck von dem anderen, man erfährt auch etwas über ihn. Aber deshalb bringt man den anderen nicht gleich um.
Als wenn dieser Gedanke eine Tür in seinem Kopf aufstoßen würde, erinnert Borgfeld sich plötzlich an etwas. Im letzten Monat hat sein Vetter Gerrit auf der Geburtstagsfeier seiner Mutter etwas vom Golfclub erzählt. Was ist das bloß gewesen?
Es hatte etwas mit Grundstücken zu tun. Das weiß er genau – und mit der Erweiterung des Golfplatzes um irgendwelche Löcher.
»Die wollen mehr Löcher … was auch immer das heißt«, hatte Gerrit gesagt. Dann hatte er noch davon geredet, dass es deshalb Stunk im Gemeinderat gibt. Großen Stunk. Weiter war Gerrit jedoch nicht gekommen, dann hatte seine Mutter alle zur Kaffeetafel gerufen.
Stunk im Gemeinderat. Was Gerrit wohl damit gemeint hat? Borgfeld weiß, dass es bei der Genehmigung des Golfclubs vor etlichen Jahren Ärger gegeben hat. Vielleicht hing das Interview damit zusammen. Er sollte Gerrit anrufen, der würde ihm alles haarklein erzählen, schließlich sitzt er als Hausmeister im Rathaus direkt an der Quelle.
Genauso plötzlich wie sich Borgfeld an das Gespräch mit Gerrit erinnert hat, ist er sich plötzlich sicher, dass Goldmann |44|mehr über Broderich weiß, als er zugibt. Borgfeld kann nicht sagen warum, er hat nur so ein Gefühl – aber für jemanden, dessen Leidenschaft das Führen von Listen und Tabellen ist, sind solche Gefühlsanwandlungen selten. Gerade deshalb nimmt er sie ernst. Besser, er führt dieses Gespräch nicht allein. Borgfeld macht Streuwald mit den Augen Zeichen, dass er kommen soll. Sein Kollege erwidert das Augenzwinkern, mehr nicht. Möglichst unauffällig bewegt Borgfeld daraufhin seinen rechten Zeigefinger und winkt Streuwald zu sich heran. Der nimmt zwar die Handbewegung seines Kollegen wahr, rührt sich aber trotzdem keinen Zentimeter von der Stelle.
»Er hat Sie also interviewt«, brummt Borgfeld und flucht innerlich: Herr Gott, wann begreift Streuwald endlich, dass er seinen Arsch in Bewegung setzen soll?
»Sagte ich doch schon.« Goldmann wirft Borgfeld einen genervten Blick zu.
»Und worum ging es in diesem Interview?« Borgfeld winkt noch heftiger nach Streuwald. Der versteht endlich und kommt zu ihnen herüber. Schleicht herüber. Mein Gott, flucht Borgfeld. Beim Gehen könnte man dem glatt die Schuhe besohlen.
»Das ist übrigens mein Kollege, Kommissar Streuwald«, stellt Borgfeld ihn vor, als er endlich neben ihnen steht. »Und das ist Herr Goldmann, der Präsident dieses Vereins. Herr Goldmann, können Sie noch einmal wiederholen, was Sie mir gerade erzählt haben?«
Goldmann kneift die Augen zusammen, sagt aber keinen Ton.
»Herr Goldmann, Sie sagten, dass Sie den Toten kennen |45|und von ihm interviewt wurden. Was sagten Sie, war das Thema des Interviews?«
»Ich habe gar nichts gesagt.«
»Und was war dann das Thema?«, hakt Borgfeld ungeduldig nach.
»Es gab viele Fragen, über die wir gesprochen haben.«
»Können Sie uns das ein bisschen genauer sagen?«
»Wir sprachen über Neuwarmbüchen, über Isernhagen, über den Gemeinderat, den Golfplatz, Golf überhaupt.« Goldmann wirkt angespannt, die Mittagsblumen auf seinem Gesicht sind wieder zur Stelle.
