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»Ich schon. Wenn Liebe zwischen mir und meinem Mann ist, wie zwischen meinem Vater und meiner Mutter. Ich glaube, dann kann man alles erreichen, was man will. Das megin aus der Verbindung eines Mannes und einer Frau ist viel stärker als die beiden einzelnen megins zusammen.«
»Ja, jeder kann sehen, dass Eure Eltern großes Heil miteinander haben.« Der Rausch des Trankes stieg Gislher allmählich zu Kopf. Er blinzelte. Die Sterne schienen klarer und näher als zuvor.
»Wie nah sie sind!«, seufzte Dietlind, als hätte sie seine Gedanken erraten.
Gislher blickte sie an, und seine durch den Trank geschärften Sinne sahen sie in einem goldenen Licht. Sie schien von innen heraus zu strahlen. Schwerfällig drehte er den Kopf. Er hatte die vielen Menschen, die mit ihnen das Sonnenwendfest feierten, völlig vergessen, aber da waren sie, Männer und Frauen, und jeder von ihnen strahlte dieses goldene Licht aus. Jeder schien eine Sonne zu sein. Gislher rieb sich die Augen und sah ein zweites Mal hin, aber das Leuchten blieb. Plötzlich fühlte er eine starke Verbindung zu ihnen, mehr noch, er fühlte sich eins mit den Vögeln, den Pflanzen, den Würmern, ja, mit der Erde selbst.
Dietlind nahm ein Amulett von ihrem Hals. »Ich möchte Euch dies hier schenken«, sagte sie. »Es soll Euch schützen, Eure Wünsche in Erfüllung gehen lassen und Euch vor Schaden bewahren.«
Der birnenförmige Anhänger bestand aus Gold. Außen war sōwelō, die Sonnenrune, eingeritzt, und vermutlich war der Hohlkörper mit magischen Gegenständen gefüllt. Als Dietlind ihm das Amulett umhängte, spürte Gislher, dass zwischen ihr und ihm eine besondere Verbindung bestand.
Sigfrid saß an einem der vielen Feuer. Er hatte reichlich vom Trank des Priesters zu sich genommen, zudem atmete er den Geruch der Kräuter ein, die in den Flammen verbrannten.
Flammen. Hitze. Feuer.
Feuer!
Der Himmel war rot vom Widerschein der Flammen. Auf unerklärliche Weise davon angezogen, ritt Sigfrid auf das Licht zu. Vor ihm stieg eine Waberlohe in den Himmel und versengte ihn mit heißem Atem. Grane scheute vor der Barriere und wich schnaubend zurück. Sigfrid redete beruhigend auf ihn ein und tätschelte ihm den Hals. Vergeblich versuchte er zu erkennen, was hinter der Flammenwand lag. Er musste hindurch! Irgendetwas wartete dort auf ihn. Kurz entschlossen ließ er das Pferd zurücktraben, bis der Abstand groß genug war. Dann reckte er Gesicht und Hände gen Himmel, um Wodan um Beistand anzuflehen. Er konnte seine eigenen Worte nicht verstehen, das Prasseln des Feuers übertönte jedes Geräusch.
Mit einem Schenkeldruck trieb er Grane an, ließ einen Schlachtruf ertönen und jagte auf die glühende Mauer zu. Jäh verwandelte sich das treue Tier unter ihm; vier zusätzliche Beine wuchsen aus seinem Körper, zwei Flügel aus seinen Flanken. Wodan hatte ihn erhört! Er gab ihm Sleipnir, sein eigenes Ross! Das edle Pferd raste auf das Flammenmeer zu, tat einen gewaltigen Satz und schlug mit den Flügeln. Dann war Sigfrid von tosendem Feuer umhüllt. Hitze verbrannte ihm das Gesicht, Funken umzüngelten ihn, um ihn am Weiterkommen zu hindern. Seine Brünne begann zu schmelzen. Höher und höher stieg Sleipnir, während die Flammen unter ihm wüteten.
Und plötzlich sank das Feuer in sich zusammen. Die Stille, die auf das Tosen folgte, war ohrenbetäubend. Wodans Pferd schwebte dem Erdboden entgegen und landete auf einer Wiese, die von keiner Flamme berührt schien. Sigfrid stieg von Sleipnirs Rücken und näherte sich einem Schildwall. Ohne stehen zu bleiben, durchschritt er den Ring aufrecht stehender Schilde.
