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»Die Leiche ist abtransportiert, die Kriminaltechnik hat |73|ihre Sachen zusammengepackt, die haben alles mit diesem neumodischen Gerät aufgenommen …«
»Der Spheronkamera«, unterbricht ihn Streuwald und grinst breit. »Damit kann man 360° Aufnahmen machen.«
»Das habe ich auch kapiert.« Borgfeld wirft ihm einen wütenden Blick zu. Streuwald soll bloß nicht glauben, dass er das nicht verstanden hat. Er hat zwar kein technisches Talent, aber dass diese Kamera sich einmal um sich selbst dreht, hat auch er begriffen. Ein ganz einfacher Drehmechanismus.
»Ich bin nur gespannt, wie so ein virtueller Tatort aussieht, aber wir werden es ja erleben.«
»Oder auch nicht.« Borgfeld knirscht mit den Zähnen.
»Wieso?«
»Wenn ich den vom Kriminaldauerdienst vorhin richtig verstanden habe, übernehmen die die Sache. Verstärkung von oben sozusagen.«
»Soll mir recht sein, wenn die sich aus Hannover da reinhängen.« Streuwald wäre das nicht nur recht, es wäre ihm sehr recht. Er ist schließlich mitten in der Saisonvorbereitung. Das kostet Zeit. Überstunden passen da überhaupt nicht rein.
»Andererseits könnten wir bei der dritten erfolgreichen Mordaufklärung mit einer Beförderung rechnen. Hat mir jedenfalls der Schneider neulich in der Kantine gesagt – und der ist ganz dicke mit dem Chef.« Borgfeld überkreuzt Mittel- und Zeigefinger und hält sie Streuwald vor die Nase.
Streuwalds Mundwinkel heben sich. »Tatsächlich?« Ein bisschen mehr Geld wäre natürlich auch nicht schlecht. Die neue Heizung war teuer.
»Vielleicht ist der Fall ja schnell gelöst.« Ein plötzlicher |74|Energieschub pulsiert durch Streuwalds Adern. »Was gibt es an verwertbaren Spuren?«
»Nicht viel. Der Golfball im Mund und die Schleifspuren vor der Bank. Keine Fußabdrücke. Der Boden ist bei der Trockenheit steinhart. Da ist nichts. Die verstreuten Grasschnipsel auf dem Reinigungsplatz ergeben garantiert nichts. Interessant ist, dass kein Handy gefunden wurde. Das ist heutzutage schon eher seltsam, hat doch jeder eins. Sogar du«, sagt Borgfeld in das Gebimmel von Streuwalds Mobiltelefon hinein, der sofort das Gespräch annimmt, als er sieht, wer ihn anruft.
»Süleyman ist umgeknickt? Scheiße. Dann nimm den Darius in den Sturm und Robert ins Mittelfeld.« Streuwald klappt stöhnend sein Mobiltelefon zusammen.
»Fertig?«, grunzt Borgfeld.
»Mit den Nerven. Zwei Kranke und drei Verletzte, wie sollen wir da gewinnen?«
Streuwald versucht, ihm seine Taktik im Spiel zu erklären, doch Borgfeld wimmelt ab.
»Wo waren wir stehen geblieben?«
23
»Geh weiter, du Arschgesicht.« Matusch schubst Felix vor sich her.
Der stolpert über Heidelbeerbüsche und lila blühende Heidepflanzen, taumelt durch wild ausgeschlagene Birken. Was hat dieser Kerl mit ihm vor? Felix dreht sich um und wirft seinem ehemaligen Mitschüler einen hilfesuchenden |75|Blick zu. Kevin senkt die Augenlider. Er ist verunsichert. Die stumme Bitte, die ihm Felix herübergeschickt hat, kann er nicht einfach wegschieben, aber er will sich auch nicht gegen Matusch stellen. Der hat ihm den Weg gezeigt, damit er endlich rauskommt aus dieser öden Siedlung. Matusch hat ihn mit in die Gruppe genommen und ihm so etwas wie eine Familie zurückgegeben. Alle haben hier ein gemeinsames Ziel, eine Aufgabe, an der sie arbeiten. Er ist jetzt Karl und nicht mehr dieser lächerliche Kevin, auf den alle heruntersehen, er ist wer. Er ist ein »Aufrechter Deutscher«.