»Gemeinderat, Golf überhaupt.« Borgfeld zieht zweifelnd die Augenbrauen hoch. »Sind Sie sicher, dass Sie nur so ganz allgemein mit Herrn Broderich gesprochen haben?«
»Ja, ganz allgemein.«
»Nichts Spezielles?«
»Nein, nichts Spezielles.«
»Sicher?«
»Ja, sicher.« Goldmann überlegt, dann setzt er hinzu: »Eins der Themen war die Golfplatzerweiterung. Aber das ist ja nun wirklich nichts Spezielles.«
Das ist das Stichwort, auf das Borgfeld gewartet hat, wie der Skatspieler auf das Re zum Contra.
»Gab es wegen dieser Erweiterung nicht …«, seine Augen blinzeln ungewohnt kämpferisch, »… Ärger?«
»Ärger – wie sich das anhört«, empört sich Goldmann.
»Sagen wir, die Erweiterung des Golfplatzes ist umstritten.« Stunk im Gemeinderat. Gerrit weiß bei solchen Sachen mehr, als in der Zeitung steht, da ist sich Borgfeld sicher.
Goldmanns Augen verengen sich. »Umstritten stimmt |46|nicht.« Er blinzelt Borgfeld böse an und setzt vehement hinzu: »Überhaupt nicht.«
»Aber nicht alle sind von der geplanten Erweiterung des Golfplatzes begeistert.« Borgfeld zwinkert Streuwald zu. Ein Ausdruck des Triumphes liegt jetzt auf seinem Gesicht. »Stimmt’s?«
»Irgendwelche Querulanten gibt es immer.«
»Wie meinen Sie das?«, schaltet sich Streuwald ein.
Überrascht dreht sich Goldmann zu ihm um, wie zu der Stimme aus dem Off.
»Wenn man etwas tut, gibt es immer jemanden, dem das nicht passt. Ein Landwirt hier, ein Anwohner da. Der eine gönnt dem anderen den Verkauf des Ackers nicht und der Nächste wiederum hat Angst, dass mehr Autos als vorher an seinem Haus vorbeifahren könnten.« Goldmann knetet nervös seine Finger. »Heute gibt es immer irgendeinen, der gegen etwas ist. Gucken Sie in die Zeitung, die ist jeden Tag voll davon. Ob beim Stuttgarter Bahnhof, dem Tierversuchslabor in Kirchrode oder unserem Golfplatz. Manche Leute sind gegen alles, was sich vor der eigenen Haustür abspielt.«
»Für welche Zeitung hat Broderich eigentlich das Interview gemacht? Für den Hannoverschen Anzeiger oder für den Marktspiegel?«, übergeht Streuwald Goldmanns Allgemeinplätze.
»Das Interview war für ein Onlineforum. Broderich betreibt einige solcher Foren. Burgdorf-online, Isernhagen-online. Für jeden Ort ein eigenes. Er gestaltet die Seiten, stellt Themen vor, sammelt Beiträge, moderiert und kommentiert.«
»Wann war das mit dem Interview genau?«, nimmt Borgfeld den Ball wieder auf.
|47|Goldmann dreht den Kopf wieder zu Borgfeld.
»Das erste vor einem halben Jahr, das zweite vor einem Monat«, er zögert kurz, »und das dritte letzte Woche.«
11
Beckmann fährt seinen Laptop hoch, lädt die Daten vom Stick herunter und ruft sie auf. Auf dem Bildschirm flattert die Liste der Webadressen auf, die er sich ansehen will. Seit er beim Polizeilichen Staatsschutz arbeitet, verbringt er viel Zeit damit, Internetseiten zu durchforsten, die im Zusammenhang mit der rechten Szene in Niedersachsen stehen. Sein besonderes Augenmerk gilt Freiherrn zu Wörstein, der vor einigen Jahren die Gruppe »Aufrechte Deutsche« gegründet hat. Für das Internet hat er eine besondere Vorliebe. Ob facebook, SchülerVZ oder youtube: Wörstein nutzt die neuen Medien.