Auf der Erde lag eine Frau, mit dem Rücken zu ihm, und Sigfrid wusste, sie war der Ursprung der Kraft, die ihn angezogen hatte, sie war das Ziel all seinen Begehrens. Sie bewegte sich nicht, nicht einmal, als er sie berührte. Ein Schlafdorn musste sie in diesen Zustand versetzt haben. Er wusste, dass es so war, so sicher, wie er wusste, dass sie für ihn bestimmt war. Eine silberne Brünne schützte sie, in ihrer Hand lag ein stählerner Ger. Sie war eine Walküre, doch würde nicht sie ihn für Wodans Schlachthalle erwählen, sondern er sie als sein Weib. Ein heißes Gefühl verbrannte sein Herz, heißer als das Feuer der Waberlohe. Sobald er sie erweckte, würde ewiges Glück ihn erwarten. Sanft drehte er sie herum.
Ihr Kopf war glatt wie ein Ei. Sie hatte kein Gesicht.
Grimhild hatte nur einen Schluck des magischen Tranks zu sich genommen. Sie war nach wie vor auf der Suche nach Sigfrid. In der Ferne entdeckte sie Hagen. Irgendwie schaffte er es immer, auch bei müßigem Umherstreifen zielstrebig zu wirken. Vermutlich hatte er ebenfalls vom Trank des Priesters nur genippt. Er liebte es nicht, die Kontrolle über sich zu verlieren. Die Niflunge ging zu ihm. »Ich habe dir noch gar nicht für die Rettung meines Bruders gedankt«, sagte sie.
»Es ist meine Aufgabe, deine Sippe zu schützen.«
»Eine Aufgabe, die du meisterhaft erfüllst.« Grimhild war dankbar für seine Gesellschaft, die sie von ihren Sorgen ablenkte. Um ein Gespräch in Gang zu bringen, fragte sie: »Hast du je Feuerräder gerollt?«
»Glaubst du, es fließt kein Blut in meinen Adern? Manchmal bin ich mit ihnen um die Wette gelaufen.«
Es fiel ihr schwer, sich den Waffenmeister vorzustellen, wie er kreischend neben einem brennenden Rad den Hügel hinablief. Der Gedanke war erheiternd.
»Ich gäbe etwas darum zu wissen, was du gerade hinter deiner Stirn versteckst«, sagte er, und seinem Tonfall nach wusste er genau, was es war.
»Ist das nicht eine wundervolle Nacht? Die Welt kommt mir heute so verändert vor.«
»Es ist die Nacht der Erneuerung.«
Sie dachte an Sigfrid und seufzte. »Ja. Die Nacht der Erneuerung. Was bedeutet sie für dich?«
»Nichts. Die Menschen bleiben dieselben. Die Götter bleiben dieselben. Sogar die Sterne bleiben, wie sie sind.«
»Aber die Mittsommernacht ist voller Hoffnung! Spürst du es nicht?«
»Hoffnungen sind dazu da, von den Göttern zunichte gemacht zu werden. Ich nehme, was kommt, das erspart mir Enttäuschungen.«
»Ob du glücklich oder unglücklich bist, liegt allein in deiner Hand, Hagen. Das Gewebe der Nornen sagt nichts darüber aus. Das ist es, was uns die Mittsommernacht verspricht: dass du aus einem alten Webmuster etwas völlig Neues machen kannst.«
»Ebenso könnte ich versuchen, einen Stern vom Himmel zu holen.«
»Ich könnte es«, sagte sie trotzig und wartete auf Widerspruch oder ein nachsichtiges Lächeln.
Zu ihrer Überraschung tat er nichts dergleichen, sondern nickte nur. »Bei dir ist das etwas anderes. Was du dir vornimmst, wirst du auch erreichen.«
Bislang hatte sie immer angenommen, dass ihre Mutter die Einzige war, die sich nicht von ihr hinters Licht führen ließ, aber wie es schien, hatte nicht nur Oda Augen im Kopf und einen Verstand zum Denken.
