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Gernholt war vierzehn gewesen, als er verkrüppelt wurde. Bei einem der Kämpfe um den Besitz von Niflungenland hatte er seinen Schwertarm verloren und zu allem Unglück auch noch eine Verletzung am linken Bein davongetragen. Seitdem hinkte er. Mit eisernem Willen hatte er gelernt, das Schwert mit der linken Hand zu führen, aber das war doppelt schwer, wenn einen das Bein, das dabei das meiste Gewicht tragen musste, im Stich ließ. Die Verkrüppelung hatte ihn launisch gemacht. Man konnte nie vorhersagen, in welcher Stimmung er sich gerade befand. Die meisten Menschen gingen ihm deshalb aus dem Weg, was ihm durchaus recht war. Es gab Zeiten, da konnte er keine Gesellschaft ertragen. Am allerwenigsten die eigene.
Die Auswertung der Waffenübung wurde durch die Ankunft zweier Reiter unterbrochen, die langsam über die Viehweide geritten kamen. Anführer schien ein kaum achtzehnjähriger Jüngling zu sein, der einen auffälligen Fuchsschecken ritt. Auf den ersten Blick konnte man sehen, dass er großes Heil besaß. Alles an ihm drückte Selbstbewusstsein aus, das Selbstbewusstsein eines Mannes, dem nichts fehlschlug. Sein untersetzter Begleiter machte den Eindruck, dass er den Annehmlichkeiten des Lebens nicht abgeneigt war, doch die niemals stillstehenden Augen legten ein beredtes Zeugnis seiner Wachsamkeit ab.
Vor den Niflungen zügelten die Reiter ihre Pferde und sprangen ab. Sie waren staubig von der Reise, aber gut gekleidet. Der Blonde hob den Arm zu einem Gruß. »År ok friðr!«, sagte er mit nordischem Akzent. »Jungherr Sigfrid von Tarlungenland und sein Gefolgsmann Eckewart bitten um Eure Gastfreundschaft.«
Die Brüder sahen sich an, nur Hagen hatte sich so weit unter Kontrolle, dass bis auf ein Zucken seiner Wangenmuskeln nichts die Gefühle verriet, die der Name in ihm hervorrief. Natürlich kannten sie den Sachsen. Die Geschichte von seinem Kampf mit dem Drachen war Gesprächsstoff von Wilzenland bis Hesbanien, von der Heimat der Nordmänner bis zu den Überresten des Römischen Reiches. Neugierig musterten sie den Mann, dessen Taten sie so oft in den Liedern der Skopen gehört hatten.
Sigfrids Haut war dunkel und verhornt, aber sein Gemüt so sonnig wie das blond gelockte Haar, das ihm in den Nacken fiel. Er trug ein weißes Leinenhemd und Hosen, die an den Waden mit Lederriemen umwickelt waren. An seinem Gürtel hing ein zweischneidiges Langschwert, vermutlich das viel besungene Mimung. Obwohl sein Körper durchtrainiert und in zahllosen Schlachten gestählt war, fehlte ihm die ständige Alarmbereitschaft, die kampferprobten Kriegern eigen war. Das hervorstechendste Merkmal war jedoch sein gewinnendes Lachen. Es fiel schwer, ihn nicht auf Anhieb zu mögen.
Die Sachsen ihrerseits nahmen unterdessen die Niflungen in Augenschein. Eckewarts Aufmerksamkeit galt vor allem dem Einäugigen. Ob es zutraf, was man sich erzählte? Dass der Waffenmeister zur Hälfte ein Schwarzalbe war? Er hätte ihn gern danach gefragt, aber ein Blick in das grimmige Gesicht belehrte ihn, dass es vermutlich gesünder war, dies zu unterlassen.
Hagen konnte die Gedanken des Dicken lesen wie das Runen-Futhark und spürte, wie sich der altbekannte Zorn in seinem Magen sammelte. Stellt die Frage, schrie es in ihm, und ich werde sie Euch mit meinem Schwert beantworten! Aber der Sachse schien zu spüren, was gut für ihn war, und wandte den Blick ab.
Gunter hieß die Gäste willkommen und führte sie in das Innere des Wehrzauns.
