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»Der Baumarkt in Celle ist ganz in der Nähe vom Stadtarchiv. Das war der Erste. Goldmanns Vater hat ihn kurz nach dem Krieg aufgebaut. Damals hieß das noch Baustoffhandel. |57|Wenn ihr die genaue Jahreszahl braucht, kann ich sie euch besorgen.«
»Du kennst dich mit Baumärkten aus?« Trixi verschluckt sich fast an ihrem Cappuccino und starrt Roswitha überrascht an.
»Tja, man lernt nie aus«, kichert Roswitha, die endgültig zu ihrer heiteren Grundstimmung zurückgefunden hat. Den GM-Baumarkt in Celle kennt sie, weil er auf dem Fundament der ehemaligen Molkerei gebaut wurde. Roswitha, genauer gesagt die Historikerin Doktor Roswitha Neumann, arbeitet seit einem Jahr an einer Dokumentation über die Zerstörung der Celler Innenstadt während des Zweiten Weltkrieges.
»Und was macht Goldmann privat?« Martha wirft Trixi einen erwartungsvollen Blick zu. Bei solchen Fragen kann sie sich in der Regel auf ihre Kollegin verlassen – und tatsächlich, wie aus der Pistole geschossen, kommt die Antwort.
»Er ist in dritter Ehe verheiratet und hat vier Kinder. Er wohnt in Isernhagen in einem umgebauten Fachwerkhaus hinter der Kirche.«
Roswitha gackert wie ein Huhn. »Du bist ja bestens informiert.«
»Das ist mein Job.«
17
Fast lautlos kommt Felix aus der Deckung hervor. Er schleicht sich am Schlehenbusch vorbei zu einer entwurzelten Kiefer, deren Baumkrone guten Sichtschutz bietet. Der Schrei des Greifvogels erschreckt ihn nicht mehr. Angst |58|hat er trotzdem, sein Herz wummert und ist kurz vorm Explodieren.
Nichts rührt sich im ehemaligen Landschulheim. Einer von den Bewohnern steht bewegungslos an den Fahnenmast gelehnt. Nummer 18. Plötzlich hört Felix ein Rumsen, dann quietscht etwas, Glas klirrt. Neugierig schaut er aus dem Busch zum Haus. Ein Fenster in der oberen Etage des Hauptgebäudes wird geöffnet. Ein anderer Junge beugt sich heraus. Seine Haare sind abrasiert, dunkel schimmern die nachwachsenden Stoppeln durch die Kopfhaut. Er stützt sich mit nackten Armen auf der Fensterbank ab.
Felix drückt auf den Auslöser seiner Digitalkamera. Einer mehr mit Tätowierung auf dem Unterarm ist festgehalten. Das Foto würde Sonja gefallen.
»Nachher kommt hoher Besuch. Sieh zu, dass kein Dreck rumliegt, auch keine Kippen. Das kann Wörstein nicht leiden. Haste verstanden, Karl?«, ruft der Kahlkopf nach unten.
»Geht klar.« Mit seinen Springerstiefeln kickt der Junge neben dem Fahnenmast eine Kippe in den Rinnstein.
Langsam wandern Felix’ Augen an der Hausfront entlang. Nummer 18 heißt also Karl. Es ist der mit der breiten Nase, der ihn an irgendwen erinnert.
Der andere hat das Fenster wieder geschlossen. Alles ist ruhig, nichts rührt sich hinter den vergilbten Gardinen. Die Gelegenheit ist günstig. Felix schleicht sich gebückt noch ein paar Schritte näher heran. Vor einem dicken Baumstamm duckt er sich und legt sich flach auf den bemoosten Waldboden. Erdiger Geruch steigt ihm in die Nase. Hoher Besuch, hat der aus dem Fenster gesagt. Ob der Hauskäufer persönlich kommt? Seit durchgesickert ist, dass jemand das |59|ehemalige Landschulheim der Region Hannover gekauft hat, um es den »Aufrechten Deutschen« zu überlassen, stehen die Zeichen auf Sturm. Die Politiker, anfangs begeistert über den Verkaufserlös, haben mittlerweile kalte Füße bekommen und wollen den Kauf rückgängig machen. Aber der Käufer will nicht. Er möchte noch nicht einmal, dass sein Name in der Zeitung steht und lässt sich durch Wörstein vertreten. Ein Schnappschuss von dem würde sich gut im Internet machen. Sonja würde staunen, was alles in ihm steckt.