»Du siehst mich an wie eine Dryade«, sagte Hagen und fügte nach einer winzigen Pause hinzu: »Schmiedeauge.« Sie war so verblüfft, dass sie im ersten Moment gar nicht begriff, dass er einen Scherz gemacht hatte. Darüber musste er lachen. Es war ein hartes, trockenes Lachen, kurz und präzise wie sein Wesen, aber es kam aus seinem Inneren, und er ließ es frei.
Sie sah ihn mit Zuneigung an. »Es ist schön, wenn du lachst.«
Sein Lachen erstarb ebenso abrupt, wie es begonnen hatte. »Grimhild, ich möchte dir sagen –«
Was immer er ihr sagen wollte, der Satz wurde nie vollendet.
Denn Grimhild entdeckte endlich das Gesicht, nach dem sie Ausschau gehalten hatte, und ihr Herz machte einen Satz. Sie wollte zu Sigfrid laufen und ihn berühren, um sich zu überzeugen, dass er Wirklichkeit war und kein Traum ihr einen Streich spielte, aber dann beschloss sie, die Gelegenheit zu ergreifen, Hagen auf ihre Seite zu ziehen. Beschwörend legte sie die Hand auf seinen Arm, obwohl sie wusste, dass er gewöhnlich unwillig auf Körperkontakt reagierte. »Du sollst der Erste sein, Hagen, der es erfährt. Sigfrid wird bei Gunter um mich freien. Ich bitte dich, unterstütz diesen Wunsch! Um meinetwillen!«
Der Moment der Gemeinsamkeit schien vorbei zu sein. Der Waffenmeister trug wieder den unnahbaren Ausdruck auf seinem Gesicht, den sie so gut kannte. Zunächst schien es, als wolle er ihr eine Antwort verweigern, und als er sich dann doch dazu entschloss, etwas zu sagen, lag eine Ewigkeit zwischen seinen Worten. »Ich … werde … sehen.« Damit wandte er sich ab und ließ sie stehen.
Irritiert sah Grimhild ihm nach. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihn um Hilfe zu bitten. Ob er sie überhaupt mochte?
Inzwischen hatte sich die Wirkung des Tranks voll entfaltet, die Droge löste alle Hemmungen. Männer und Frauen hatten sich ihrer Kleidung entledigt, einige gaben sich im Sonnenwendrausch zügelloser Leidenschaft hin, die meisten tanzten den traditionellen Fruchtbarkeitsreigen um die Scheiterhaufen. Immer wieder sprangen einige von ihnen paarweise durch das heilige Feuer.
Gislher ergriff Dietlinds Arm und zog sie mit sich. Sein Schrei übertönte ihr Kreischen, als sie durch die Flammenwand getragen wurden und Flammenzungen nach ihnen leckten, um alles, was unrein war, abzuwaschen. Es war ein rauschhaftes Erlebnis, die Ekstase des Lebens.
Auch Gunter sprang durch die Flammen. Sein Gesicht glühte. Der Trank des Priesters hatte ihn befreit wie einen Vogel aus dem Käfig. Ja, er konnte fliegen! Mit einem Schrei jagte er erneut auf das Feuer zu, und die Flammen trugen ihn in die Lüfte empor.
Gernholt fühlte sich leicht und unbeschwert. Die bilisa nahm ihm die Schmerzen, und zusammen mit dem Trank des Priesters versetzte sie ihn in Euphorie. Er würde auch springen! Er würde wie die anderen vom Feuer gereinigt werden! Keuchend richtete er sich auf. Vor dem Scheiterhaufen pumpte er ein paarmal Luft, dann brüllte er plötzlich aus Leibeskräften, wild, lebensgierig, und rannte los. Jubelnd sprang er durch die Flammen. Seine Füße streiften die Zweige, Glut stob auf. Als er auf der anderen Seite aufprallte, knickten ihm die Beine weg und er schlug auf das Gesicht, aber es war ihm egal; er war glücklich.
Hagen hockte am Feuer, ohne dessen Wärme zu spüren. Er fühlte nichts, er dachte nichts, hockte einfach nur da und existierte. Lange kauerte er in dieser Stellung und starrte in die Flammen. Dann erhob er sich, ohne auf den Protest seiner eingeschlafenen Glieder zu achten, und entfernte sich mit durchgebogenem Rücken. Auf dem Weg zur Burg sah er keinen Menschen, obwohl es auf und um den Hügel von ihnen nur so wimmelte. Er holte sein Pferd, das unwillig über die nächtliche Ruhestörung schnaubte, saß auf und ritt davon.
