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32
Eine abschließende Definition des Verbrechens im kriminologischen Sinne ist nicht möglich. Die verschiedenen Ansätze ermöglichen vielmehr unterschiedliche Perspektiven auf die zu erfassenden Verhaltensweisen und sind je nach Kontext hierfür besser oder schlechter geeignet. Entscheidend ist es, sich die Variabilität des Begriffs vor Augen zu führen und stets darauf zu achten, auf welchen Verbrechensbegriff sich die jeweilige Debatte stützt. In der kriminologischen Forschung ist dies häufig der formelle Verbrechensbegriff.
[12]IV. Strafe und Gesellschaft
Lektüreempfehlung: Brown, Michelle (2009): The Culture of Punishment. Prison, Society, and Spectacle. New York/London, 4-53.
33
Strafe ist Bedürfnisbeschneidung in einem auf Erfüllung menschlicher Bedürfnisse gepolten Umfeld. Die Ambivalenz zwischen Übelzufügung und ihrem schieren Gegenteil, zwischen alltäglicher Praxis in Gefängnissen und Segregation der Gefangenen vom Alltagsleben markiert die Spannweite des Sozialen und reicht in die Wurzeln menschlichen Zusammenlebens. Die Übelzufügung durch Strafe ist durch die vorgängige Übelzufügung der Täter veranlasst; in dieser Kette gleichartiger Geschehnisse besteht die Logik der Vergeltung. Diese wird in unserer Kultur durch die protestantische Ethik des fleißigen Arbeitens26, die Herrschaftstechnik einer blutleer rationalen Staatsbürokratie27 und die punitiven medial gestützten Rufe nach Strafhärte28 untermauert.
34
Strafende Vergeltung antwortet auf ein gesellschaftlich relevantes Geschehen und ist zugleich als angeblich zweckfreie Vergeltung von solchem Geschehen abgelöst. Vergeltung bestätigt die Annahmen individueller Wahlfreiheit und Verantwortlichkeit. Das Konzept reduziert damit die Komplexität interaktiver menschlicher Beziehungen auf einseitige Ursächlichkeiten. Rechtfertigungsversuche der Strafe gründen darauf und setzen sich so zu dem moralischen Anliegen, Gutes zu tun, und dem gesellschaftlichen Unterfangen der Integration in Widerspruch. Dem Anliegen des Gesellschaftsvertrags wird in Rehabilitationsversuchen Rechnung getragen. Das Verständnis der Straftat als „Bruch“ des Gesellschaftsvertrags, der exzeptionelle Massnahmen feindlicher Art29 erlaubt, stempelt die Bestraften zu „Anderen“, geradezu „ultimativen Fremden“, die sich aus der Gesellschaft ausgegrenzt haben und deren Ausgrenzung deshalb förmlich zu bestätigen ist. Die Arbeit an Gefangenen scheint damit in Widerspruch zu stehen. Sie gedeiht in einem Klima der „aggressiven Solidarität“, in welchem wohlmeinende Reaktionen auf sich selbst zugestandene Fehltritte und harte Sanktionen gegen als bedrohlich empfundene Gesellschaftsfeinde zugleich vorhanden sind30. Obgleich durch Verständnis und Mitleid bestimmt, ist die Gefangenenarbeit eine Auseinandersetzung mit dem personifizierten Übel.
[13]35
Die durch das Vergeltungsbedürfnis begrenzte Behandlungsarbeit an Strafgefangenen integriert die Betrachter ebenso wie die exemplarische Präsentation von Kriminalitätsopfern in den Medien. Die darin zum Ausdruck kommende vermeintliche Bedrohung aller verflacht deren Unterschiede, schürt damit ein einheitliches Bedrohungsbild und facht so die aggressiven Emotionen der Gesellschaft an. Das Feuer der Emotionen richtet sich auf andere, die anders sind als wir selbst und denen wir deshalb zutrauen, dass sie uns zu Opfern machen.
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Opfer von Straftaten stehen im Zentrum des öffentlichen Interesses, soweit ihr Leiden einfach nachvollziehbar ist und jedem bzw. jeder passieren könnte. Das dadurch erzeugte Mitgefühl konzentriert sich auf Ereignisse durch Gewalt und Übergriffe durch Fremde. Die oft sozialschädlicheren opferlosen oder fahrlässig verübten Delikte drohen dabei ähnlich wie das nichtkriminelle Opferwerden in den Hintergrund gedrängt zu werden. Ehrenwerte Bemühungen, das im Strafverfahren lange vernachlässigte Opfer mit mehr Rechten auszustatten, schränken Verteidigungsrechte ein und sind nur sehr begrenzt möglich. Die organisierte Opferhilfe bezieht sich auf virtuelle Opfer und gipfelt oft in Forderungen nach härterer Bestrafung. Die Belange realer Opfer, ihre Respekt- und Entschädigungswünsche werden dabei vernachlässigt (→ § 24 Rn 23 ff.).