18
»Die brauchen uns wohl nicht mehr. Dann fahr ich jetzt nach Hause.« Roswitha Neumann gähnt und steht auf. »Tschüssi. War ein aufregender Vormittag. Ich brauch jetzt erst einmal meine Ruhe. Heute Abend bekomme ich noch Besuch. Wir sehen uns …«
Martha winkt Roswitha zum Abschied, als die Stimme von Goldmann sie zusammenzucken lässt.
»… der wollte uns fertig machen, das sage ich doch die ganze Zeit.«
Zwingel sieht sich erschrocken um. Sein Blick bleibt auf Martha kleben.
»Prima Schlag vorhin.« Seine Lippen verziehen sich zu einem falschen Lächeln. »Das wird schon noch.«
»Danke, das hoffe ich auch.«
Kaum hat sich Zwingel wieder umgedreht, flüstert Martha Trixi zu: »Hast du eine Idee, was die beiden miteinander zu tuscheln haben?«
|60|Trixi zuckt mit den Schultern.
»Keine Ahnung, aber das werde ich herausbekommen. Ich rufe nachher bei Jean Claude an.«
Trixis begnadeter Friseur ist die Hauptinformationsquelle für den Klatsch und Tratsch, den sie in ihrer wöchentlichen Kolumne »Leute von heute und morgen« verarbeitet.
»Goldmanns Frauen, die aktuelle und seine erste Ex gehen regelmäßig zu ihm. Jean Claude muss nur darauf achten, dass sie sich nie im Laden begegnen.«
»Und der Tote, was weißt du über den?«
»Nur das, was ich vorhin schon gesagt habe. Ich habe einen großen Bogen um Broderich gemacht.«
»Das hast du vorhin nicht gesagt.«
»Man will ja nichts Schlechtes über Tote sagen. Aber der war mir echt zu schmierig. Das musst du dir mal vorstellen«, empört sich Trixi. »Steht der da letztes Jahr bei uns im Redaktionsflur und schnalzt mit dem Finger: ›Kleine, willst du mit mir nicht zusammen was … machen?‹ Den Augenaufschlag hättest du dabei sehen sollen. Widerliches Arschloch.«
Trixi holt tief Luft. »Noch schlimmer als seine Anmachversuche sind jedoch seine Onlineplattformen.«
Die Onlineplattformen. Das ist ein Thema für sich. Drei kennt Martha auch. Isernhagen-online, Burgdorf-online und Burgwedel-online. Diese Seiten benutzte Broderich in den letzten zwei Jahren ungeniert für persönliche Hetzkampagnen. Dabei scheute er vor keiner Manipulation zurück. In Burgwedel-online hatte er gegen den Bau eines neuen Baumarktes Meinungsmache betrieben, obwohl die Bauvoranfrage schon vom Bürgermeister und der Mehrheit des Stadtrates abgenickt worden war. Statt sich vor der Kommunalwahl |61|selbst zu entscheiden, hatten sich die Politiker auf eine Bürgerbefragung eingelassen und das Projekt nach hinten geschoben. Mit zwei Jahren Verzug ist es dann schließlich umgesetzt worden. Goldmann wird Broderich dafür nicht gemocht haben, da ist sich Martha sicher. Aber sie hat auch noch in einem anderen Zusammenhang von Broderich gehört. Martha geht in Gedanken die Schlagzeilen der letzten Wochen durch. War da nicht etwas mit …
»Möchten Sie noch etwas trinken?« Die Kellnerin steht mit ihrem Tablett neben dem Tisch der beiden Frauen.
»Nein, danke.«
Martha verzieht das Gesicht. Jetzt hat sie den Faden verloren. Irgendetwas ist da noch mit Broderich gewesen. Sie muss Mittenwald unbedingt danach fragen. Das Gedächtnis ihres Chefredakteurs ist im Gegensatz zu ihrem phänomenal.