Sobald er sich auf ebenem Gelände befand, ließ er den Hengst ausholen. In fliegender Hast ging es den steinigen Weg entlang, was in der Dunkelheit riskant war. Nach einer Weile wich Hagen von der Römerstraße ab. Er sah nicht, wohin er ritt, und es interessierte ihn auch nicht. Das Tier raste in halsbrecherischem Tempo durch Sträucher und Dornbüsche, über Wurzeln und Steine. Unbarmherzig schlug der Waffenmeister auf das Pferd ein und trieb es zu noch schnellerem Galopp an. Zweige peitschten ihm ins Gesicht, ein- oder zweimal strauchelte der Hengst; es war ihm egal. Leicht konnte er sich bei diesem wahnwitzigen Ritt das Genick brechen; auch das war ihm egal. In ihm tobte ein Dämon, der danach verlangte, befreit zu werden, und Hagen konnte oder wollte sich ihm nicht widersetzen.
Die Götter mussten wohl Pläne mit ihm haben, denn er lebte noch, als der Morgen graute. Irgendwie hatte sein Pferd einen ausgetretenen Pfad gefunden, dem es folgte. Hagen wusste weder wie lange er geritten war, noch wo er sich befand. Längst hatte er Tolbiacum und den unmittelbaren Herrschaftsbereich der Niflungen hinter sich gelassen, und noch immer fand er keine Ruhe. Der Hengst war schweißnass und zitterte von dem Gewaltritt. Im blassen Licht des beginnenden Tages konnte der Waffenmeister allmählich Einzelheiten seiner Umgebung ausmachen. Er gelangte an eine Brücke über einen Bach. Müde trottete das erschöpfte Pferd über die Holzplanken.
Plötzlich wurde sein Weg von zwei Reitern versperrt. Der eine war von gedrungener Statur, besaß keine Zähne mehr, und seine Haut war voll hässlicher dunkler Flecken. Der zweite war groß und hager und vollkommen kahl. Er schien der Anführer zu sein, denn der andere wartete offenbar auf einen Befehl von ihm. Beide trugen abgewetzte Kleidung. Ihre Pferde waren vermutlich gestohlen.
Brutal riss Hagen an den Zügeln. Schmerzvoll wiehernd kam sein Hengst auf der Brücke zum Stehen. Ein Instinkt veranlasste den Waffenmeister, den Kopf zu drehen. Hinter ihm kam ein dritter Reiter aus dem Gebüsch und schnitt ihm den Fluchtweg ab. Eine Unmenge Narben entstellten sein vielleicht einmal hübsches Gesicht.
Mit schiefem Grinsen beobachteten ihn die drei.
»Ein schönes Tier«, sagte der Kahlköpfige.
»Und sieh dir seine kostbare Kleidung an«, bemerkte der Zahnlose an seiner Seite. »Das lohnt sich ja richtig.«
Der Anführer der Wegelagerer sah den Waffenmeister an. »Steigt einfach ab und zieht Euch aus, vielleicht lassen wir Euch am Leben.«
Hagen sagte kein Wort. Er studierte die Männer. Sie besaßen die Haltung von Kriegern, die das Kämpfen gewohnt waren. Ihre Schwerter waren einfach, aber das zerkratzte Eisen und die Scharten in den Schneiden verrieten, dass sie nicht nur als Schmuck dienten. Und er selbst hatte bei der kopflosen Flucht aus Tolbiacum versäumt, sein Schwert mitzunehmen.
Kaltes Feuer erfüllte Hagen, als er seine Chancen abwägte. Etwas in ihm freute sich auf den bevorstehenden Kampf, sehnte ihn sogar herbei. Mit einer zärtlichen Bewegung zog er seinen Dolch, eine Damaszenerklinge. Der römische Händler hatte ein Vermögen dafür verlangt, aber die Waffe war jedes Goldstück wert.