»Los vorwärts.« Matusch schubst Felix gegen die Ladefläche des Pick-ups. »Kletter rauf.«
Eigentlich schaut Kevin gerne zu, wenn der Ältere seine Wut an anderen auslässt. Matuschs Zorn bricht dann in einer ungezügelten Wildheit aus ihm heraus, ohne Angst vor dem Gegner und vor Konsequenzen. Diese bedingungslose Entschlossenheit vermisst Kevin an sich selbst. Bevor er zuschlägt, denkt er nach. Jedes Mal. Matusch hat ihm schon tausendmal gesagt, dass das ein Fehler ist. Immer drauf, damit die begreifen, wer das Sagen hat, das ist seine Devise.
»Wenn wir erst an der Macht sind, ziehen wir sowieso neue Seiten auf. Dann ist Schluss mit diesem Gelaber.«
Kevin zögert. Mit Matusch zu reden, kann er vergessen. In dieser Stimmung bremst ihn keiner. Unmöglich.
|76|24
»Ab wann dürfen unsere Clubmitglieder wieder Golf spielen?« Goldmann ist zu Borgfeld und Streuwald herangetreten, die immer noch unentschlossen vor dem Absperrband stehen.
»Na ja …« Borgfeld sieht seinen Kollegen an. »Eigentlich hat keiner gesagt, dass der Platz nicht betreten werden darf.«
»Das ist ja schon mal etwas. Kann man auch die Wagen und Bags aus dem Caddyhaus holen?« Goldmann steckt seine Hand in die rechte Hosentasche. »Es ist Wochenende und die Leute wollen auf die Runde. Wir sind ein angesehener Verein, Golfer sind …«
Sein schier endloser Vortrag langweilt Streuwald. Golf. Als wenn das Sport wäre. Bewegung für ältere Herrschaften, vielleicht, aber nicht mehr. Er muss diesen geschniegelten Lackaffen doch nur ansehen, um zu wissen, was das für eine Sportart ist. Kurze rote Hosen mit dunkelblauen Kniestrümpfen, dazu weiße Schuhe mit braunen Litzen. Damit würde keiner seiner Jungs auf den Platz kommen, ohne ausgepfiffen zu werden.
Endlich kommt Goldmann mit seinem Monolog über die Bedeutung des Golfsports zum Ende. Er zieht seine Hand aus der Tasche, darin glänzt etwas Weißes: ein Golfball.
Streuwald erkennt farbige Punkte darauf: grün, weiß, rot.
»Kann ich den mal haben?«
Die Frage überrascht Goldmann, doch er reicht den Golfball Streuwald. Der wendet ihn hin und her und reicht ihn schließlich an Borgfeld weiter.
»Ein Wappen mit gekreuzten Golfschlägern. Erkennst du es?«
|77|»Ist das gleiche Muster.« Borgfeld dreht sich zu Goldmann um. »Hat das eine besondere Bedeutung?«
»Das ist unser Clublogo. Jeder Club, der etwas auf sich hält, hat einen Golfball mit eigenem Logo.«
Borgfelds Augen blitzen bei diesen Worten auf. Ein Toter im Golfclub, im Mund ein Golfball des Clubs. Klare Sache. Er grinst. Von dem Geld, was ihm die Beförderung einbringt, könnte er endlich mal wieder Urlaub an der See machen.
»Wo kann man diese Bälle kaufen?«
»Bei uns im Pro Shop.«
»Ah ja, Pro Shop, wunderbar. Und … wo ist der?«
»Vorne, gleich neben der Station der Greenkeeper.«
Greenkeeper? Borgfeld runzelt die Stirn.
»Zeigen Sie uns am besten mal, wo der Platzwart seine Geräte stehen hat«, hilft Streuwald seinem Kollegen auf die Sprünge.