19
Verdeckt von Wacholderbüschen schleicht Felix sich noch dichter an das Haus heran. Plötzlich wird das Vogelgezwitscher durch die Geräusche eines herannahenden Fahrzeugs übertönt. Felix drückt sich tiefer in den Busch. Lange, spitze Dornen bohren sich in seine Schulter. Die Stiche der Schlehe bluten bereits, als der schwarze Mercedes in sein Sichtfeld kommt.
Felix versucht einen Blick ins Innere des vorbeifahrenden Autos zu erhaschen, doch die Scheiben sind verspiegelt. Er robbt noch dichter ans Haus heran. Geduckt bleibt er schließlich liegen und lauscht.
|62|Der Straßenbelag, über den das Fahrzeug im Schritttempo fährt, hat gewechselt. Kies knirscht jetzt unter den Reifen des langsam dahinrollenden Autos. Das Geräusch wird lauter. Jetzt muss das Auto gleich am Haus sein – und richtig, der Mercedes bremst. Felix geht für einen Moment aus der Deckung. Die Limousine parkt direkt vor der Eingangstür des ehemaligen Landschulheims.
Felix duckt sich wieder. Als er hört, wie der Motor ausgeschaltet wird, wagt er sich erneut mit dem Kopf aus dem Gebüsch heraus. Er sieht den Blonden mit der 18 auf dem Rücken die hintere Wagentür öffnen. Kaum lässt der den Türgriff los, schlägt er die Hacken seiner Füße zusammen. Mit nach vorn ausgestrecktem Arm grüßt er: »Heil Hitler.«
»Lass das. Das möchte ich nicht«, hört Felix eine feste sonore Männerstimme daraufhin sagen.
Felix hebt die Kamera. Im Sucher seiner Digitalkamera sieht er kräftige Beine in grauer Anzughose. Schließlich schiebt sich ein gewaltiger Bauch aus dem Auto. Felix zoomt so dicht heran wie möglich. Der Kopf erinnert ihn von der Seite an einen Raubvogel. Die Nase hat einen ausgeprägten Höcker. Immer wieder drückt Felix auf den Auslöser. Vor Aufregung hat Felix einen ganz trockenen Mund. Los, dreh dich um, damit ich dich von vorne bekomme. Felix’ Wunsch erfüllt sich fast augenblicklich. Der Mann bewegt sich, allerdings in die falsche Richtung. Außer dem breiten Rücken und dem kahlen Hinterkopf ist nichts von ihm zusehen.
»Abgelegen hier«, raunzt der Besucher jemandem zu, der außerhalb von Felix’ Sichtfeld steht.
»Das soll auch so sein, mein Lieber. Herzlich willkommen in unserem neuen Schulungszentrum.«
|63|Die tiefe Stimme scheint aus dem Nichts zu kommen. Für einen kurzen Moment schiebt Felix seinen Kopf aus der Deckung. Ein großer, schlanker Mann mit spitzer Nase und Schnauzer im grauen Zweireiher. Das hätte er sich auch gleich denken können, geht es Felix durch den Kopf. Wörstein.
Felix reckt seinen Kopf noch ein wenig höher. Er sieht, wie der hoch gewachsene Anwalt seinem Gast auf die Schulter klopft.
»Prima Objekt. Niemand kann sich dem Haus nähern, ohne dass wir es bemerken.«
Felix grinst und drückt wieder auf den Auslöser der Kamera.
»Du wirst dich noch wundern, wenn die Bilder im Netz sind«, murmelt er. Jetzt fehlt nur noch das Foto von dem Dicken. Von hinten hat er ihn schon, von der Seite auch, fehlt nur von vorne. Felix wartet. Das Gesicht des Besuchers ist immer noch verdeckt. Nur Wörsteins spitze Nase und der Schnauzer sind gut zu erkennen. Jetzt! Felix atmet tief ein. Tatsächlich, der Dicke dreht sich um.
Felix drückt auf den Auslöser. Nichts. Scheiße. Der Chip seines Fotoapparates ist voll. Verdammt! Immer wenn es wichtig wird, fallen die Geräte aus. Zum Glück hat er einen zweiten Speicherchip dabei.