Die Wegelagerer lachten. »Er zieht seinen Dolch«, wieherte der Anführer, »wir sollten fliehen, solange wir noch können.«
»Zu spät«, sagte Hagen und griff an. Mit einem Satz war er von der Brücke und drängte sein Pferd zwischen die beiden Krieger vor ihm. Die Verblüffung stand noch auf dem Gesicht des Zahnlosen, als ihm der Dolch mitten ins Herz fuhr. Er wollte etwas sagen und seiner Verwunderung Ausdruck geben, aber er war schon tot, noch ehe sein lebloser Körper den Boden berührte.
Die Wegelagerer waren es gewohnt, dass ihre Opfer flohen, und brauchten einen Augenblick, um sich von ihrer Überraschung zu erholen. Der Hagere fing sich als Erster, er war der gefährlichste der Männer. Mit wutverzerrtem Gesicht hieb er auf den Waffenmeister ein. Die Todesgefahr missachtend brachte Hagen sein Pferd näher an das des Gegners. Auf kurze Distanz war das Schwert wertlos. Hart bedrängt suchte der Hagere, dem mörderischen Blutdurst des Waffenmeisters zu entgehen. Sein überlegenes Grinsen war verschwunden; zum ersten Mal empfand er Angst angesichts dessen, was er im verschleierten Auge seiner vermeintlichen Beute erblickte.
Der dritte Mann galoppierte über die Brücke, um seinen Kameraden zu Hilfe zu eilen, und näherte sich Hagen von hinten. Der warf sich zur Seite, um dem tödlichen Hieb zu entgehen. Das Schwert glitt ab und traf das Pferd, das einknickte und vor Schmerzen wieherte. Geschickt rollte sich Hagen ab und kam sofort wieder auf die Beine. Er wartete nicht, bis die Wegelagerer erneut angriffen. Mit einem Satz sprang er hinter dem Narbengesicht auf das Pferd und schnitt ihm die Kehle durch. Blut sprudelte in hohem Bogen hervor und besudelte den Waffenmeister, er beachtete es nicht. Seine Instinkte hatten die Herrschaft übernommen, und er überließ sich ihnen freudig. In ihm loderte die Flamme der Kampfekstase, er war erfüllt von einer dunklen, tödlichen Art von Jubel.
Der Anführer der Wegelagerer nutzte die Gelegenheit und drang auf ihn ein, während Hagen den Leichnam des Narbigen vom Pferd kippte. Das Tier scheute, als es den Blutgeruch wahrnahm, diese Bewegung rettete ihm das Leben. Er wurde abgeworfen, der Stoß des Kahlköpfigen ging fehl. Wie der Blitz war Hagen auf den Beinen und stach nach dem Arm des Mannes, verfehlte ihn jedoch. Der Hagere hatte noch nie solch einen Dämon kämpfen sehen. Er wollte sein Pferd wenden und fliehen, aber der Waffenmeister stach dem Tier rücksichtslos den Dolch in den Leib, dass es ächzend zusammenbrach. Panisch befreite sich der Kahlkopf von dem Kadaver und schlug unkontrolliert nach seinem Gegner, doch sein Schicksal war bereits besiegelt gewesen, als er Hagens Weg gekreuzt hatte. Das Schwert fuhr in den Oberschenkel des Waffenmeisters, der es nicht einmal bemerkte. Mit Wucht rammte er dem Kahlkopf seinen Dolch in den Bauch, schlitzte ihn von oben bis unten auf, tobte und raste, bis er endlich registrierte, dass kein Leben mehr in dem zuckenden Bündel Fleisch war.
Keuchend hielt er inne, sein Auge wurde wieder klar. Hagen erwachte aus seinem Blutrausch. Nur ungern ließ er das heiße Gefühl gehen, das ihn erfüllt und ihm für eine kleine Weile Wärme gespendet hatte. Nur ungern ließ er Kälte und Dunkelheit wieder in sich hinein. Er betrachtete das Blutbad, das er angerichtet hatte, und stöhnte. Es war viele Jahre her, dass er sich das letzte Mal der Berserkerwut überlassen hatte, und damals nur nach gründlicher Vorbereitung. Noch nie war die Verwandlung ungerufen über ihn gekommen. Hagen barg sein Gesicht in den blutigen Händen. Er hatte von dem Fluch gehört, der die ergriff, die sich zu oft in einen Mannwolf verwandelten. Die Grenze zwischen Mensch und Tier wurde kleiner, das Tier erlangte nach und nach die Herrschaft, bis der Berserker vergaß, dass er einst ein Mensch gewesen war. Er hatte solche gesehen, die den Weg zurück nicht mehr fanden. Sie mussten abgeschlachtet werden wie räudige Hunde, denn sie waren eine Gefahr für die menschliche Gemeinschaft. Der Waffenmeister stöhnte noch einmal. Er wollte nicht enden wie sie!