25
Martha steht an der Spüle und schrubbt ihre Teekanne. Oben am Rand ist ein brauner Belag. Mit einer Zahnbürste schiebt sie Küchenpapier in die Ritze, die sich zwischen dem beweglichen Henkel und dem Kannenkörper bildet. Nach dem dritten Versuch gibt sie auf. Sie braucht etwas Schmaleres. Während sie in der Schublade des Küchentisches sucht, fällt ihr Blick auf die Anrichte. Dort liegt die Fotokopie der Aufzeichnungen, die ihr ein Mann am Freitag in der Redaktion vorbeigebracht hat.
»Gestatten, Julius Trott aus Celle. Ich unterrichte am Kaiserin-Auguste-Viktoria-Gymnasium |78|in Celle«, stellte er sich vor und erzählte von seiner verstorbenen Großmutter und dem Fund dieser alten Aufzeichnungen bei der gerade stattfindenden Wohnungsauflösung.
»Dieses Tagebuch enthält Sprengstoff. Glauben Sie mir. Unangenehme Wahrheiten werden ans Licht gebracht. Dinge, die niemand in Celle wissen will«, sind seine Worte zum Abschied gewesen. »Diese Geschichte muss an die Öffentlichkeit.«
Martha schlägt die erste Seite auf und beginnt noch im Stehen zu lesen.
1952
Am Ende der Straße steht ein Haus. Fachwerk in bester Zimmermannsarbeit. Bunt bemalte Balkenköpfe, goldene Schriftzüge über den Türen. Alles heimelig und gemütlich. Spitzengardinen in den Fenstern verhindern die Sicht hinter die liebliche Fassade. Tante Ida hat ihr Elternhaus damals bestimmt nicht gern verlassen, genauso wenig wie Mama.
Am Alten Marstall werfe ich einen Blick nach links. Verträumt thront das Celler Schloss im cremigweißen Zuckerbäckerstil auf einem kleinen Hügel, umgeben von Wassergräben, die schon viel gesehen haben. Mittelalterlich verschlafen wirkt es hier, ganz anders als im quirligen New York, das es noch nicht einmal gab, als Celle bereits Residenzstadt war.
Sprengstoff? Unangenehme Wahrheiten? Martha schüttelt den Kopf. Manche Menschen überschätzen die eigene Biografie und die ihrer Mitmenschen enorm. Eine junge Frau aus New York hat Beobachtungen in einer idyllischen Kleinstadt |79|in Norddeutschland aufgeschrieben. Bestimmt kommen gleich Kochrezepte und eine Liste damals aktueller Schlager. Martha blättert die Seite um und liest gelangweilt die nächste Eintragung.
Elfriede Trott, Jahrgang 1916, 36 Jahre alt, Bäckereiverkäuferin, wohnhaft Riemannstraße
So, Fräulein Clara, setzen Sie sich dort aufs Sofa. Muss eine anstrengende Reise für Sie gewesen sein. Amerika ist schließlich weit weg. Die schlafen doch jetzt sogar, wo wir miteinander reden.
Was hat Sie denn hierher verschlagen in unsere alte Residenzstadt? Das Schloss? Das ist wirklich wunderschön.
Ach, Sie möchten wissen, was in den letzten Tagen des Krieges passiert ist. Sie schreiben für eine Zeitung? Für die New York Times? Donnerwetter, und da wollen die da drüben auf der anderen Seite des Ozeans hören, was in Celle los war. Haben die etwa ein schlechtes Gewissen?
Der 8. April 1945 – Mädchen, das sind Tage, die alle vergessen wollen. Wir hatten genug auszustehen nach dem Krieg. Das wollte zum Ende keiner mehr haben. Das müssen Sie mir glauben.
Nein, es gab hier nicht viele Nazis. Ich weiß nicht, wer Ihnen das erzählt hat. Die Ida? Stimmt, die ist rüber nach Amerika. Das ist schon ewig her. Die weiß gar nicht, was hier los war, was das zum Schluss für ein Elend war.
Wollen Sie noch eine Tasse Kaffee? Echter Bohnenkaffee ist das, den habe ich gerade aufgebrüht.
