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Was, Sie kennen unseren Heimatdichter nicht? Der hat so schöne Gedichte über die Heide geschrieben, auch einiges über Celle. Der hat die Seele der Menschen hier verstanden.
Das Ende des Krieges war eine schlimme Sache. Alle reden ja immer nur davon, was wir Deutschen angeblich gemacht haben. Keiner redet von dem Leid, das wir erlitten haben. Da wurde keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung genommen. Überhaupt nicht. Ganz zum Schluss fielen Bomben auf Celle. Völlig überflüssig, der Engländer stand doch sowieso vor den Toren. Das wussten alle, trotzdem mussten die Amis vorher alles kaputtmachen.
Ja, das war der 8. April, ein Sonntag. Ich kann mich genau erinnern. Meine Mutter war früh in die Stadt gegangen. Es sollte Bohnenkaffee geben. Endlich mal wieder. Kaffee war zu der |89|Zeit eine Rarität. Ich blieb zu Hause, weil ich am Nachmittag arbeiten musste.
Erst gab es Voralarm. Dreimal kurz mit der Sirene. Das war am Vormittag. Hat aber keiner drauf reagiert. Meine Freundin kam gegen Mittag vorbei und sagte, dass die Erdölraffinerie in Nienhagen getroffen sei. Alles brannte dort lichterloh und man sah von meinem Küchenfenster aus den schwarzen Rauch am Himmel. Sie wollte mit dem Fahrrad dorthin fahren. Das ist nämlich eine ganz Neugierige, die Babette; aber ich blieb daheim. Schließlich habe ich drei Kinder und mein Mann ist im letzten Kriegswinter gefallen. Da konnte ich mir solche Sperenzien nicht erlauben.
Vorsichtshalber habe ich wegen des Alarms unseren Keller überprüft. Ich hatte so ein komisches Gefühl, aber mein Ältester, der Herbert, hatte alle Fenster vernagelt, sogar die Wände mit Kanthölzern versteift. Der Herbert war mir mit seinen 14 Jahren sowieso eine große Hilfe. Auf den konnte ich mich immer verlassen. Nur in jenen Tagen war er kaum da. In den Osterferien hatten die mit so einem Wehrertüchtigungslager in der Hehlentorschule angefangen und jeden Tag gab es Übungen. An dem Morgen hatte er mir stolz erzählt, dass er vielleicht sogar als Flakhelfer ran dürfte. Da habe ich gelacht. Die Flak war doch bis dahin in Celle noch nie zum Einsatz gekommen.
Meine Mutter kam mit dem Kaffee und dem frischen Brot gegen drei Uhr am Nachmittag zurück, das weiß ich genau. Sie musste auf die kleinen Kinder aufpassen. Ich musste ja zum Schloss, da habe ich nämlich als Stenotypistin gearbeitet. Im Schloss war die Luftschutz-Befehlstelle unter dem Befehl von Oberbürgermeister Meyer untergebracht.
Nein, mit dem hatte ich nicht viel zu tun. Ich saß nicht bei |90|ihm im Zimmer, das war die Elvira, aber natürlich hat man das eine oder andere mitbekommen, Elvira redet gerne.
Martha geht zum Wasserhahn und trinkt einen Schluck Leitungswasser. Vom Fenster aus sieht sie Beckmanns Auto auf den Hof fahren. Er scheint neue Prioritäten zu setzen, so sauber hat sie den alten Volvo noch nie gesehen.
Martha stellt das Glas auf der Spüle ab und fährt sich durch die Haare. Soll sie ihm die Tür öffnen?
28
Felix rennt, ohne hinzusehen, weiter, stolpert über eine knorrige Baumwurzel und fällt flach hin. Unter den Knien fühlt er spitze Äste, mit der Nase liegt er in einer Heidelbeerpflanze, atmet den fauligen Dunst gegorener Früchte ein.
Wieder peitscht ein Schuss an ihm vorbei, gefolgt von grölendem Gelächter.