Bevor die von der Polizeigewerkschaft geforderten Cyber-Cops tatsächlich zum Einsatz kommen und es einen Internetminister gibt, hat das Innenministerium in Hannover vor zwei Monaten eine Arbeitsgruppe gebildet, bestehend aus Frank Rischmüller und Max Beckmann.
»Das Internet ist der größte Tatort der Welt – also gucken Sie mal, was da so los ist, die Presse stichelt schon, dass wir die Zeit verschlafen«, hatte der Staatssekretär ihm mit auf den Weg gegeben.
Beckmann tippt Wir für Niedersachsen in die Suchmaschine. 18426 Einträge liegen vor.
Eine Stunde später ist er schlauer. Der Internetauftritt der Gruppe Wir für Niedersachsen hat auf den ersten Blick nichts |48|mit den ihm bekannten Seiten aus der rechten Szene zu tun. Alles wirkt sehr korrekt, fast bieder, wie auf einer Plattform für Heimatverbundene. Beckmann scrollt weiter auf der Suche nach dem Impressum. Endlich findet er es: FzW. Freiherr zu Wörstein. Also doch. Wo dieser Name auftaucht, ist man mitten in der rechten Szene. Erst letzte Woche hat Beckmann ihn im Regionalfernsehen gesehen. Wörstein stellte in dem Interview klar, dass er nicht im Geringsten daran denke, den Kaufvertrag für den alten Gebäudekomplex rückgängig zu machen, den er für einen Mandanten mit der Region Hannover abgeschlossen hat.
»Wir haben einen rechtsgültigen Vertrag und es besteht von uns aus kein Handlungsbedarf, geschweige denn ein Grund, vom Vertrag zurückzutreten.«
Wörstein, wie immer im grauen Zweireiher, groß, schlank, blond, hatte bei diesen Worten arrogant in die Kamera gegrinst. Seine spitze Nase wurde dabei noch spitzer, sein Mund öffnete sich leicht und gab ein kräftiges Gebiss frei. Beckmann juckte es beim Anblick dieser selbstherrlichen Visage in den Fingern. Als Anwalt hat Wörstein sich mit seinen knapp 45 Jahren den Ruf als »bester Prozessverschlepper Niedersachsens« erworben. Jeder Richter bekommt Magendrücken, wenn er es mit dem Freiherrn zu tun hat. Geschickt vermeidet Wörstein fremdenfeindliche Ausdrücke. Das überlässt er anderen, vornehmlich Jüngeren, um deren Rekrutierung er sich intensiv bemüht. Deshalb lässt er vor den Schulen CDs verteilen, kann man auf den Seiten seiner Partei kostenlos Musik herunterladen – und genau deshalb braucht er ein Schulungs- und Veranstaltungszentrum.
Beckmann liest noch einmal die Einträge, die ein Loblied |49|auf die Kameradschaft singen. Gewalttaten aus der linken autonomen Szene werden angeprangert, fehlende Chancen für junge Deutsche beklagt. Kein Hinweis auf die »Aufrechten Deutschen«. Geschickt gemacht.
Im Impressum entdeckt Beckmann eine Abkürzung. HB. Er gibt die Buchstaben als Suchbegriff ein und landet bei Autokennzeichen, dem HB-Männchen und dem Hofbräuhaus in München. Er erweitert die Suche mit dem Begriff Werbung. Die genannten Agenturen sagen ihm nichts. Er ergänzt das Wort Internet. Zahlreiche Internetforen von kleinen Städten und Gemeinden werden angezeigt. HB. Henry Broderich. Darauf muss er am Montag Rischmüller ansetzen. Vielleicht findet der etwas heraus.
12
Der Golfclub Isernhagen liegt eingebettet in die weitläufigen Ländereien des ehemaligen Ritterguts Lohne. Von der Rückseite betrachtet, wirkt das Clubhaus wie ein einladender Landsitz. Im Winter geben große Panoramafenster den Blick auf die 18. Bahn frei, im Sommer laden bequeme Korbmöbel zum Verweilen auf der Terrasse ein.