Es hatte eine Zeit gegeben, da er nicht über die Folgen nachdachte. Damals war er stolz gewesen, zu den auserwählten Kriegern zu gehören, den gefürchteten Berserkern, die eine Schlacht entscheiden konnten. Und er war der Beste gewesen. Hagen lachte bitter. Was blieb einem übrig, wenn man die anderen die eigene Herkunft vergessen lassen wollte, als der Beste zu werden? In ihrer Mitte konnte er die Erinnerung daran auslöschen, wer er war. Sie bildeten eine verschworene Gemeinschaft von Ausgestoßenen, gefürchtet und verachtet von den Menschen, die sie brauchten und duldeten, aber nicht liebten. Eine seltsame Art von Sippenfrieden herrschte zwischen ihnen, ein kaltherziger Friede, der alles, was außerhalb seines Kreises lag, als Beute ansah, die zerrissen werden durfte.
Als er Aldrian traf, hatte er erkannt, dass er noch einmal eine Chance bekam, und sie von ganzem Herzen ergriffen. Er schwor sich, niemals wieder die unsichtbare Linie zu überschreiten. Aldrian vertraute ihm, mehr noch: Er war der erste Mensch, für den seine Herkunft bedeutungslos war, der ihm das Gefühl schenkte, zu einer wirklichen Sippe zu gehören. Es war ein Traum gewesen, nichts weiter. Hagen brauchte nur in die Gesichter der Menschen, deren Leben er teilte, zu blicken, um zu wissen, dass es eine große Rolle spielte, wer man war und woher man kam.
Der Blutgeruch seiner Hände widerte ihn an. Er wischte den Dolch an einer der Leichen ab und steckte ihn zurück in die Scheide. Dann sah er nach seinem Pferd. Es litt, aber es lebte. Die Wunde war nicht tief, bei guter Pflege würde sich das kostbare Tier erholen. Das Pferd des Hageren dagegen war tot. Hagen wankte in den Fluss, um seine Verletzung zu versorgen und das Blut abzuwaschen, das ihn von oben bis unten bedeckte. Es war wie eine rituelle Reinigung von dem bösen Geist, der ihn erfüllte, und er hoffte, dass auch der letzte Rest des Tieres, das er in sich trug, fortgespült wurde. Das kühle Wasser, das seine Wangen hinunterlief, klärte seinen Geist und half ihm, sich Rechenschaft vor sich selbst abzulegen.
Er liebte Grimhild.
Nie zuvor hatte er sich das eingestanden. Sie war ein Kind gewesen, als er sie kennenlernte, und er ihr väterlicher Freund. Auch jetzt noch zählte er mehr als doppelt so viele Sommer wie sie. Aber ihr Liebreiz, ihr Lächeln, ihre Augen verzauberten ihn. Ihr Interesse hatte ihm geschmeichelt und zu kühnen Träumen verleitet. Und dann war Sigfrid gekommen. Seither bemerkte sie ihn nicht einmal, wenn er neben ihr stand.
Hagen kam sich unsagbar töricht vor. Lächerlich zu glauben, sie könnte etwas für ihn empfinden! Sie nahm seine Bewunderung als naturgegeben hin, als etwas, worauf sie ein Anrecht besaß wie auf das Atmen, und es kam ihr gar nicht in den Sinn, dass ihre spielerischen Verlockungen ihm Schmerzen bereiten könnten. Wie blind er gewesen war, so blind, als besäße er überhaupt kein Auge!