»Hast du den gesehen?« Matusch lacht immer lauter. »Der läuft wie ein Hase.«
Felix krabbelt in gebückter Haltung weiter, sucht Schutz hinter einer Reihe dichter Büsche. Erneut ein Schuss, keine zwei Meter entfernt von ihm. Am Ende des Grabens steht eine dickstämmige Birke. Er wartet den nächsten Schuss ab, dann sprintet er los. Nach drei Sätzen hat er den schützenden Stamm erreicht. Plötzlich hört er Motorengeräusche. Der Nissan nähert sich. Und jetzt?
Ohne nachzudenken, rast er los, spürt weder den Schmerz in den Rippen, noch am Kopf, geschweige denn den an Knien |91|und Waden. Die nächste Kugel trifft den Birkenstamm; da ist Felix aber schon über die ausgetrocknete Furche gesprungen, hat die krumme Kiefer hinter sich gelassen und durchquert ein wogendes weißes Meer von Wollgras, um zu dem schützenden Dickicht zu gelangen. Wieder ein Pistolenschuss, doch dieses Mal in erheblicher Entfernung. Felix atmet durch. Hoffentlich schafft es der Kerl mit dem Auto nicht über den Graben.
Felix macht einen Sprung ins Buschwerk, Zweige peitschen in sein Gesicht. Er rennt, ohne zu denken, quetscht sich durch dornige Sträucher und kommt auf einer breiten Ebene mit Glockenheide heraus. Die Kratzer im Gesicht bluten, aber das bemerkt er genauso wenig wie die anderen Schmerzen. Atemlos drückt er sich an einen Birkenstamm und lauscht. Stille. Außer dem Surren der Insekten ist nichts zu hören. Vorsichtig löst er den Knoten des Knebels, wischt sich mit dem Unterarm über die Lippen und spuckt aus.
»Verdammte Schweine!«, flucht er. Sein Selbstmitleid ist in Wut umgeschlagen. Irgendwie muss er hier heil wieder rauskommen – und dann könnten die beiden was erleben.
Felix atmet einmal tief ein, dann läuft er weiter. Er schlägt einen Haken, überspringt eine Furche, quert eine wildwuchernde Fläche mit Heidelbeeren. Seine Füße laufen wie von alleine. Als er einen tiefen Graben vor sich sieht, springt er hinein und presst seinen Bauch fest auf den moorigen Boden. Die Angst lässt sein Herz bis zum Hals schlagen. Ist es klug, hier liegen zu bleiben?
|92|29
Auf Beckmanns Klopfen antwortet niemand. Er öffnet nach dem dritten Versuch die Tür und betritt die Wohnküche, die den Mittelpunkt des renovierten Fachwerkhauses bildet. Martha sitzt auf dem Sofa und liest. Mit ausdruckslosem Gesichtsausdruck hebt sie die Augen und sieht ihn an. Kein Gruß kommt über ihre Lippen.
»Ich dachte schon, du wärst noch mal fortgegangen.«
»Hallo Max.« Sichtlich um einen gelangweilten Ton bemüht, verschränkt Martha die Arme vor ihrer Brust. Sie mustert Beckmann von oben bis unten. Sein Igelschnitt ist verschwunden, die Haare sind länger. Das steht ihm gut. Er ist unrasiert, graue Bartstoppeln sprießen. Das macht ihn älter. Aber vielleicht stehen junge Mädchen auf so etwas. Marthas Blick wandert zu seinem Bauch. Er ist schlanker geworden. Ein guter Hahn wird selten fett. Sie zieht die Arme noch enger an sich.
»Was ist passiert?« Beckmann sucht ihre Augen, doch Martha starrt an ihm vorbei zum Gläserschrank. Blass sieht sie aus, fremd und doch vertraut. Warum lächelt sie ihn nicht wenigstens einmal an? Sie kann sich doch denken, dass es für ihn auch nicht leicht ist, einfach wieder vor ihrer Tür zu stehen, als wäre nichts passiert. Aber was ist eigentlich passiert? Diese eine Nacht, dieser eine Ausrutscher. Beckmann möchte Martha am liebsten an sich drücken, sie trösten, aber er traut sich nicht.