37
Das soziale Leben in der Gesellschaft wird in der Auseinandersetzung mit zumeist medial vermittelten Straftaten und ihrer Behandelbarkeit gestaltet. Die rituellen Prozesse der Bestrafung, die Diskurse des Verurteilens und des Wiedereingliederns schaffen den gesellschaftlichen Rahmen, in welchem inklusive Praktiken für alle (anderen) möglich sind. Aus der exemplarischen Ausgrenzung der Einen wird der soziale Kontrakt der Zugehörigkeit der Anderen geschmiedet. Je brüchiger die Bande der Teilhabe ausfallen desto entschiedener müssen die Praktiken der Ausgrenzung durch Strafe sein. Eine Werbekultur, die Konsumenten ästhetisch und symbolisch anspricht anstatt sie nüchtern zu informieren31, stützt dabei einen sensationslüsternen Umgang mit Verbrechen und Strafe, in der das medial zur Schau Gestellte von der Wirklichkeit nicht mehr unterscheidbar ist und das Allgemeinwissen sowie die Kriminalpolitik prägt.
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Das Buch erläutert diese Überlegungen aus der Perspektive einer Wissenschaft, die sich von dem engen Fokus auf kriminelles Handeln befreit und neben dem Verbrechen auch das Strafen32 und dessen soziale Wahrnehmung im Blick hat.
1 Garofalo 1885.
2 Die dem empirisch-rationalistischen Verständnis eher entsprechende Formulierung „Es ist der Fall“ mag hier fälschlich mit „Kriminalfall“ verwechselt werden und wird daher vermieden.
3 Lautmann 2014.
4 In Deutschland bestehen solche Dienste beim Bundeskriminalamt (BKA), beim Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) sowie bei der Kriminologischen Zentralstelle (KrimZ). Daneben sind in den Landesjustizministerien so genannte Kriminologische Dienste eingerichtet.
5 So etwa Sack 1990, 15.
6 „Unified body of knowledge“, so Fattah 1997, 173; ähnlich Göppinger 2008, 3, 39; Schneider 1993, 3.
7 Walter 1982.
8 Naucke 1986, 93.
9 Rusche/Kirchheimer 1981.
10 Platt 1984, 153; skeptisch Steinert/Treiber 1978.
11 Melossi 1976, 29; Wächter 1984, 168.
12 Sutherland 1983.
13 Pearce 1976.
14 Foucault 1976a; zum Stellenwert von Foucault in der Kriminologie Althoff/Leppelt 1991; Krasmann/Volkmer 2007.
15 Foucault 1976a, 328.
16 Taylor/Walton/Young 1975, 26.
17 Mathiesen 1979.
18 Christie 1986, 84 ff., 134 ff.
19 Cremer-Schäfer 2015.
20 Michalowski 2016.
21 Ferell 2009; Hayward/Young 2012.
22 Vgl. etwa „Theoretical Criminology. An International Journal“ (http://tcr.sagepub.com).
23 Sessar 1986, 381.
24 Fabricius 2015, 117 ff.
25 Insofern differenzierend Fabricius 2015, 119 ff.
26 Weber 1905.
27 Weber 1976, 1. Teil, Kap. III.
28 Kunz 2013.
29 Jakobs 2003.
30 Vgl. die Konzepte der criminology of the self und der criminology of the other bei Garland 2001, 17.
31 Bauman 2009.
32 Dostojewskij 1994.
[14]§ 2 Der Forschungsgegenstand und seine Erschließung: Kriminalität erklären oder verstehen?
Lektüreempfehlung: Reckwitz, Andreas (2012): Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. 2. Aufl., Weilerswist, 13-26.
I. Der Forschungsgegenstand
1
Nach konventionellem Verständnis lässt sich der Gegenstand kriminologischer Forschung als Trias darstellen und umfasst
■ die gesellschaftlich, vor allem rechtlich, als „kriminell“ gedeuteten Verhaltensweisen;
■ die Personen, die sich dergestalt verhalten oder denen solches Verhalten zugeschrieben wird;
■ die gewählten Reaktionsweisen auf dieses Verhalten, ihren Zusammenhang mit Verunsicherungsgefühlen und Punitivitätserwartungen und die gesellschaftliche Sinnbestimmung von Reaktionen auf Kriminalität.