Das ehemalige Kastell Tolbiacum war den Bedürfnissen der Rheinfranken angepasst worden. Beackerte Felder und Viehweiden breiteten sich innerhalb der Festungsmauern aus, das impluvium eines Hauses, das einst einem reichen Bürger Roms gehört hatte, diente nun als Viehtränke. Von der Pracht römischer Baukunst war nicht viel geblieben, obwohl König Aldrian sich Mühe gegeben hatte, einige Ruinen instand zu setzen.
Sigfrid war beeindruckt, dass die Niflungen in steinernen Häusern wohnten, aber es kam ihm auch unnatürlich vor. Im Stein zu leben war etwas für Wölfe und Schwarzalben. Der Ort selbst allerdings war gut gewählt. Mit dem Blick des Kriegers hatte Sigfrid schon während sie sich Tolbiacum näherten die strategisch günstige Lage des vicus im Kreuzungspunkt der alten römischen Fernstraßen erkannt. Und nicht nur der taktische Aspekt kennzeichnete die kluge Wahl, auch die Fruchtbarkeit des Bodens war nicht zu übersehen. Die Macht der Erde war stark im Land der Niflungen.
Ivo, der Stallbursche, kam herbeigeeilt und nahm die Pferde in seine Obhut. Er war ein schmutziger Junge mit vorstehenden Zähnen, aber es gab niemanden weit und breit, der größeres Heil im Umgang mit Tieren besaß. Die Pferde schienen es zu spüren und ließen sich willig von ihm in den Stall führen.
Gislher, der Sigfrid bislang nur in stummer Verehrung angestarrt hatte, konnte sich nicht länger bezähmen. »Ist das das berühmte Schwert?«, fragte er, auf Mimung deutend.
»Ja. Mimes Meisterschwert. Wollt Ihr es sehen?« Ohne eine Antwort abzuwarten legte Sigfrid die Hand um den goldverzierten Griff. »Geben kann ich es Euch nicht, denn es hat ein eigensinniges Wesen, das durch keinen Zauber gebannt wurde. Aber sehen sollt Ihr es.« Mit einem Ruck zog er das Schwert aus der Scheide.
Wie immer spürte er die gewaltige Macht, die es durchströmte, zusammen mit der Auflehnung gegen seinen Besitzer. Mimung hatte einen unersättlichen Hunger nach Blut und konnte nicht unterworfen werden. Es war leichtsinnig von ihm, das Schwert grundlos herauszufordern, aber es bereitete ihm jedes Mal Vergnügen, sich mit der Klinge zu messen. Ihr Singen und Funkeln war von atemberaubender Schönheit und suchte ihren Herrn in seinen Bann zu ziehen, um ihn zum Töten zu verleiten. Es war ein Kampf Wille gegen Wille, und es brauchte Sigfrids ganze Kraft, um Mimung im Zaum zu halten. Gewaltsam zwang er das protestierende Schwert in die Scheide zurück.
»Was für eine Waffe!«, hauchte Gislher.
Hagen war den anderen gefolgt, nachdem er die Übungsschwerter eingesammelt und sein Wolfsfell umgelegt hatte, das ihn als Auserwählten kennzeichnete, als Krieger des Kampfbundes im Zeichen des Wolfes. Er trug es nicht aus Eitelkeit, sondern als Mahnung an sich selbst. Es gehörte zu seinem Leben vor König Aldrian, zu einem Leben, an das er nur mit Schaudern zurückdachte. Der Pelz erinnerte ihn beständig daran, wie nahe er daran gewesen war, ein Neiding zu werden, und dass seine Dankesschuld an die Niflungen nicht hoch genug anzusetzen war.
Scheu deutete Sigfrid auf das Fell. »Ihr habt Wodans Kampfekstase über Euch kommen lassen?«
Hagen nickte gleichgültig.
»Wenige haben den Mut dazu. Ich würde fürchten, mich in der Großen Dunkelheit zu verirren und den Weg zurück nicht mehr zu finden. Habt Ihr Euer Auge in einem Berserkerkampf verloren? Oder hat das etwas mit Eurer albischen Vergangenheit zu tun?«
Die Niflungen erstarrten zu Salzsäulen. Sie konnten nicht fassen, dass jemand die Kühnheit besaß, Hagen direkt nach einer so intimen Sache zu fragen. Selbst Eckewart, der die unbekümmerte Art seines Herrn gewohnt war, zuckte zusammen.