Martha, Trixi und Roswitha haben nach dem ersten Schrecken dort Platz genommen. Schweigend warten sie im Schatten der Markise darauf, ihre Aussagen machen zu können. Eine Kellnerin mit knöchellanger schwarzer Schürze verteilt Speisekarten auf den Tischen.
»Guten Morgen, die Damen. Haben Sie den Schreck verdaut?«
|50|Ein träger Wimpernschlag ist Marthas Antwort. Trixi versucht sich in einem müden Lächeln.
»Wie man’s nimmt«, ächzt Roswitha.
Martha reicht der Kellnerin einen Zettel, auf dem sie die Bestellung – drei Cappuccino – und den Namen Landeck mit Bleistift notiert hat.
»Kommt gleich.« Die junge Frau steckt die Bestellung in die Schürzentasche und geht weiter zu dem einzigen Tisch, der außerdem noch belegt ist, und verteilt auch dort die Speisekarten.
»Darf es noch etwas sein?«
Professor Dreyer schüttelt den Kopf und nippt wortlos an seinem Mineralwasser. Er hebt den Kopf und blickt in Marthas Richtung. Dann quält er sich ein Lächeln ab »Tut mir leid, dass ich vorhin etwas barsch war«, bemüht er sich um einen versöhnlichen Ton. »Sie hätten aber auch etwas eher sagen können, dass dort ein Toter liegt. Wer soll denn so etwas wissen?«
»Ist schon gut«, erwidert Martha. Sie fühlt sich leer und ausgepumpt. Das Bild des Toten hat sich auf ihrer Netzhaut eingebrannt und immer wieder kreisen Fragen in ihrem Kopf herum. Warum sitzt ein Toter auf der Bank hinter dem Caddyhaus? Ein tiefer Seufzer entweicht ihr. Das geht sie nichts an.
Die Polizei ist da und wird sich darum kümmern. Es ist die Sache von Streuwald, Borgfeld und Kollegen, Antworten auf diese Frage zu finden. Nein, verspricht sie sich, sie wird sich nicht wieder in Mordermittlungen der Polizei einmischen. Nie wieder. Das ist deren Job. Sie berichtet nur in der Zeitung darüber und ansonsten versucht sie, Ruhe in ihr |51|Leben zu bekommen, das seit Jahren aus den Fugen geraten zu sein scheint.
Martha lässt ihren Blick schweifen. Nicht nur auf der Terrasse, auch auf dem Golfplatz ist im Gegensatz zu sonst alles ruhig. Kein Mensch ist auf den Bahnen zu sehen. Die Fahne von Loch achtzehn hängt schlaff herunter. Der gepflegte Rasen des Grüns strahlt im Licht der Sonne; rechts, am Rand des Fairways gibt es bereits die ersten trockenen Stellen. Die gelassene Ruhe des Golfplatzes ist genau das, was sie braucht, um wieder zur Tagesordnung übergehen zu können.
Roswitha folgt Marthas Kopfbewegung.
»Totentanz auf dem Platz«, wispert sie ihr über den Tisch hinweg zu.
Entsetzt sehen sich Trixi und Martha an. Keine kann über Roswithas Kommentar lachen. Im Gegenteil, der Satz schwebt wie eine Drohung über ihren Köpfen und lähmt jede Bewegung. Martha hat nicht einmal die Kraft, ihren Cappuccino zu trinken. Gedankenverloren fixiert sie den zusammensinkenden Milchschaum, als Trixi endlich das Schweigen bricht.
»Diese Augen … so … weit aufgerissen und …« Trixis Oberkörper bebt und sie fängt hemmungslos an zu weinen. »Wenn mein Bag nicht umgefallen wäre …«
Sie schluchzt erneut. »Die Bälle rollten überall hin. Bis vor seine Füße.«
»Ob du die je wiederbekommst?«
Schlagartig gewinnt Trixi ihre Fassung zurück und sieht Roswitha entgeistert an.
»Wie bist du denn drauf?«
»Wieso?« Roswitha schiebt sich die Haarsträhne hinters |52|Ohr. »Man kann doch mal fragen. Schließlich waren die nagelneu – und alles Titlists.«
In diesem Moment kommt Streuwald auf die drei zu.