Felix hört Türen schlagen, während er fieberhaft an seinem Fotoapparat hantiert. Gerade ist der Apparat wieder betriebsbereit, als ein Zweig hinter ihm knackt. Felix kann aus dem Augenwinkel noch sehen, wie ein Baseballschläger auf ihn niedersaust, dann landet er mit dem Kopf im Schlehengebüsch.
|64|20
Als Martha die Tür ihres Fachwerkhauses aufschließt, wartet der kleine schwarze Kater mit dem dreieckigen Fleck auf der Brust schon auf sie und maunzt fordernd. Sie streichelt ihm über den Nacken und streut Trockenfutter in die Schale.
»Na, du kleiner Herumtreiber, wo warst du denn?«
Das Tier beachtet sie nicht weiter, sondern steuert direkt auf den Fressnapf zu und stellt sich breitbeinig davor, damit niemand auf die Idee kommt, ihm das Futter streitig zu machen.
Kater sind manchmal wie Männer. Kommen und gehen wie sie wollen. Sofort denkt Martha an Max. Aber bevor der Gedanke an ihn sich richtig breit machen kann, schiebt sich das Bild von Paul vor ihr inneres Auge. Paul. Jetzt ist er schon über zwei Jahre tot. Ein tiefer Seufzer entweicht ihr. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Schon gar nicht sie.
Kaum im Haus, kontrolliert Martha ihr Handy und den Anrufbeantworter. Drei Anrufe in Abwesenheit auf dem Mobiltelefon, zwei auf dem Festnetzanschluss. Max Beckmann. Seit er in Hannover wohnt, ruft er ständig an, macht auf Sehnsucht und redet von Gefühlen. Immer das Gleiche. Noch vor zwei Monaten hätte er alles haben können, aber da hat es ihm nicht gereicht. Da hatte er Angst vor zu großer Nähe. Das hört sich immer gut an. Nähe! Und was war’s? Eines Abends stand diese Vanessa im Dorfkrug, umschlang ihn und begrüßte ihn mit einem Kuss auf den Mund. Einem langen Kuss.
Martha hat es in diesem Moment den Boden unter den |65|Füßen weggezogen. Was hätte sie tun sollen? Lächeln und sich vorstellen? Gestatten: Mein Name ist Martha Landeck. Eigentlich habe ich Max letzte Woche gefragt, ob er mit mir zusammenziehen will. Aber das hat sich ja jetzt wohl erledigt.
Natürlich ist Martha gegangen, ohne etwas zu sagen, ohne Abschiedswort und ohne sich noch einmal umzudrehen. Noch nie hat jemand sie so tief in der Öffentlichkeit verletzt und gedemütigt. Wenn man Schluss machen will, geht das auch anders. Da sollte man auch auf die Gefühle der anderen Rücksicht nehmen.
Was redet sie da? Sie hat es gerade nötig, zu moralisieren. Paul würde noch leben, wenn sie nicht gemeint hätte, ihre neue Liebe ausleben zu müssen. Der Elefant im Glashaus der Gefühle ist sie. Da kann auch ihr erster Ex-Mann noch ein Lied von singen. Bis heute hat er nicht verstanden, dass sie ihn verlassen hat, weil die Beziehung sie gelangweilt hat. Verlassen werden. Genau das ist es. Vielleicht schmerzt sie die Trennung von Max deswegen. Zum ersten Mal hat ein Mann sie verlassen.
Martha streichelt die Katze, die sich an ihrer Wade reibt. Soll Max sich doch mit seiner Vanessa vergnügen. Er hätte sich nur nicht unbedingt eine Frau aussuchen müssen, die fast seine Tochter sein könnte.
Das Telefon klingelt erneut. Martha wirft einen Blick aufs Display: Schon wieder er. Sie zögert, lässt es noch einmal klingeln, dann nimmt sie das Gespräch an.
»Martha, endlich …«
»…«
» … Wie geht es dir? Ich wollte so gerne deine Stimme hören.«
»…«
|66|»Sag doch etwas!«
Das hättest du alles haben können, du Blödmann. Tag und Nacht. Groll steigt in ihr hoch.
»Wie soll es mir gehen?« Sie überlegt einen Moment, dann bricht es aus ihr heraus. »Beschissen geht es mir. Trixi hat vorhin eine Leiche entdeckt, Borgfeld und Streuwald wuseln im Golfclub herum …« Diese weit aufgerissenen Augen, der offene Mund … Martha schluchzt noch lauter, als sie daran denkt.