Martha starrt auf den Holzfußboden. Was ist passiert? Was für eine blöde Frage. Vieles ist passiert, seit sie ihn das letzte |93|Mal gesehen hat. Soll sie ihm etwa sagen, dass sie sich elend fühlt, dass sie ihn vermisst hat?
»Nun sag schon!« Beckmann wirft ihr einen aufmunternden Blick zu, obwohl er sich von Sekunde zu Sekunde unwohler in seiner Haut fühlt. Wenn sie ihn doch wenigstens einmal ansehen würde. Er hat schon immer gut in ihren Augen lesen können. Dort und nirgends anders zeigen sich ihre Gefühle.
Endlich lösen sich Marthas Augen vom Fußboden.
»Trixi hat heute Morgen einen Toten im Golfclub entdeckt.«
Immerhin hat sie geredet und immerhin hat sie aufgeschaut. Wenn auch nur Richtung Fenster. Unsicher, was er machen soll, steht Beckmann immer noch vor der Eingangstür.
»Was machst du eigentlich im Golfclub?«
»Ich lerne Golf.«
»Du?«
Täuscht sie sich oder zwinkert er ihr mit dem rechten Auge zu?
»Du hast dich doch früher immer darüber lustig gemacht.«
Wehe, er wiederholt jetzt diesen Witz. Dann fängt sie sofort an zu schreien.
Beckmann macht einen Schritt auf sie zu. Haben Sie noch Sex oder golfen Sie schon? Nein, das lässt er besser. Und jetzt? Beckmann zögert erneut, dann legt er seinen Arm auf ihre Schulter. Martha macht sich bei der Berührung steif. Trotzdem geht es ihr sofort besser.
Ihre zu Fäusten zusammengeballten Finger öffnen sich und sinken langsam auf ihre Oberschenkel. Beckmann tritt noch |94|dichter an sie heran und legt seinen anderen Arm um ihre Taille.
Martha lehnt vorsichtig ihren Kopf an seine Schulter. Sein vertrauter Geruch tut ihr gut.
30
»Wo steckt Felix nur?« Sonja schaut auf ihre Uhr. »Er ist schon mehr als drei Stunden fort.«
Ihr Bruder verzieht den Mund. »Das dauert eben länger. Hier, sieh dir mal die Seite im Internet an. Wir für Niedersachsen. Die Autonomen sind die Vermummten, die kaum einen Satz richtig herauskriegen – und die »Aufrechten Deutschen« tragen hübsche ordentliche Pullis, akkurate Haarschnitte und sind die mit den erstrebenswerten Idealen.«
Ali tippt auf die Taste für die Lautstärke. Klar und deutlich sind die Stimmen zu hören: »Wir sind für ein Leben in Gemeinschaft und Verlässlichkeit.« »Nicht der Konsum soll im Mittelpunkt stehen, sondern gemeinsame Erlebnisse, die Kameradschaft.« »Freie Menschen statt freie Märkte.«
Ali dreht den Monitor zu seiner zwei Jahre älteren Schwester herum. »Könnte glatt von dir sein.«
Sonja schaut nicht hin. Ihre Unruhe wächst von Minute zu Minute. Felix wollte nur kurz zu dem Haus. Ein paar Fotos machen, das kann doch nicht so lange dauern. Danach wollte er sich sofort melden. Die Aufnahmen sollten schließlich noch mit ins Netz gestellt werden.
»Ich fahre da jetzt hin. Vielleicht ist etwas passiert.«
»Quatsch, der ruft bestimmt gleich an. Außerdem: Was |95|hast du plötzlich mit diesem Felix? Läuft da was?« Ein breites Grinsen umspielt Alis Mund.
»Quatsch!« Ihre Stimme ist eine Nuance schriller als sonst. »Das nennt man Solidarität. Musst du dir mal merken.«
31
Goldmann zeigt auf den flachen Anbau neben dem Geräteschuppen. In den Auslagen sind Golfschläger, Taschen, Hemden und Pullover zu sehen.