Um es prägnant auszudrücken: Die Kriminologie ist
„a study of lawmaking, lawbreaking, and reactions to lawbreaking.“33
2
Diese drei Teile des kriminologischen Forschungsgegenstandes geben eine sehr grobe Übersicht über relevante Themenbereiche. Einzelne Richtungen der Kriminologie konzentrieren sich in der Regel auf bestimmte Themenbereiche und betrachten diese unter einem bestimmten Blickwinkel (→ §§ 4-13). Die Themenbereiche untergliedern sich in verschiedene Forschungsfelder. So bezieht sich der Zuschreibungsbereich auf die Erfassung der Kriminalität als zählbares Merkmal sozialer Einheiten (→ §§ 15-18) wie auf die Wirkungen strafrechtlicher Sanktionen (→ § 20). Mitunter verlangt ein Thema eine bereichsübergreifende Betrachtung wie bei der Kriminalprävention und -prognose, wo die Möglichkeit der Beeinflussung individuellen Verhaltens (auch) mit Mitteln strafrechtlicher Sanktionen und begleitender Therapie von Interesse ist. Die kriminologischen Themenfelder sind um neue Bereiche erweiterbar. So hat sich, analog zur traditionell täterbezogenen Ursachenforschung strafbaren Verhaltens (→ §§ 6-13), eine gleichermaßen ätiologisch ausgerichtete, also an Ursachen interessierte, „Viktimologie“ genannte Opferforschung [15] entwickelt (→ § 18 Rn 19 ff.). Schließlich haben die kriminologischen Themenfelder Außenbezüge etwa zur Kriminalistik (→ § 1 Rn 3) und zur Kriminalpolitik (→ § 24 Rn 44 ff.).
3
Mit einer solchen Definition des Forschungsgegenstandes ist aber weniger gewonnen, als auf den ersten Blick scheinen mag. Denn wie jede verallgemeinernde sprachliche Kategorie benennt „Kriminalität“ keine Sachverhalte, sondern deutet sie. Die Kategorie stellt Gemeinsamkeiten her, welche keine Gemeinsamkeiten der Sachverhalte sind, sondern Verwandtschaftsbeziehungen beim Begreifen der Sachverhalte. „Kriminalität“ schreibt die Attribution „kriminell“ im Wege des strafrechtlichen Vorwurfs zu. Freilich bezeichnet die Zuschreibung dabei nicht, wie gemeinhin angenommen, direkt und unvermittelt ein von ihr unabhängig und vorgängig existentes Verhalten an sich. Vielmehr deutet die Zuschreibung selbst das Verhalten als kriminell, gibt ihm einen hinweisend bewertenden Eindruck und bettet es darin ein. Erst das sinngebende Begreifen macht das Verhalten zum kriminellen Verhalten. Die Charakteristik des kriminellen Verhaltens liegt in seiner Charakterisierung als solches.
4 Kriminalitätsdefinitionen der Kriminaljustiz und der Gesellschaft sind stets Ergebnisse eines Bestimmungsvorganges, welcher unter konkreten historischen und sozialen Bedingungen abläuft. Damit erstreckt sich das kriminologische Erkenntnisinteresse auf die Umstände solcher Bestimmungen, ihre geschichtlichen und gesellschaftlichen Differenzen, ihre Selektivität und die damit verfolgten Interessen. Der kriminologisch relevante Themenbereich umfasst deshalb nicht nur als kriminell gedeutete Handlungen und ihre Verursachung, sondern gleichermaßen die Bedingungen der strafrechtlichen und gesellschaftlichen Bestimmung als Kriminalität. Es geht zentral um die gesellschaftliche Konstruktion von Kriminalität (→ § 13 Rn 7 ff.). Ein gesellschaftlich produzierter Gegenstand kann nur unter Mitberücksichtigung seiner sozialen Produzenten und Produktionsbedingungen angemessen erfasst werden. Die Kriminalität ist, ihrer ursprünglichen lateinischen Bedeutung entsprechend, notwendig im Zusammenhang mit ihrer Kontrolle zu betrachten. Das Forschungsinteresse richtet sich damit auf die Regeln der gesellschaftlichen Vergabe des Etiketts Kriminalität. Da die „Taufe“ eines Verhaltens als Kriminalität durch Kontrollvorgänge geschaffen wird, erscheint für manche Kriminologen zweifelhaft, ob daneben überhaupt noch Erklärungsbedarf für die Beschaffenheit der so getauften Verhaltenspraxis besteht.