Beckmann hat mit allem gerechnet, aber nicht mit einem solchen Ausbruch. Beschissen, Leiche, Trixi. Seine alten Kollegen Borgfeld und Streuwald. In was ist Martha jetzt schon wieder hineingeraten?
»Was ist … was ist passiert?«, stammelt er mehr, als dass er redet.
»Das weiß ich doch nicht. Nach dem Golftraining … Trixis Tasche ist umgefallen, die Bälle rollten raus und …« Reiß dich zusammen Martha, lass dich nicht so gehen. Erzähl in vernünftigen Worten, was passiert ist. Los! Ihre Stimmlage ist eine Nuance schriller als sonst, als sie sagt: »… da hat sie den Toten gefunden.«
»Und dann?«
Was ist das für eine blöde Frage? Kann dieser Mann nicht ein bisschen Einfühlungsvermögen zeigen? Den ganzen Vormittag lang hat Martha sich beherrscht. Jetzt kann sie nicht mehr. Sie fängt hemmungslos an zu heulen.
Beckmann ist irritiert. Als das Schluchzen am Telefon sich beruhigt, sagt er in leisem, doch bestimmten Ton: »Ich komme vorbei.«
Martha sieht die Szene im Dorfkrug mit Vanessa wieder |67|vor sich. Vanessas Arme, die Beckmann umschlingen. Vanessas Liebesgesäusel. Trotzdem kommt ihr seine Stimme so vertraut vor. Vielleicht … nein, ermahnt sie die Stimme der Vernunft. Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Sag Nein. Leg den Hörer auf.
»Ich weiß nicht«, murmelt sie und möchte am liebsten gleich wieder losheulen.
»Aber ich. In einer halben Stunde bin ich bei dir.«
Erschöpft drückt sie auf die rote Taste ihres schnurlosen Telefons. Sie kann ja immer noch einfach so tun, als ob sie nicht zuhause ist, wenn er kommt.
21
Als Felix wieder zu sich kommt, schmerzt sein Brustkorb.
»Was machst du hier, du Arsch?«, schreit eine fremde Stimme ihn an.
Felix fühlt den heftigen Tritt, hört das Krachen seiner Rippen, spürt ein stechendes Ziehen in der Brust. Schützend hält er die Hände vors Gesicht. Aus dem Augenwinkel erkennt er die 88. Im nächsten Moment holt die Doppelacht zum Stoß aus. Felix rollt sich zur Seite. Nicht schnell genug. Er schreit vor Schmerz auf, als ihn die Kappe des Springerstiefels im Magen trifft.
»Ich hab dich was gefragt, du Arschgesicht. Antworte!« Der nächste Fußtritt landet in der anderen Körperhälfte. »Rede gefälligst!«
Felix liegt rücklings auf dem Boden, sein Peiniger steht breitbeinig vor ihm, in der rechten Faust einen Baseballschläger, |68|dessen unteres Ende er mit lauerndem Blick ständig in die linke Handflächenhälfte schlägt.
»Spuck’s aus, sonst nehm’ ich dich in die Mangel.«
Der Schlagstock kracht schon im nächsten Augenblick auf seine Wade. Felix bäumt sich vor Schmerz auf. Was soll er nur machen?
»Ich …«, stottert Felix, »… ich mache Fotos.« Sein Herz schlägt bis zum Hals. »Naturaufnahmen.« Scheiße, in was ist er da hineingeraten?
»Das ist hier Privatgelände, du Arsch. Da hast du nichts zu suchen.« Der Baseballschläger donnert erneut auf ihn nieder. Dieses Mal trifft die 88 seine Schulter. Felix hört einen Knochen krachen. Das Schlüsselbein? Ein stechender Schmerz zieht von der Schulter abwärts. Felix hat Angst. Riesengroße Angst. Was soll er tun? Er muss den Typen beruhigen, sonst schlägt der immer weiter. Aber womit?