»Hier bekommen Sie alles, was sie auf der Runde brauchen. Handschuhe, Tees – und Bälle verschiedenster Fabrikate.«
Borgfeld und Streuwald öffnen die Tür. Eine helle Glocke klingelt. Kaum haben die beiden zusammen mit dem Präsidenten des Golfclubs den Laden betreten, tritt eine gut aussehende Frau um die vierzig hinter einem Regal hervor, grüßt in die Runde und streckt dem Präsidenten ihren Handrücken entgegen.
»Guten Morgen, meine liebe Ina. Ich dachte, Frau Zistrow ist heute da«, begrüßt Goldmann sie und senkt sein Haupt zum angedeuteten Handkuss.
»Die ist krank und hat mich gebeten, sie zu vertreten – dabei hatte ich eigentlich etwas Besseres vor«, seufzt sie und schlägt die Wimpern entnervt hoch. »Und dann das hier. Schrecklich, dieser Tote.«
»Wirklich, kein erfreulicher Tag für unseren Club.« Goldmann zeigt auf die Polizisten. »Die Polizei hat grünes Licht zum Spielen gegeben. Nur der Caddyraum bleibt weiter gesperrt.«
|96|Sie schüttelt ungläubig den Kopf. »Aber die meisten haben doch ihre Sachen dort in den Schränken.«
»Genau, meine Liebe. Das ist es ja. Darf ich dir übrigens vorstellen: Kommissar Streuwald und … wie war doch noch gleich Ihr werter Name?«
»Mein Name ist Borgfeld. Kommissar Dieter Borgfeld. Entschuldigen Sie, dass wir hier bei Ihnen so viel …«, er ringt nach passenden Worten und entscheidet sich schließlich für »Unruhe reinbringen«.
Streuwald mustert Borgfeld verwundert. Borgfeld interessiert sich sonst nie dafür, was andere Leute denken, wenn er im Einsatz ist. Im Gegenteil. Aber das ist nicht das Einzige, was Streuwald wundert.
Normalerweise muffelt Borgfeld um diese Uhrzeit jeden an, der etwas von ihm will, weil es Zeit zum Mittagessen ist. Heute liegt seine letzte Mahlzeit, wenn man die abgezählten Möhrenspalten denn so nennen kann, schon Stunden zurück. Normal wäre es, wenn Borgfeld jetzt eine Attacke schlechter Laune bekäme. Doch heute ist nichts normal. Statt zu nörgeln, zieht Borgfeld den Bauch ein und streckt seine Brust heraus.
»Zeigen Sie uns doch bitte die Golfbälle mit dem Aufdruck Ihres Clubs«, säuselt er eine Tonlage höher als sonst. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Die liegen hier vorne«, die mit Ina angesprochene Dame lächelt Borgfeld an. »Sehen Sie? Gleich hinter den Golfschlägern.«
Borgfeld macht einen Schritt auf sie zu und steht jetzt direkt neben ihr an dem Verkaufstisch.
»Wie viele von diesen Bällen haben Sie denn bereits verkauft?« |97|Während er die Frage stellt, starrt er ihr die ganze Zeit auf den knallrot mit Lippenstift nachgezogenen Mund.
»Das kann ich nicht genau sagen, dazu müsste ich in den Unterlagen nachsehen. Aber ein paar Hundert sind es jedes Jahr. Außerdem kauft der Club selbst einen größeren Teil.« Sie dreht sich um und ihre Brust streift Borgfelds Oberarm, der wie elektrisiert zusammenzuckt.
»Warum?«, stammelt er und wird rot.
»Die Bälle werden auf den Clubturnieren als Preise gestiftet. Natürlich muss der Verein sie vorher kaufen.«
Streuwald schaut verstohlen auf die Uhr. 14:20 Uhr. Scheiße, in einer dreiviertel Stunde fängt das Spiel an. Langsam wird es eng.
»Wie viele werden im Jahr so verkauft?«, schaltet sich Streuwald ein, um das Gespräch abzukürzen.
»Wie gesagt, ich sehe gerne nach. Es sind meist mehrere hundert. Nur einmal hatten wir einen Fehldruck. Da stimmten die Farben nicht. Aber das ist schon lange her.« Sie lächelt abwechselnd beide Polizisten an. »Sehr lange.«
14:25 Uhr. Die Zeit rast dahin. Streuwald muss auf die Tube drücken, wenn er es noch rechtzeitig schaffen will.