Der 8. April 1945 – war das nicht ein Sonntag? Ja, richtig, jetzt erinnere ich mich. Herrliches Wetter, der Himmel ganz |80|blau und strahlender Sonnenschein. Morgens war es kühl, aber der Frühling kam mit Macht, die Luft erwärmte sich schnell. Es lag ein besonderer Duft über allem, die Vögel zwitscherten. Amseln, Drosseln. Alles erwachte nach dem Winter. An der Aller wuchsen die ersten Butterblumen, überall leuchteten die Forsythien.
Am Sonntagvormittag fuhr ich mit dem Fahrrad ins Zentrum. Es hieß, das Proviantlager wird aufgelöst, es sollte Sonderrationen geben, damit sie nicht in die Hände des Feindes fallen. Nicht mehr lange und er würde vor den Toren der Stadt stehen.
Schon früh waren alle auf den Beinen und versuchten, Lebensmittel zu ergattern. Vor den Geschäften bildeten sich Schlangen. Ich selbst stand ewig in der Zöllnerstraße an. Mein Mann hatte keine Zeit, mitzukommen, der arbeitete ja als Bäckermeister in der Keksfabrik. Der war verantwortlich für die Bärentatzen, aber in jenen Tagen wurde nicht mehr viel gebacken. Da wurden nur die Lebensmittelbestände gesichert. Vor den Plünderern und dem Feind. Gucken Sie mich nicht so an. Das hieß damals Feind und nicht Befreier.
Als die Sirenen heulten, kurz bevor die amerikanischen Kampfbomber am Himmel auftauchten, war ich unterwegs nach Hause, dick bepackte Taschen hingen an meinem Lenker. Ich fuhr so schnell wie noch nie in meinem Leben unter der Bahnunterführung durch. Da hatten sich etliche untergestellt. Ich bog links bei uns in die Riemannstraße ein. Überall flüchteten die Leute in die Häuser. Bunker gab es ja nicht. Nur Keller.
Das Summen der Bomber kam näher, wurde bedrohlicher. Es war, als wenn ein Schwarm riesiger Raubvögel auf uns zukäme, immer näher, immer dichter.
Zuhause bin ich gleich hinunter zum Keller gerast. Ich riss die |81|Tür auf, sprang hinein. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Mein Ältester, der Wilhelm, saß schon da und hatte meinen Kleinen in Sicherheit gebracht. Noch nie war ich so erleichtert. Ich habe vor Glück geheult. Wirklich wahr. Um uns tobte die Hölle und ich heulte vor Glück. Aber nicht lange. Dann ging die erste Bombe ganz bei uns in der Nähe mit einem ohrenbetäubenden Knall nieder. Panik stieg in mir hoch. Immer mehr Bomben fielen in unserem Viertel. Gesehen haben wir nichts. Wir hörten nur das Krachen und die Schreie. Mein Kleiner schrie die ganze Zeit, genau wie die Nachbarin. Nach ein paar Minuten ging das Licht aus und plötzlich war alles dunkel. Ich hab den Atem angehalten und gebetet. Das Haus wackelte, die Wände zitterten, Putz rieselte von den Mauern und Staub lag in der Luft. Die Kellerfensterscheiben platzten vom Druck der Bombenexplosionen, Mörtel bröckelte ab.
Als wir später aus dem Keller krochen, war die Stadt voller Rauch. Sirenen heulten, überall Schreie und Hilferufe. Die Brücke bei der Bahn war getroffen und die Leute, die sich dort untergestellt hatten, waren verschüttet. Schrecklich, diese Schmerzensschreie. Ich höre die heute noch manchmal im Schlaf.
Ja, Ihre Leute haben ganze Arbeit bei diesem Angriff geleistet, das muss man mal sagen. Dabei haben wir hier in Celle doch gar nichts gemacht. Überhaupt nichts. Hier waren nur Zivilisten.
Schmeckt der Kaffee? Der ist frisch geröstet. Von Huth am Großen Plan. Der war früher sogar Königlicher Hoflieferant. Möchten Sie noch eine Tasse? Bitte, die Milch, nehmen Sie!