»Da hab ich mich wohl verlaufen«, versucht er es. »Kann doch passieren.«
»Los, Karl, zeig ihm, was wir mit Leuten tun, die heimlich auf unserem Gelände rumschleichen. Polier ihm die Fresse.« Die 88 zieht Felix mit seiner riesigen Pranke hoch. »Verpass ihm einen Denkzettel, den er so bald nicht vergisst.«
Der andere Junge tritt einen Schritt vor und ballt die Fäuste. Sie schnellen auf Felix’ Bauch zu, stoppen jedoch im letzten Moment, so als wenn sie es sich anders überlegt hätten.
»Lass gut sein, Matusch. Der hat genug abbekommen.«
Felix atmet erleichtert auf. Jetzt setzt die Vernunft bei denen ein. Natürlich. Die müssen doch Angst vor den Konsequenzen haben. Eine Anzeige wegen Körperverletzung ist nicht ohne. Und die können ihn schließlich nicht …
|69|»Quatsch, der kann noch mehr vertragen.« Matuschs Faust findet den Weg in Felix’ Magengrube. Felix klappt wie ein Taschenmesser zusammen.
»Ist doch keine Streichelwiese hier«, grunzt Matusch und reibt sich die rechte Hand. »Los, jetzt du, Karl. Sollst auch deinen Spaß haben.«
Der Junge mit der 18 auf dem Rücken zögert. Er weiß nicht genau, was er machen soll. Matusch ist oft jähzornig. Bei dem weiß man nie. Am Ende bekommt man selbst was ab – andererseits hat dieser Felix ihm oft genug aus der Patsche geholfen. Früher, in der Grundschule, genau wie später im Fußballverein. Felix ist Mannschaftsführer in der F-Jugend gewesen. Mit Nachdruck hatte er mehr als einmal gefordert, dass er zum Spiel aufgestellt wurde, auch wenn er mal wieder nicht beim Training erschienen war, weil … einer musste sich doch um seine Mutter kümmern. Manchmal hatte sie voll wie eine Haubitze mitten im Flur gelegen … Felix hatte sogar in der Schule freiwillig neben ihm gesessen. Die anderen hatten ihn als Hosenpisser verspottet, nur weil er einmal, ein einziges Mal … Scheiß Zeit damals. Eigentlich will er überhaupt nicht mehr daran zurückdenken. Trotzdem gibt er sich einen Ruck.
»Der Typ ist in Ordnung. Echt. Der hat mir häufig beigestanden.«
»Du kennst das Arschgesicht?«
»Aus der Schule und vom Fußball.«
Jetzt dämmert auch Felix, warum ihm das Gesicht so bekannt vorgekommen ist. Nicht Karl ist das, sondern Kevin, Kevin Fischer. Ein schmaler, dünner Kerl, der von allen gehänselt wurde. Einmal hatte Felix ihn in den Schlichthäusern |70|Drei Eichen am Rande der Burgdorfer Südstadt besucht, um ihm Hausaufgaben vorbeizubringen, weil er ein paar Tage nicht zum Unterricht erschienen war.
»Kümmere dich ein bisschen um ihn. Der hat sonst keinen«, hatte die Lehrerin ihm nach der Stunde zugeflüstert.
Schmächtig ist Kevin mittlerweile nicht mehr. Breite Schultern hat er, kräftige Oberarme, dazu die Tätowierung am Unterarm. Prügeleien geht der garantiert nicht aus dem Weg. Die platte Nase und der Schneidezahn sprechen Bände.
»Na gut. Wenn du nicht willst – selbst Schuld. Aber ich will meinen Spaß haben.« Die starke Hand packt Felix am Genick und zieht ihn hoch. »Gib mir deinen Fotoapparat.«
Felix reicht ihm zitternd seine neue Nikon. Matusch nimmt sie grinsend entgegen.
»Und jetzt machen wir eine kleine Spritztour.«
22
Streuwald und Borgfeld stehen unschlüssig vor den rotweißen Absperrbändern, die den Fundort der Leiche sichern.
»Wie lange müssen wir hier noch bleiben?« Borgfelds Magen knurrt und seine Laune ist auf dem Tiefpunkt angelangt.