»Kann ich eine Liste haben, wer im Club einen solchen Ball besitzt?«, drängelt er.
»Nein«, sie lacht hell auf, und ihre goldenen Armreifen klirren, als sie sich durch die halblangen blonden Haare fährt.
»Das bringt nichts. Jeder könnte so einen Ball haben. Sogar mehrere. Da könnten Sie gleich die Liste aller Clubmitglieder nehmen.«
|98|Als die beiden wieder draußen sind, ergreift Streuwald die Initiative.
»Dieter, lass uns eine Pause machen. Die Spurensicherung ist durch, die schreiben jetzt den Bericht. Der Tote ist unterwegs in die Rechtsmedizin – und die aus Hannover wuseln überall herum.«
»Hast du die Frau gesehen? Dieses Lächeln …«
»Nun komm mal wieder auf den Teppich.«
»Ich mein ja nur …«
»Erzähl mir das im Auto.« Er schlägt Borgfeld freundschaftlich mit der flachen Hand auf die Schulter. »Wenn ich durchfahre, schaffe ich es bis zum Anpfiff.«
»Und was soll ich da?«
»Im Vereinshaus macht Fritze die besten Mettbrötchen der Umgebung und seine Frikadellen sind Legende. Ich lad dich ein.«
Borgfeld überlegt. Aber nur kurz.
32
»Ausgezeichnet, wie Sie alles im Griff haben.«
Wörstein hat mit seinem Gast eine Runde durch das Haus gedreht. Jetzt stehen sie in dem ehemaligen Aufenthaltsraum des Landschulheims, der als Besprechungsraum genutzt wird. Rechts steht ein mächtiger eichener Sekretär aus der Gründerzeit, links eine schwarzlederne Sitzgarnitur, in der Mitte ein gedeckter Tisch.
»Nehmen Sie Platz, mein Lieber, ich lasse uns gleich etwas zu essen bringen.« Wörstein deutet auf den Esstisch.
|99|Sein Gast steuert jedoch nicht den angebotenen Stuhl an, sondern den Schreibtisch, auf dem die bronzene Skulptur eines Adlers sein Interesse geweckt hat. Der Raubvogel hat die Flügel weit ausgebreitet. Seine Finger betasten den glatten Stein.
»Prächtiges Exemplar. Sorgfältig gearbeitet. Man weiß nicht, ob er sein Opfer gerade im Visier oder es schon erlegt hat. Trefflich. Habe so ein ähnliches Stück bei mir zuhause.«
Wörstein tritt zu ihm heran. »Das ist ein besonderes Stück. Kamerad Taubold von der Waffen SS Kameradschaft Österreich hat es für das Schulungsheim gestiftet.«
»Es geht eben nichts über eine funktionierende Kameradschaft. Das ist besser als eine Familie.« Der kräftige Mann mit der ausgeprägten Hakennase hebt die Skulptur an, die auf einem viereckigen marmornen Sockel befestigt ist. »Wie weit ist die andere Sache gediehen?«
»Die Vollmacht für die Banken und Ihr Testament habe ich vorbereitet. Wie verabredet.« Ein Grinsen huscht über Wörsteins sonst so starres Gesicht. »Der Großteil Ihres verbliebenen Vermögens fließt in die Stiftung. In den Feinheiten habe ich jetzt Formulierungen gefunden, die gewährleisten, dass die Stiftung auf Dauer das Ziel verfolgt, alle Aktivitäten zu unterstützen, die unsere Bewegung an die Macht bringen. Ich kümmere mich um alles und bleibe auch der Vorsitzende. Für Ihre Frau und Ihre Tochter bleibt ein Pflichtteil übrig.«
»Muss das sein? Die haben doch schon genug bekommen.«
»Sie können auch vor Ihrem Tod das gesamte Geld der Stiftung vermachen, dann können wir uns diesen Pflichtteil unter Umständen sparen.«
»Darüber muss ich nachdenken.«
|100|In diesem Moment klopft es an der Tür.