Der Güterbahnhof selbst bekam einiges ab. Natürlich. Der ist ja gleich dahinten. Wenn Sie aus dem Fenster gucken, können Sie die Gleise sehen.
|82|Ja, Züge wurden auch getroffen. Wieso fragen Sie immer danach?
Mag sein, dass ein Transport mit Menschen dabei war. Irgendwelche Zuchthäusler. Darüber weiß ich nichts Genaueres. Ich muss jetzt in die Küche. Das Mittagessen kochen. Mein Mann kommt gleich nach Hause.
26
Der grüne Nissan ruckelt über den holperigen Feldweg. Kevin sitzt neben Matusch und dreht sich immer wieder um. Felix liegt geknebelt und mit Kabelbindern gefesselt auf der Ladefläche, über ihm ist eine muffig riechende Decke ausgebreitet. Bei jedem Schlagloch hüpft er ein paar Zentimeter hoch und rollt zur Seite. Der Weg führt immer tiefer ins Moor, rechts und links flankiert von schmalen, jetzt trocken gefallenen Entwässerungsgräben. Birken und Eichen, wohin das Auge schaut, dazwischen Heidekraut, ab und zu ein Wacholderbusch.
Plötzlich hält Matusch an und springt mit Schwung aus dem Auto. Er hebt die Decke hoch, holt das Messer mit dem Walnussgriff aus der Seitentasche seiner Hose und wiegt es in der Hand. Wörstein hat ihm das in Russland hergestellte Springmesser zu seinem letzten Geburtstag geschenkt. Matusch klappt einen Hebel um und drückt drauf. Im nächsten Moment springt die scharfe Klinge heraus.
»Was hast du vor?« Kevin behagt die Situation nicht. Die Waffe ist kein gutes Zeichen, genauso wenig wie die Pistole, die seit heute Morgen im Handschuhfach liegt. Eine alte |83|Heckler & Koch, die Wörstein Matusch vor Wochen mit den Worten überlassen hat: Pass gut auf sie auf. Das ist eine der ersten Selbstladepistolen. Mittlerweile sind die verboten – wie alles, was gut ist.
Matusch grinst seinen Kameraden an. »Ein bisschen Spaß haben.« Er bückt sich zu Felix herunter und zieht ihn an den Füßen zum Ende der Klappe.
»Aber …«
»Was ist los?« Matusch geht mit der spitzen Messerschneide zwischen Felix’ Beine. Ein Ratsch und der Kabelbinder fällt auseinander. Ein zweiter Ratsch und der an den Händen ebenfalls.
»Haste etwa Mitleid mit dem Weichei?« Matusch schmeißt seinen Gefangenen mit Schwung von der Transportfläche. Mit lautem Krachen landet Felix auf dem staubigen Boden. »Wenn wir nicht zubeißen, beißen die uns.«
Felix’ Rippen schmerzen, sein Kopf und die Beine sowieso. Was soll er tun? Die in der Sonne glitzernde Klinge des Messers macht ihm Angst. Sein Herz schlägt heftig und sein Magen zieht sich zusammen. Was hat dieser Matusch vor? Felix starrt an den schwarzen Stiefeln und der dunklen Jeans hoch. Will der ihn etwa erstechen? Er schließt die Augen und wünscht sich, er wäre schon tot.
Dann ein metallenes Ratschen. Felix spürt plötzlich etwas Warmes auf seinem Bein. Etwas Feuchtes. Er schlägt die Augen auf.
Der kräftige Urinstrahl von Matusch durchdringt das Gewebe seiner beigen Cargohose. Der Stoff klebt bereits an der Wade. Der Strahl wandert weiter zu seinem T-Shirt und macht auch vor seinem Gesicht nicht halt. Felix schließt die |84|Augen wieder. Ekel und Angst füllen ihn aus. Noch nie hat er sich so gedemütigt und erniedrigt gefühlt. Noch nie hat er so viel Angst gehabt.
Schließlich versiegt der Strahl und das Ratschen des Reißverschlusses ist erneut zu hören. Vorsichtig öffnet Felix die Augen einen winzigen Spalt. Matusch grinst ihn breit an.