Hagens erster Impuls war, zum Schwert zu greifen, aber er bezähmte sein heißes Blut und zwang sich zur Ruhe. Sigfrid war Gunters Gast. Außerdem hatte keine Verachtung in den Worten des Sachsen gelegen. Er war einfach ein dummer Junge, der den Mund aufmachte, ohne nachzudenken. »Das geht Euch nichts an«, erwiderte der Waffenmeister schroff.
»Habe ich Euch beleidigt? Tut mir leid. Vermutlich seid Ihr der Meinung, man sollte meinen vorlauten Mund stopfen.« Sigfrid lachte. »Mein Vater würde Euch zustimmen. Ich glaube, dies war auch sein größter Wunsch.«
Selbst auf einen Mann wirkte sein Lachen entwaffnend. Verblüfft entdeckten die Niflungen, wie Hagen, der grimmige, unzugängliche Hagen, mit einem zögernden Lächeln antwortete, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete wie Wellen in einem Teich.
2.
Aufgeregt stand Grimhild inmitten eines Haufens verschiedenfarbiger Gewänder und konnte sich für keines davon entscheiden. Beim heutigen Festmahl zu Ehren der Gäste durfte sie, der Tradition der Walküren in Wodans Halle folgend, Wein und Bier reichen und die Krieger bedienen. So etwas kam allzu selten vor, sie begrüßte die Unterbrechung der alltäglichen Langeweile. Selbst die Unfreien freuten sich trotz der zusätzlichen Arbeit, denn Gäste brachten Abwechslung und für gewöhnlich auch interessante Neuigkeiten. Besonders gespannt war Grimhild auf den Mann, dessen Taten so oft von den Skopen besungen wurden. Ob Jungherr Sigfrid der Vorstellung entsprach, die sie sich von ihm machte?
Irmgard, eine Hermionin, in deren Adern noch cheruskisches Blut floss, half ihr wie gewöhnlich beim Ankleiden. Sie war ein blässliches, farbloses Mädchen, aber Grimhild schätzte sie wegen ihrer Zuverlässigkeit und weil sie sich niemals von ihrer Aufgeregtheit anstecken ließ. In der Regel schaffte es Irmgard, sie während der Ankleideprozedur so weit zu beruhigen, dass sie anschließend den Eindruck von Gelassenheit vermitteln konnte.
Endlich hatte Grimhild ihre Wahl getroffen und schlüpfte in ein blaues, durch einen kostbaren Gürtel zusammengehaltenes Leinengewand, dessen Ärmel mit Goldstickereien verziert waren. Zwei silberne Ohrringe, an denen Goldkapseln mit roten und weißen Glaseinlagen hingen, und zwei mit Ornamenten versehene Armringe vervollständigten ihren Schmuck. Sie verzichtete darauf, ihr Haar zu einer kunstvollen Frisur aufzustecken, es zeigte größere Wirkung, wenn sie es auf natürliche Weise herabfallen ließ. Allerdings hieß sie Irmgard, einige farbige Bänder hineinzuwinden.
Prüfend drehte sie sich einmal um sich selbst. In den Augen ihrer Dienerin fand sie die Bestätigung, die sie suchte, und setzte sich befriedigt auf eine Bank, um sich zu färben. Irmgard, die die Vorlieben ihrer Herrin kannte, hatte bereits verschiedene Pulver vorbereitet. Wie gewöhnlich zog Grimhild ihre blonden Brauen mit Stibium nach und betonte auch die Wimpern mit dem schwarzen Pulver. Dann legte sie geriebenen Rötel auf die Wangen. Die Lippen färbte sie meist mit Heidelbeersaft, heute jedoch entschied sie sich für den roten Farbstoff aus der gemahlenen Wurzel des Krapps. Er schmeckte abscheulich. Grimhild verzog das Gesicht und ging zu einer Ablage. Unter Salbentöpfen aus Alabaster und Terrakottafläschchen mit Duftstoffen fand sie, was sie suchte. Dezent betupfte sie Hals und Ohren mit Rosenöl.