»Meine Damen, können Sie bitte zu uns kommen. Wir sitzen im Raum neben dem Sekretariat und brauchen noch genauere Angaben von Ihnen.«
13
Alexander Borgfeld starrt seit zwei Stunden auf seinen Computer. Er wechselt von farmville zurück zur Startseite von facebook. Der Bildschirm flackert, dann steht die neue Seite klar vor ihm. Zufrieden reibt er sich die Hände. Der Aufruf zur Mahnwache hat schon 32 Kommentare hervorgerufen. Gerade kommt der 33. Alle sind sich einig: Der friedliche Protest ist eine gute Idee.
Ali schiebt die langen blonden Haare zurück, die ihm in die picklige Stirn fallen, und klickt wieder auf farmville. Seine Bohnen sind reif und er beginnt mit der Ernte. Als Sonja sein Zimmer betritt, zuckt er zusammen und wechselt die Seite.
»Die Bilder sind eingebaut. Hier, willst du sehen?«
Sonja liest sich den Text durch und betrachtet die Fotos.
»Prima gemacht, kleiner Bruder. Das wird schon. Gib zur Sicherheit den Aufruf zur Mahnwache noch einmal ein: Morgen, 15:00 Uhr an der Zufahrt zum Landschulheim. Dabeisein ist alles. Oder so ähnlich.«
»Was ist mit Felix, soll ich ihm den Text und die eingearbeiteten Bilder nicht vorher zeigen? Der hat doch schließlich |53|die Fotos besorgt. Ohne die hätten wir damit gar nicht anzufangen brauchen.«
Sonja schüttelt den Kopf. »Geht nicht. Felix ist noch einmal draußen und sondiert das Gelände. Er versucht, dichter an die heranzukommen. Er hat mich vorhin angerufen, dort ist alles ganz ruhig.«
»Ich denke, da soll keiner allein hin?«
»Hab ich ihm auch gesagt, aber Felix ist nicht zu bremsen.« Ein bewunderndes Lächeln umspielt Sonjas Mund.
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»Der Tote heißt Henry Broderich?« Trixi steht die Überraschung ins Gesicht geschrieben. »Der Henry Broderich?«
»Kennen Sie ihn?« Streuwald ist überrascht. Broderich scheint ja wirklich ein bekannter Mann zu sein.
»Kennen ist übertrieben.« Trixi zögert. »Ich wundere mich, dass ich ihn vorhin nicht erkannt habe – aber wahrscheinlich habe ich nicht genau genug hingesehen. Dieser offene Mund und die Augen.« Trixi schüttelt sich in Erinnerung an den Anblick.
»Was können Sie uns über Broderich sagen?« Kommissar Streuwald kennt Trixi Wacker seit Jahren. Wenn jemand in dieser Kleinstadt etwas über das Mordopfer weiß, dann ist sie es. Und wenn jemand etwas über Männer im heiratsfähigen Alter weiß, dann ist sie es erst recht.
Trixi muss nicht lange überlegen. »Broderich hat lange vor meiner Zeit ein Volontariat beim Burgdorfer Tageblatt gemacht. Dann ist er nach Hamburg gegangen. Irgendwann |54|ist ein Artikel von ihm im Focus erschienen, später einer im Spiegel. Er wurde zwar nirgends angestellt, nannte sich aber von da ab »freischaffender Journalist«. Mittlerweile ist er spezialisiert auf Onlineplattformen für die mittelgroßen Orte der Region.«
»Ach, der Typ ist das.« Auch bei Martha fällt der Groschen.