»Los, Arschgesicht, auf geht’s. Wenn es nach mir ginge, wäre jetzt Feierabend für dich. Mit Schnüfflern macht man kurzen Prozess.« Matusch spuckt vor ihm auf die Erde. »Steh auf.«
Langsam kommt Felix hoch. Die feuchte Hose und das Hemd kleben an ihm. Der Knebel in seinem Mund ist nass. Beißender Uringeruch steigt ihm in die Nase, doch zum Ekeln hat er keine Zeit. Kaum steht er halbwegs, bekommt er von Matusch einen Tritt in den Hintern.
»Hast Glück, weil du Karl mal geholfen hast. Er gibt dir eine Chance. Also los, renn.« Matusch grinst breit. »Laufen, habe ich gesagt.« Dann dreht er sich um, geht zum Auto und greift ins Handschuhfach.
Felix wartet nicht so lange. Ohne Kevin noch einmal anzusehen, setzt er sich in Bewegung. Rechts am Weg stehen dichte Büsche. Daneben drei dünnstämmige Birken. Das könnte seine Rettung sein.
Kaum ist Felix ein paar Meter in diese Richtung gelaufen, hört er einen Knall. War das ein Schuss? Felix dreht sich um und entdeckt Matusch neben dem Nissan. In der Hand eine Pistole. Schon folgt der nächste Schuss. Felix hört den Einschlag der Kugel im Baum neben sich. Wie von Sinnen beschleunigt er seine Schritte.
|85|»Ey, wie geil ist das denn?«, hört er Matusch juchzen. Dann knallt es erneut und eine Pistolenkugel streift die Birke rechterhand.
27
Martha legt das Blatt auf den Stapel. Schreckliche Zeit damals. Keine Frage. Trotzdem kann sie nicht sagen, dass dieses Interview sie sonderlich berührt. Natürlich hat die Zivilbevölkerung gelitten. In Hamburg und Dresden sehr viel stärker als in Celle. Häuserzeilen wurden getroffen, ganze Stadtviertel ausradiert. Menschen starben, andere mussten fliehen und die Heimat verlassen. Über all das hat man tausendmal berichtet. Martha hat so viele Bilder vom Krieg gesehen, dass es sie nicht mehr betroffen macht. Mehr noch. Sie will sie nicht mehr sehen. Fünfundsechzig Jahre nach Kriegsende ist der Krieg Geschichte geworden.
Sie wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr. Eigentlich müsste Max längst da sein. Jetzt ist schon über eine halbe Stunde seit seinem Anruf vergangen. Sie blättert die Seite um. Für einen Eintrag reicht es vielleicht noch.
Adalbert Messerschmidt, Jahrgang 1910, 42 Jahre alt, Maschinenschlosser, wohnhaft Riemannstraße
Guten Morgen, junges Fräulein. Ich habe schon gehört, dass Sie eine ganz Neugierige sind. Also, hereinspaziert, setzen Sie sich und schießen Sie los.
An den 8. April 1945 kann ich mich gut erinnern. An jenem Sonntagmorgen habe ich ausführlich die Wochenendausgabe |86|der Celleschen Zeitung gelesen. Es gab die Tipps für den Gartenfreund und den neuen Teil des Fortsetzungsromans von Hermann Löns: Der Wehrwolf. Gerade an jenem Tag war es besonders spannend. Der Wulfsbauer und die anderen jagten ihre Feinde wie die Hasen.
Kennen Sie das Buch? Nein? Das müssen Sie lesen.
Ja, kommen wir zu dem Sonntag zurück. Ich hatte zu der Zeit Genesungsurlaub, eine Beinverletzung aus Frankreich. Damals …, ich will jetzt nicht zu weit ausholen, aber ich hinke noch heute wegen dieser Granatsplitter. Ich kann froh sein, dass ich so glimpflich davongekommen bin. Viele meiner Kameraden hat es viel schlimmer erwischt. Manche sind gar nicht wieder heimgekommen.