Zum Abschluss öffnete sie eine kleine Flasche, die den Saft der Tollkirsche enthielt. In geringen Dosen bewirkte er eine Erweiterung der Pupillen und erweckte so den Eindruck weiblicher Unschuld. Irmgard runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Vorsichtig träufelte sich Grimhild ein paar Tropfen der Tinktur in die Augen. Nach einer Weile stellte sich die bekannte Verminderung der Sehschärfe ein. Grimhild blinzelte ein paarmal, bis sie sich an die Wirkung gewöhnt hatte, dann war sie bereit.
Lärm und Gelächter erfüllten die Große Halle. In aller Eile hatten Unfreie den Saal mit Blumen geschmückt und den Fußboden gesäubert, um das herrliche Mosaik besser zur Geltung kommen zu lassen. Die Feiernden saßen auf den Langbänken, abgestuften Erhöhungen entlang der Wände. In der Mitte der nördlichen Langbank befand sich der Hochsitz für den Herrn der Burg, groß genug für zwei Personen. Sollte Gunter sich einmal verheiraten, würde seine Frau mit ihm dort sitzen. Die beiden Gäste durften rechts des Niflungenkönigs Platz nehmen.
Sigfrid, der die kargen Holzhäuser seiner Heimat gewohnt war, bewunderte die kostbaren Wandteppiche und Vorhänge. Auch das Licht in der Halle wurde nicht etwa von gewöhnlichen Kienspänen gespendet, sondern von teuren Talgkerzen und Tonlampen mit in Olivenöl schwimmenden Flachs- und Hanfdochten. Der Sachse hielt es für eine Verschwendung, Lebensmittel für Beleuchtungszwecke zu verwenden, aber er musste zugeben, dass die Lampen eine angenehme Atmosphäre verbreiteten. Das Unglaublichste jedoch war sein stechal. Es war nicht etwa ein gewöhnliches Rinderhorn, sondern bestand aus silberbeschlagenem Glas. Sigfrid hatte Scheu, aus einem solchen Kunstwerk zu trinken.
Das Essen wurde hereingebracht. In aller Eile hatte man an Leckereien zusammengetragen, was sich auftreiben ließ: Wildschweinlenden und Saueuter, gefüllte Gänseeier und Honigkuchen. Dazwischen wurden Schalen mit Quitten, Äpfeln und Pistazien gereicht. Geräuschvoll machten sich die Anwesenden über die Köstlichkeiten her.
Grimhild betrat die Halle mit einer Amphore Wein, und sogleich wandten sich ihr zahllose Augenpaare zu. Die schöne Fränkin bot aber auch einen erfreulichen Anblick und weckte in einem Mann den Wunsch, ihr gefällig zu sein, für keine andere Belohnung als ein Lächeln von ihren Lippen. Nun ja, der eine oder andere mochte eine größere Gunst im Sinn haben. Sie bemerkte es kaum, die Bewunderung der Krieger war für sie ein alltäglicher Vorgang.
»Ah, meine Schwester Grimhild!«, stellte Gunter sie vor.
Die Gäste begrüßten sie ehrerbietig.
»Ich wusste nicht, dass die Franken einen Schatz haben, gegen den der Hort des Stillen Volkes verblasst«, erwiderte Sigfrid höflich.
Grimhild verfluchte die Wirkung der Tollkirsche. Sie erkannte kaum mehr als einen konturlosen, von einem blonden Haarkranz umgebenen Fleck, dabei hätte sie gar zu gern gewusst, wie der Sachse aussah! Jede Regel des Anstands vergessend, beugte sie sich vor, um ihn besser betrachten zu können. Aus dem verschwommenen Fleck tauchte ein herzliches Lachen auf.
»Ihr seht mich an wie eine Walküre, die sich ihr Opfer erwählt.«
Über dem Lachen entdeckte Grimhild jetzt zwei verträumte blaue Augen, in die sie sich unwillkürlich hineingesogen fühlte.
Plötzlich wurde ihr bewusst, wie unhöflich sie war. Mit einem raschen Blick schätzte sie die Entfernung zu den Trinkhörnern, die die Sachsen ihr hinhielten, lenkte die Männer mit ihrem süßesten Lächeln von ihren Händen ab und hoffte, dass sie beim Einschenken nichts verschüttete.