15
»Ausgeschlafen, mein Lieber?«
»Ich bitte Sie, Freiherr zu Wörstein. Nur der frühe Vogel fängt den Wurm. Was gibt es Neues? Geben diese gottverdammten Politiker und ewig gestrigen Gutmenschen endlich klein bei oder wollen die wieder ihr demokratisches Schmierentheater aufführen?«
»Alles geregelt. Die Verträge sind wasserdicht. Kaum vorstellbar, dass diese Bedenkenträger vor Gericht ziehen. Dazu haben die viel zu viel Schiss vor mir.«
»Das höre ich gerne. Es ist wirklich immer Verlass auf Sie. Das gefällt mir. Weiter so. Was macht das andere leidige Thema?«
»Das Material ist gesichert. Vollständig. Ich bin heute leider unabkömmlich, wir erwarten ein paar Neuzugänge für die erste Schulung. Wenn Sie Zeit haben, könnten Sie vorbeikommen und es abholen. Vielleicht möchten Sie Ihr neues Anwesen ja auch einmal in belebtem Zustand sehen. Die Jungs haben recht ordentlich gearbeitet.«
»Gute Idee. Ich bestelle den Fahrer. Rechnen Sie gegen 12:00 Uhr mit mir.«
|55|»Bestens, dann nehmen wir zusammen ein Gabelfrühstück ein.«
16
Als Martha, Trixi und Roswitha zurück auf die Terrasse kommen, ist ein weiterer Tisch besetzt. Uwe Zwingel sitzt neben dem Präsidenten des Golfclubs. Goldmann wirkt nervös; dass er schon am Vormittag ein Glas Wein trinkt, irritiert Martha, andererseits kennt sie ihn nicht besonders gut. Sie hat ihn nur einmal außerhalb des Golfclubs gesehen. Das war beim letzten Fest ihrer Zeitung in der alten, mittlerweile für Feierlichkeiten und Ausstellungen zweckentfremdeten Rotation. Damals stand Goldmann lange mit ihrem Chefredakteur zusammen und redete auf ihn ein. Genau wie jetzt auf Zwingel.
»… hinter dem Caddyhaus …«, dringt es zu Marthas Tisch herüber.
Natürlich, die beiden reden über den Toten. Und wahrscheinlich nicht nur die, geht es Martha durch den Kopf. Der Tote wird bei allen Clubmitgliedern heute wahrscheinlich Gesprächsthema Nummer eins sein.
»Dieses Schwein hat es verdient …« Kaum hat Goldmann die Worte gezischt, senkt er seine Stimme und redet leise weiter.
Marthas Neugierde ist jedoch geweckt. Sie spitzt die Ohren, aber versteht nichts mehr. Stattdessen beobachtet sie, wie Goldmann aufgeregt auf Zwingel einredet. Etwas muss ihn aufgebracht haben. Der Tote? Seine hektischen Bewegungen |56|sprechen Bände, die roten Flecken auf den Wangen erst recht. Martha stupst Trixi an.
»Hast du eine Ahnung, was Goldmann gegen unseren Toten hat?«
Achselzuckend dreht sich Trixi zu den beiden um. Goldmann und Zwingel stecken die Köpfe dicht zusammen und reden so leise, dass man kein Wort mehr versteht.
»Nee, ich hab keinen Schimmer, was Goldmann mit Broderich zu tun hat. Vielleicht meinte der mit Schwein auch was ganz anderes. Letztes Jahr gab es doch die vielen Wildschweine hinten auf dem Platz. Hat der Zwingel uns doch letzte Woche beim Training erzählt.«
»Ich weiß nicht«, zweifelt Martha. Dieses Verhalten passt nicht zu Goldmann. Der Präsident des Isernhagener Golfclubs ist stets auf einen perfekten Eindruck nach außen bedacht. Laute Flüche passen nicht dazu. »Was weißt du eigentlich über unseren Präsidenten?«
Trixi legt, ohne zu zögern, los: »Kennst du den GM-Baumarkt im Gewerbegebiet von Altwarmbüchen? Goldmann-Baumarkt. Der gehört ihm. Er ist einer der großen Arbeitgeber hier in der Region. Ihm gehören auch noch Baumärkte in Burgdorf, Altwarmbüchen, Lehrte und Celle. Alle laufen schon in zweiter Generation bestens.« Trixi streicht sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Er gehört übrigens zu den Gründungsmitgliedern dieses Golfclubs. Das muss so etwa dreißig Jahre her sein.«