»Wer ist da?«
Die Tür öffnet sich und der Kopf von Matusch schiebt sich herein.
»Was gibt es, Matusch?«, zischt Wörstein. Er mag es nicht, wenn er gestört wird.
»Die ersten Neuzugänge fürs Wochenende sind eingetroffen.«
»Das heißt: Melde gehorsamst, die Neuzugänge sind eingetroffen, Kamerad Freiherr zu Wörstein.«
Matusch wiederholt den Satz, obwohl er es hasst, sich wie ein Zirkuspferd vorführen zu lassen. Nur weil dieser alte Sack da mit seinem dicken Schlitten angerauscht gekommen ist, hat er noch lange keine Lust, hier den Affen zu machen.
»Da ist noch was.«
»Da ist noch etwas, Kamerad Freiherr zu Wörstein.«
»Da ist noch etwas, Kamerad Freiherr zu Wörstein«, leiert Matusch herunter.
»Ich höre.«
»Da war jemand auf dem Grundstück, Kamerad Freiherr zu Wörstein.«
»Und?«
»Wir haben ihn …«, er zögert einen kurzen Moment, »… wir haben ihn verscheucht, Kamerad Freiherr zu Wörstein.«
Von dem kleinen Ausflug würde er nichts sagen, sonst müsste er das alles in diesem gedrechselten Ton abkaspern, den Wörstein vor diesem Typen hören will.
Wörstein nickt kurz, obwohl ihm diese Mitteilung ganz und gar nicht gefällt; vor seinem Gast möchte er jedoch das Thema nicht vertiefen.
|101|»Zeig den Neuen die Zimmer, Matusch. Wir reden später.«
Wörstein ist beunruhigt. Ungebetene Gäste behagen ihm nicht. Er ist ein Mann von Prinzipien und möchte nicht von Entwicklungen überrumpelt werden. Er ist es gewohnt, die Linie vorzugeben. Wie beim Schach. Immer drei Züge weiter denken, am besten fünf – und die des Gegners ebenfalls im Voraus kalkulieren, damit man von keinem Gegenzug überrascht wird.
Zum Glück hatte er Matusch fürs Grobe. Der erledigt kleine Aufträge, ohne viel nachzufragen. Schon als er ihn das erste Mal gesehen hatte, wusste er, dass er der Richtige ist. Die grenzenlose Wut, die in dem ungehobelten Jungen steckt, die ständige Gewaltbereitschaft. Einer, der zuschlägt, ohne vorher zu fragen, einer, der das Gesetz der Straße beherrscht, der keinem Konflikt aus dem Weg geht. Im Gegenteil. Dennis Matuschenko provoziert gerne und haut erbarmungslos zu. Das ist das Einzige, was er gut kann, dafür trainiert er jeden Tag.
Es war nicht leicht für ihn als Anwalt, den Richter und den Staatsanwalt zu überzeugen, dass sie seine Strafe zur Bewährung aussetzen. Körperverletzung ist kein Kavaliersdelikt. Vorsätzliche schon gar nicht.
»Was für eine Chance hatte Dennis denn?«, fragte er den Richter und zeigte auf Dennis, der statt des kahlgeschorenen Schädels mit akkuratem Seitenscheitel vor Gericht erschienen war. »Seine Großeltern mussten aus Schlesien flüchten und landeten nach etlichen Fehlstarts in Hannover. Seine Mutter hat es nie bis zur Berufsausbildung geschafft. Mit siebzehn wurde sie schwanger und lebt seitdem von der Sozialhilfe. Dennis Matuschenko ist in Vahrenheide aufgewachsen, |102|in einer Umgebung, die so heruntergekommen ist, dass man das Hochhaus, in dem er wohnte, abgerissen hat, weil man die sozialen Probleme in diesem Umfeld nicht mehr in den Griff bekam.«
Als Wörstein nach diesem Vortrag den Gesichtsausdruck des Richters taxierte, wusste er, dass er ihn in der Tasche hatte – und Matusch für immer auf seiner Seite.
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