Pflichtschuldig goss Eckewart etwas Wein auf den Boden als Trankopfer für den Hausgeist, ehe er sich selbst einen Schluck gestattete. Das Schicksal meinte es gut mit ihm! Der Tisch bog sich unter der Last der Gerichte, es herrschte eine ausgelassene Stimmung, wie er sie in den Diensten seines neuen Herrn allzu lange entbehren musste, und darüber hinaus zeigten sich hübsche Mädchen bestrebt, die Trinkhörner nicht leer werden zu lassen. Die Franken besaßen eben Lebensart. Ganz anders als die sauertöpfischen Sachsen, die nur Kampf und Tod kannten. Man brauchte bloß an den Jarl von Bertangenland zu denken, seinen früheren Herrn. Er war großzügig gewesen, gewiss, aber auch besessen davon, sich mit anderen im Kampf zu messen. Kämpfen, immer nur kämpfen!
Und Sigfrid war auch nicht besser. Zu Anfang hatte es Eckewart überhaupt nicht behagt, dass sein Gefolgsherr ihn bei jedem Auftrag dem Sachsen als Begleiter mitgab. Mittlerweile hatte er Sigfrid schätzen gelernt, so sehr, dass er den Jarl von Bertangenland dazu gebracht hatte, ihn von seinem Eid zu entbinden, um in Sigfrids Dienste treten zu können, aber zu Anfang … Sigfrid war für seinen Geschmack viel zu unstet und ruhmesdurstig. Aber wenigstens verstand er zu feiern. Deshalb hatte Eckewart schließlich seinen Frieden mit dem Schicksal gemacht und die Zeit zwischen den Festgelagen als Intermezzo betrachtet, das man eben ertragen musste als Preis für die anschließenden Freuden. Zumal er herausfand, dass man in jeder Küche einen zusätzlichen Bissen bekam, wenn man den Unfreien die Geschichte vom Kampf mit dem Drachen erzählte. Dass er nicht dabei gewesen war und die Größe des Lindwurms mit der Anzahl der in Aussicht gestellten Bierbecher wuchs, bereitete ihm keine Magenschmerzen. Half es doch, den Ruhm seines neuen Herrn zu mehren.
Mit dem genossenen Alkohol nahm der Lärm in der Halle zu. Da die Trinkhörner keine Standflächen besaßen, waren die Krieger gezwungen, sie ununterbrochen kreisen zu lassen oder in einem Zug zu leeren, ein Zwang, der manchem gelegen kam. Ansgar, ein großmäuliger, aber allseits geschätzter Gefolgsmann Gunters, war schon jetzt sturzbetrunken. Er lallte ein Lied und grölte nach Volker, dem Skopen, der ebenso unbekümmert vom anderen Ende der Halle zurückbrüllte, dass er zu singen bereit sei, sobald Ansgar sein Gekrächze aufgebe. Die Umsitzenden amüsierten sich über den Schlagabtausch.
Während Grimhild Wein einschenkte und sich hie und da auf ein paar Scherzworte oder eine Unterhaltung einließ, kehrte allmählich ihre Sehschärfe zurück. Immer wieder suchten ihre Augen den blonden Sachsen. Seine Unbeschwertheit hob ihn unter allen Anwesenden hervor. Die meisten Krieger konnten ihre Wachsamkeit auch bei einem Gelage nie vergessen, nicht so Sigfrid. Er genoss den Frohsinn des Augenblicks wie kein zweiter und strahlte eine Entspanntheit aus, die dafür sorgte, dass sich jedermann in seiner Nähe wohlfühlte. Und dann waren da noch seine Augen …
Grimhild hörte ihn über irgendeinen Scherz lachen, laut und unmelodisch, und doch traf sie dieses Lachen mitten ins Zentrum wie ein Albstich. Sie wünschte, er würde hersehen, aber er unterhielt sich angeregt mit Gunter. Warum ließ er nicht von Zeit zu Zeit seine Blicke zu ihr gleiten wie andere Männer? Ob sein Desinteresse nur vorgetäuscht war? Grimhild beschloss, es herauszufinden. »Darf ich Euch Wein nachschenken, frō Sigfrid?«
»Gern. Habt Dank für Eure Güte, frūa!«
Sein sächsischer Akzent gefiel ihr. »Es bereitet mir Freude, Euch zu dienen«, kokettierte sie und atmete tief ein, als sie sich vorbeugte. Sie wusste, welch reizvolles Bild sie damit bot. »Ist der Wein zu Eurer Zufriedenheit?«
»Er ist das Beste, was ich seit langem zu kosten bekam.« Sigfrid dankte ihr artig und wandte sich wieder dem Gespräch mit ihren Brüdern zu.