An jenem Sonntag ist meine Frau mit unserer Tochter am späten Vormittag in der Schuhstraße gewesen. Das war eine seltsame Stimmung an jenem Tag. In der Zeitung wurden zwar immer noch Durchhalteparolen verkündet, aber die Front rückte näher, das wusste jeder. Keiner ließ sich durch den Fliegeralarm abschrecken. Meine Frau und unsere Tochter, die Marianne, haben ihre Einkäufe erledigt und sind gegen Mittag zurückgekommen. Meine Frau war müde. Sie hat Herzprobleme, seit unser Sohn an der Ostfront gefallen ist. Da ist sie bis heute nicht drüber weg.
Ich habe nach dem Mittagessen im Garten gearbeitet. Der Frühling lag in der Luft und ich wollte den Boden vorbereiten, um die Einsaat …
Ja, mein Garten liegt direkt gegenüber vom Güterbahnhof.
Ein Zug stand dort. Stimmt. Der war ziemlich lang und hatte offene Metall- und Holzwaggons, in denen Leute saßen. Immer wieder haben sie etwas aus den Waggons getragen. Was die Leute anhatten? So genau konnte ich das auch nicht sehen, ich habe |87|mir ja kein Fernglas geholt. Außerdem waren die meistens in Decken gewickelt.
Also gut, der Stoff war gestreift. Die SS-Leute standen direkt neben dem Zug; die hatten Gewehre geschultert, manche sogar im Anschlag. Ich habe mich da nicht weiter drum gekümmert. Ich misch mich nicht in Dinge ein, die mich nichts angehen. Das bringt nichts. Nur Ärger.
Bei der Bombenwarnung ging ich mit der Marianne und meiner Frau sofort in den Keller. Der ganze Wahnsinn dauerte dann eine Stunde. Danach lag die Gegend um den Bahnhof herum in Trümmern. Überall nur Dreck und Qualm. Immerzu hörte man es krachen und ununterbrochen schrie jemand. Es stank fürchterlich nach Verbranntem, und kleine schwarze Papierfetzen schwebten wie Schneeflocken vom Himmel.
Ob uns etwas aufgefallen ist? War das nicht genug?
Was danach war?
Wo Sie so fragen – etwas irritierte mich damals. Als der Fliegeralarm kam, musste ich meine Laube überstürzt verlassen. Nicht einmal abgeschlossen hatte ich. Später am Abend bin ich zurück in den Garten, wollte nach dem Rechten sehen und meine Jacke holen. Die hatte ich am Nachmittag liegengelassen. Aber sie war weg. Meine Arbeitssachen fehlten auch. Sogar die Flasche Korn, die zur Reserve dort stand, falls jemand mal zu Besuch vorbeikäme.
Stattdessen lag ein Haufen schmutziger, graublau gestreifter Kleidungsstücke unter der Sitzbank und ein paar blutige Stofffetzen aus dem gleichen Material.
Nein, ich habe nicht weiter darüber nachgedacht, sondern bin in die Wohnung gegangen. Und jetzt ist es genug, auf Wiedersehen.
|88|Dora Müller, Jahrgang 1908, 44 Jahre alt, Stenotypistin, wohnhaft Denickestraße
Sie wohnen also bei der Elfriede. Setzen Sie sich, Fräulein Clara. Wollen Sie eine Tasse Kaffee trinken? Und ein Stück Butterkuchen? Wirklich nicht? Aber Sie sehen ganz mitgenommen aus. So schmal. Hier, bitte, seien Sie nicht so schüchtern.
Es ist schön, Besuch zu bekommen. Als Witwe ist man viel allein. Mehr als einem lieb ist. Früher, als mein Mann noch lebte, … Aber lassen wir das. Sie sind so jung, Sie sollten sich mit diesen alten Geschichten nicht plagen. Das ist alles vorbei und vergessen. Das interessiert keinen mehr. Schon gar nicht in Amerika. Genießen Sie lieber das herrliche Wetter. Da hinten im Neustädter Holz kann man wundervolle Spaziergänge machen oder im Wietzenbruch. Da ist es richtig idyllisch, eine wunderbare Heidelandschaft. Gehen Sie dort den Hermann-Löns-Weg entlang.