Bei Streuwald sieht es nicht besser aus. Um zwei Uhr wollte er eigentlich mit seinen Jungs zum Warmmachen auf dem Platz sein. Es ist zwar ein Freundschaftsspiel, aber eins, das es in sich hat. Die A-Jugend von Heeßel ist sein stärkster Konkurrent. Was hat der Platzwart letzte Woche gesagt? Das ist ein Kampf der Lokalmatadore. Nicht gesagt hat er, dass es dabei für ihn auch um seine Ehre als Jugendtrainer des RSE |71|geht. Das brauchte er auch nicht zu sagen. Streuwald weiß es selbst. Er wirft einen verkniffenen Blick auf sein Handy. Keine neuen Nachrichten.
Eddi, der Co-Trainer, ist von Streuwald telefonisch informiert worden, dass er heute alles allein managen muss, aber ganz wohl ist ihm bei der Sache nicht. Eddi hätte sich wenigstens melden können. Streuwald greift zum Telefon und drückt auf Wahlwiederholung.
»Eddi, ich bin’s noch mal, Walter. Nur ganz kurz: Macht doch lieber die Dreierkette. Damit rechnen die aus Heeßel nicht.«
Zwei Minuten später klingelt Streuwalds Handy. Er bekommt schon nach wenigen Sekunden einen hochroten Kopf. »Eddi, das glaube ich jetzt nicht. Wieso fehlt Volcan?«
»…«
»Scheiße. Und was ist mit Süleyman?«
Während Streuwald immer lauter ins Telefon schreit, dreht sich Borgfeld um und betrachtet den Tatort in aller Ruhe. Warum sitzt ein Toter auf der Bank hinter dem Schuppen vom Golfclub, noch dazu mit einem Golfball im Mund? Ist das eine Botschaft? Friss oder stirb. Nein, das passt nicht. Nichts passt richtig. Das Knurren seines Magens übertönt Borgfelds resigniertes Seufzen.
»Tut mir leid, war wichtig«, meldet sich Streuwald zurück. Sein Kopf ist immer noch hochrot.
Borgfeld überhört die halbherzige Entschuldigung. Er hat sich längst daran gewöhnt, dass für Streuwald Fußball an erster Stelle steht. Nicht, dass Streuwald seine Arbeit bei der Polizei schlecht erledigen würde, das kann man nicht sagen. Es darf nur nichts dazwischenkommen, was seine Planungen |72|als Trainer beeinträchtigt. Das mag Streuwald nicht. Das mag er ganz und gar nicht. Nicht einmal am Tag seiner Silberhochzeit hat er das Spiel seiner Jungen verschoben. Borgfeld hat nur überrascht, dass Streuwalds Frau nicht dagegen protestiert hat. Als seine Maria davon gehört hat, hat die ihm gleich gesagt, dass er ihr so nicht zu kommen bräuchte. Dann könnte er statt Silberhochzeit gleich die Scheidung haben. Und Maria würde das tatsächlich machen, da ist sich Borgfeld ganz sicher. Die stellt Ansprüche. Einfach was hinnehmen, ist bei der nicht drin. Sonst hätte sie letzten Monat nicht so einen Aufstand in der Umkleidekabine bei Kaufhof gemacht.
»Es reicht«, hat sie ihm zugezischt. »Jedes Jahr eine Nummer mehr beim Hosenkauf. Wo soll das noch hinführen? Du bist schon bei Größe 58.«
Erst hatte Borgfeld gedacht, dass sei nur so dahingesagt. Aber so eine ist seine Maria nicht. Schon am Tag danach hat sie ihn zu den Gewichtfuzzis ins Gemeindehaus geschleift. Seitdem heißt es: Punkte zählen und notieren. Das Schlimmste ist, dass er einmal in der Woche in aller Öffentlichkeit gewogen wird. Und dann auch noch das Gewicht vor den anderen nennen muss. Nennen? Rufen. Wie in der Schule früher bei den Klassenarbeiten. Borgfeld: Sechs. Setzen. Vielleicht wäre so eine zurückhaltende Frau wie die von Streuwald, so eine bescheidene, doch besser. Oder vielleicht gar keine? Der Seufzer, den er ausstößt, ist noch lauter, als der zuvor.
»Wie weit sind die anderen?«, reißt Streuwald ihn aus seinen Gedanken.