Sein Betragen war tadellos, es gab nichts daran auszusetzen. Aber es war offenkundig, dass ihm ihre Reize nichts bedeuteten. Warum wirkte ihr Zauber nicht bei ihm?
Volker hatte derweil seine Hände in einer Wasserschale gesäubert, die fünfsaitige lyra mit den geschwungenen Jocharmen ergriffen und zupfte nun ein paar Töne. Eckewart, der auf dem linken Ohr mehr oder weniger taub war, legte den Kopf schräg, um besser zuhören zu können. Die Gespräche verstummten.
»Einst war die Zeit,
da Ymir lebte.
Nicht war Stein noch Wellen
noch Baum und Strauch.
Nicht Grund unten
noch Sterne oben.
Leblose Leere,
und überall Stille.«
So sang der Skop, und seine Stimme erfüllte die Halle. Volker war ein Meister seiner Zunft. Er besaß Wodans Gabe, die Gabe der Dichtkunst. Seine Stimme war weich und voll wie Honig und rührte die Herzen der Zuhörer. Vor ihren Augen und Ohren erstanden Walhall und Hel, Helden und Dämonen. Volker sang von fernen Zeiten, als die Welt aus dem Körper des Riesen Ymir erschaffen wurde, und dann sang er vom Tod des Gottes Balder und von seinem Vater Wodan, der dem Leichnam seines Sohnes eine Rune ins Ohr flüsterte, das Geheimnis aller Geheimnisse.
Lange war es still, als er schließlich endete. »Es liegt Macht in deinen Worten«, brach Gunter das Schweigen. »Du kannst Bilder der Seele heraufbeschwören und tapfere Männer weinen machen.« Er zog einen kostbaren Ring vom Finger und warf ihn dem Skopen zu, der ihn geschickt auffing. »Nimm dies als Lohn für deine Kunst.«
Volker verneigte sich dankbar und schlug einen neuen Ton an. Den Gästen zu Ehren sang er von der Landung der Nordmänner in Haduloha, vom Kampf um den Hafen und der folgenden Zeit des Handels mit den Einheimischen. Seine Stimme veränderte sich mit der Stimmung, die er beschrieb, sie wurde bitter, wenn er von Enttäuschung sang, und schwermütig angesichts eines harten Schicksals, doch immer behielt sie ihre Klarheit. Dann schlich sich ein listiger Tonfall ein, als er erzählte, wie ein Nordmann Goldschmuck an die Einheimischen verteilte im Austausch für etwas Erde, die er in seinem Rockschoß forttrug. Die Zuhörer wurden Zeuge, wie die Nordmänner die getauschte Erde dünn über die Äcker streuten, um dann Anspruch auf das damit bedeckte Land zu erheben, und nickten einander zu. Tiefe Wahrheit lag in Volkers Worten, denn die Einheimischen hatten das Heil und die Seele der Erde fortgegeben. Ja, das war erdmegin, von solcher Macht war die Kraft der Erde!
Sigfrid war den Tränen nahe. Der Gesang des Skopen wühlte ihn auf. Plötzlich meinte er, das Meer zu riechen. Obwohl die Sachsen seit langem sesshaft waren, floss noch immer das Blut von Nordmännern in seinen Adern. So ergriffen war er von Volkers Worten, dass es eine Weile dauerte, bis er entdeckte, dass der Sänger geendet hatte. Bewegt zog er ein edelsteinbesetztes Amulett aus einem Beutel und warf es ihm zu. »Ich will hinter König Gunters Freigebigkeit nicht zurückstehen«, sagte er. »Euer Gesang ist wahrlich eines Königs würdig.«
Volker bedankte sich und beendete seine Darbietung.
Ansgar boxte ihm in die Seite. »Nicht übel für einen Schönling«, grinste er.
Die Unterhaltungen, die während des Vortrags unterbrochen worden waren, setzten wieder ein. Grimhild näherte sich Sigfrid von neuem, um ihm einzuschenken.
»Wollt Ihr mich betrunken machen, frūa?«, lachte er.