Voll Abscheu betrachtete er sein Spiegelbild im Wasser. Er sah einen verbitterten Krieger, der einen Narren aus sich gemacht hatte. Einen Narren, der sich eingeredet hatte, ein hübsches junges Mädchen wie Grimhild könnte sich in einen hässlichen alten Mann wie ihn verlieben. Einen Halbalben. Denn mehr noch als das Alter trennte sie ihre Herkunft. O ja, die Menschen respektierten seinen Mut und bezeugten ihm Ehre, niemand würde es wagen, ihm die Verachtung, die er empfand, offen zu zeigen! Aber hinter seinem Rücken verbreiteten sie die schmutzigsten Lügen über ihn. Er kannte die geflüsterten Gerüchte über dunkle Kräfte, Loyalität gegenüber dem Stillen Volk und Unzucht mit Schwarzalbinnen.
Hagen stieg aus dem Wasser. Mit erbarmungsloser Deutlichkeit erinnerte er sich an jedes Detail der vergangenen Nacht. Er sah Grimhild vor sich, mit ihrem Lächeln, das seine Verteidigung durchbrochen und ihn weich gemacht hatte. Er erinnerte sich genau an jenen Moment, da sie ihm in aller Unschuld die tödliche Wunde zufügte, den Moment, in dem er wehrlos gewesen war und jeder Möglichkeit beraubt, sich gegen den Speer zu wappnen, der sein Herz durchbohrte. Sie hatte mit jener beiläufigen Grausamkeit von ihrer geplanten Verbindung mit Sigfrid gesprochen, zu der nur Frauen fähig sind, die ständige Bewunderung gewohnt sind. Frauen, die mit dem Bewusstsein aufwachsen, jeden Mann bekommen zu können, den sie haben wollen. Frauen, die sich nicht vorzustellen vermögen, wie es sich anfühlt, jemand Unerreichbaren zu begehren.
Hagen fing eines der überlebenden Pferde ein, die friedlich in der Nähe weideten, und schwang sich hinauf. Seinen eigenen Hengst und das dritte Tier am Zügel führend, machte er sich auf die Suche nach einem Anhaltspunkt, wo er sich befand. Er fühlte sich ausgelaugt und innen wie außen wund. Jedes Wort, das zwischen ihm und Grimhild gefallen war, nahm er und drehte es in seinem Gehirn so lange hin und her, bis es jeglicher Bedeutung ledig war. Die Augen, mit denen sie Sigfrid beobachtet hatte, ließen ihn nicht los. Wenn sie ihn nur einmal so ansehen würde …
Nutzlose Tagträume. Und er war kein Träumer. Seine Stärke lag darin, dass er der Welt, wie sie war, ins Auge sah. Nun gut, er hatte sich lächerlich gemacht. So etwas kam vor. Jetzt hatte er sich sein Versagen eingestanden und konnte daran gehen, die Reste zusammenzukehren und zu versuchen, Grimhild zu vergessen.
8.
Niemand sah ihn, als er zurückkehrte, nur Ivo, der Stallbursche, dem er die erhitzten Pferde zum Trockenreiben übergab, und der stellte keine Fragen. Die blutige Kleidung mochte seine Neugier wecken, aber ein Blick in Hagens Miene versiegelte ihm den Mund. Müde begab sich der Waffenmeister in seine Kammer, um sich neu einzukleiden, sodass es niemandem einfiel, Spekulationen über seine nächtlichen Aktivitäten anzustellen. Als er den Raum wieder verließ, ging er kerzengerade, obwohl die Wunde in seinem Bein pochte. Später würde er jemanden aufsuchen müssen, der sich darum kümmerte. Später. Erst musste er den Anschein von Normalität wiederherstellen, den er dummerweise durch seinen kopflosen Ritt zerstört hatte. Aber vielleicht machte er sich unnötig Sorgen. Die lusttrunkenen Teilnehmer des Mittsommernachtsfestes hatten vermutlich nur Augen für sich selbst gehabt.
Fast hätte er es geschafft, sich davon zu überzeugen, dass alles beim Alten war. Dann traf er auf Grimhild, die nervös vor der Großen Halle auf- und ablief, und hielt so abrupt inne, als sei er gegen eine Mauer gelaufen. Er wich in den Schatten zurück, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. Seine Knie zitterten. Schließlich gab er sich einen Ruck und ging auf sie zu. »Ich grüße dich, frouwa!«, sagte er leichthin.