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Den Schwierigkeiten einer angemessenen Bestimmung des Forschungsgegenstandes ist die Kriminologie nicht allein ausgesetzt. Die Probleme spiegeln vielmehr den Zustand einer fortgeschrittenen Sozialwissenschaft wider, welche sich ihres reflexiven Charakters bewusst wird. Dieser besteht darin, dass diese Disziplinen die Gesellschaft und mit ihr die Sozialwissenschaft selbst als Teil der Gesellschaft zum [16]Thema haben. Die angesprochenen Probleme rühren daher, dass die in naiver Annäherung gewählte Frage nach Aufgabe und Gegenstand der Kriminologie nur eindeutig zu beantworten wäre, wenn man mit dem Erklärungsmodell annehmen könnte, der Gegenstand sei der Disziplin als eine Faktizität von Sachverhalten vorgegeben, und die Aufgabe bestünde darin, diese Faktizität zu bestimmen und zu beschreiben. Inwieweit diese Annahme zutrifft, ist umstritten und hat notwendigerweise Konsequenzen für die methodische Herangehensweise an die kriminologische Forschung.
II. Das Modell des Erklärens
6 Kriminologie ist, wie andere Sozialwissenschaften, in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts verwurzelt und entfaltet sich in der Moderne, die in der Wohlstandsgesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts ihren Zenit erreicht. Prägend für die Epoche wie das Fach ist das Vertrauen auf die Macht der Vernunft, mit der sich die Natur beherrschen, das soziale Leben kontrollierend gestalten und die Geschichte zum Vorteil der Menschheit verändern lässt. Der Fortschrittsoptimismus wird vor allem durch die beeindruckenden Entwicklungen in den Naturwissenschaften und ihre technologische Umsetzung genährt. Fortan gelten die „exakten“ Naturwissenschaften als vorbildhaft für die Erkenntnis des Sozialen. Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt Auguste Comte (1798-1857) die Idee, die Regeln der Naturbeobachtung auf die Wahrnehmung gesellschaftlicher Vorgänge zu übertragen. Das damit begründete einheitswissenschaftliche Modell des Erkennens nennt Comte „positivistische Philosophie“34. Er will damit die wissenschaftliche Wahrnehmung des Sozialen auf die Beobachtung von Gegebenheiten begrenzen und damit Glaubensüberzeugungen, Wertungen und überhaupt Subjektivität aus der Wissenschaft verbannen.
7 Der Positivismus geht davon aus, der Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis sei unabhängig vom methodischen Zugang und der subjektiven Einstellung des Erkennenden als etwas naiv und unbestreitbar Gegebenes positiv vorhanden und könne deshalb wie ein Faktum unbeteiligt, also streng wertneutral und „objektiv“ erkannt werden. Diese Annahme bestimmt die Entwicklung der Kriminologie und prägt ihren erklärenden empirischen Zweig bis heute. Demzufolge wird kriminelles Verhalten als objektive Gegebenheit verstanden, das in seinem tatsächlichen Vorkommen wahrgenommen, gezählt und auf soziale, psychologische und biologische Einflüsse zurückgeführt werden kann. Die Suche nach allgemeingültigen ursächlichen [17]Erklärungen für Kriminalität folgt dem kriminalpolitischen Anliegen, Kriminalität kontrollieren zu können, und stellt damit die Wissenschaft in den Verwendungszusammenhang der kriminalpolitischen Praxis.