Seine Hand streifte ihren Arm, als er ihr das stechal entzog, und ein weiterer Stich traf sie, diesmal in der Lendengegend. Verzweifelt suchte sie nach einer Möglichkeit, eine Unterhaltung mit ihm zu beginnen, doch er hatte sich bereits wieder umgedreht, um sein Gespräch mit Gunter fortzusetzen. Grimhild kochte vor Zorn. Sie war es nicht gewohnt, derart beiläufig behandelt zu werden. Wütend drehte sie sich um und stürmte aus der Halle.
Sigfrid bekam ihren Abgang gar nicht mit. Seine Gedanken waren weder bei ihr noch bei dem, was ihr Bruder ihm gerade erzählte, sondern daheim. Nachdem er den letzten Auftrag seines ehemaligen Gefolgsherrn ausgeführt hatte, war er nun frei, nach Tarlungenland zurückzukehren. Er hatte gelernt, was ein Krieger lernen musste, und sich eigenen Ruhm erworben. Seine Sippe würde ihn mit offenen Armen empfangen. Er konnte es kaum erwarten, mit den Seinen am Feuer beisammenzusitzen, sich am Frieden zu erwärmen und von der Kraft des Sippengefühls zu trinken. Und um Brünhild zu freien, dachte er bei sich, und ein süßer Schmerz schnürte ihm die Brust zu. Die Svawenkönigin war die streitbarste Frau, die er je getroffen hatte, aber ihr nachtdunkles Haar war wie Seide, und in ihren Augen loderte ein Feuer, das jeden Winter fernhielt. Mit ihr zu streiten barg größere Leidenschaft als anderer Leute Liebesgeflüster. Sie war die eine, mit deren Seele er unauflöslich verbunden war.
Über seine Gedanken waren ihm Gunters letzte Worte entgangen. »Was habt Ihr gesagt?«, erkundigte er sich.
»Ich sagte: Warum erholt Ihr Euch nicht eine Weile, ehe Ihr Euch auf die weite Heimreise macht? Ihr seid herzlich eingeladen, Mittsommer mit uns zu feiern.«
Sigfrid wollte Gunter nicht vor den Kopf stoßen, und ihre Pferde konnten Ruhe gebrauchen, deshalb sagte er: »Bis zum Fest können wir nicht bleiben, aber für ein paar Nächte nehmen wir Eure Gastfreundschaft gern an.«
Er konnte nicht ahnen, wie folgenschwer diese Entscheidung sein sollte.
3.
Es war ein herrlicher Morgen. Die Sonne schien in die hintersten Ecken der Räume, als wollte sie alles, was atmete, ins Freie locken. Irmgard blickte sehnsüchtig aus dem Fenster, während sie die Haare ihrer Herrin in einer louga aus Ziegenfett und Buchenasche bleichte. Sie tat diese Arbeit gern, es machte ihr Freude, die Finger durch Grimhilds vollen Haarschopf laufen zu lassen. Ein Lied vor sich hinsummend seifte und spülte sie und massierte dabei die Kopfhaut der Niflunge.
»Hör endlich mit dem Geplärre auf!«, fuhr Grimhild sie an.
Erschrocken verstummte Irmgard. Sie kannte ihre Herrin; wenn sie sich in einer solchen Stimmung befand, benahm man sich tunlichst unauffällig, bis der Sturm vorüber war.
Grimhilds Kopf ruckte hoch. »Lass mich allein! Ich kämme mich lieber selbst, ehe du mit deinen ungeschickten Händen noch alles durcheinanderbringst.« Kaum war die Dienerin fort, bereute Grimhild auch schon ihre Worte. Es war nicht recht, ihre schlechte Laune an Irmgard auszulassen. Das Schuldbewusstsein machte sie noch wütender, sie trat nach einer Truhe. Au! Alles hatte sich heute gegen sie verschworen! Ihr Zeh schmerzte, der Saum ihres Gewandes blieb ständig irgendwo hängen, und der Kamm war nirgends aufzutreiben. Grimhild stieß einen Schrei der Frustration aus. Der Anblick ihrer Mutter, die ungehört hereingekommen war und sie mit einem wissenden Lächeln bedachte, steigerte ihren Zorn ins Unermessliche. »Was willst du?«, fauchte sie.