8 Als Kind der Aufklärung und Schwester der Moderne ist die Kriminologie ursprünglich auf ein Erklären von kriminellem Verhalten angelegt. In dem für Naturwie Sozialwissenschaften gültigen, also einheitswissenschaftlichen, Modell des Erklärens wird ein wahrgenommenes Geschehen aus seiner kausalen statistischen Abhängigkeit von einem anderen wahrgenommenen Geschehen bestimmt. Dabei geht es darum, eine Beobachtung hypothetisch mit anderen Beobachtungen („Randbedingungen“) zusammenzubringen (zu „korrelieren“) und zu prüfen, ob dieser unterstellte Zusammenhang einer allgemeinen statistischen Gesetzmäßigkeit folgt. Ein Geschehen („Explanandum“) gilt danach als erklärt, wenn es sich unter bestimmten Randbedingungen aus einer solchen Gesetzmäßigkeit („Explanans“) herleiten lässt. Die Erklärung erfolgt durch statistische Auswertung der Zusammenhänge innerhalb der Quantität von getroffenen Beobachtungen, folgt also einer quantitativen Methode. Das Ergebnis der Erklärung ist eine Wahrscheinlichkeitsaussage. So können Gewalttaten von Jugendlichen mit frühkindlichen Misshandlungen der Täter in Zusammenhang gebracht und geprüft werden, ob zwischen jugendlicher Gewaltdelinquenz und dem Erleiden von Gewalt im Kindesalter ein allgemeiner statistischer Zusammenhang besteht. Solches Vorgehen nennt man „empirisch“, „erfahrungswissenschaftlich“ oder, mit einem Modewort ausgedrückt, evidence-based 35.
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Beim Erklären werden Geschehnisse zueinander in Bezug gesetzt, die als dinghaft gegeben und wie Naturobjekte als sinnlich wahrnehmbar verstanden werden. Das wahrgenommene Objekt prägt sich angeblich auf der Wachstafel unserer Wahrnehmung ein wie es ist und kann deshalb von jedem unter den gleichen Voraussetzungen in gleicher Weise, also objektiv, erkannt werden.
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In der Gegenwart sind sowohl die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen wie die forschungspraktischen Konsequenzen dieses positivistischen Zuschnitts der Kriminologie fragwürdig geworden. Vom Positivismusstreit in den Sozialwissenschaften in den 1960er Jahren36 beeinflusst, entwickelte sich in der Kriminologie seit Mitte der 1970er Jahre eine Debatte darüber, ob Kriminalität nach positivistischem Muster zu erklären oder aber in einer nichtpositivistischen Weise zu verstehen sei.
[18]III. Das Verstehensmodell
11 Die beschriebene Grundannahme der objektiven Spiegelung des äußerlich Gegebenen in der inneren Wahrnehmung ist bei kulturell und gesellschaftlich geprägten „Dingen“ wie Kriminalität fragwürdig: Die Kultur- und Sozialwelt ist dem Forscher nicht rein äußerlich vorgegeben. Wer diese Welt erforscht, ist selbst Teil des Ensembles, auf das sich die Forschung bezieht. Wegen dieser Selbstbezüglichkeit der wissenschaftlichen Wahrnehmung gesellschaftlicher Realität ist der „Mythos des Gegebenen“37, der dem Erklärungsmodell zu Grunde liegt, anzuzweifeln. Sozialwissenschaftliche und damit auch kriminologische Forschung ist selbst Teil der sozialen Praxis, die erforscht wird. Das wissenschaftliche Beobachten gesellschaftlich-kulturellen Geschehens ist zwangsläufig standpunktgebunden und perspektivenbezogen. Der rigide Purismus eines voraussetzungsfreien „reinen“ Erkennens ist hier Illusion.
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Nach dem Verstehensmodell folgt die sozialwissenschaftliche Erkenntnis deshalb anderen Regeln als das naturwissenschaftliche Erklären. Gesellschaftliche Realphänomene sind keine der Beobachtung unmittelbar zugänglichen Objekte. Die soziale Welt ist von Menschen intentional mit Sinn verbunden. In diskursiven Praktiken wird dieser Sinn durch andere soziale Akteure interpretiert, mit anderen Deutungen konfrontiert und möglicherweise neu ausgehandelt. Das Geflecht dieser Bedeutung stiftenden Praktiken schafft ein Verständnis der sozialen Wirklichkeit und macht diese Wirklichkeit für uns verfügbar. Alle sozialen Akteure, welche die betreffende Sprache beherrschen, sind befähigt, Bedeutungen von Dingen zu verstehen, indem sie diese mit ihren eigenen Assoziationen versehen und so sich davon „ihr“ Bild machen.
13
Die alltagsnahe Evidenz der Wahrnehmung eines Verhaltens als Diebstahl bedeutet nicht, dass das Verhalten als Diebstahl gegeben und beobachtbar sei. Die Wahrnehmung ist vielmehr das Ergebnis einer komplexen Deutung des Verhaltens. Dabei werden juristische Deliktsvoraussetzungen wie „Diebstahlsvorsatz“ in Alltagsvorstellungen übersetzt, die wahrgenommene Handlung in ihrer nur aufgrund von Indizien deutbaren Intention – Vorsatz sieht man nicht – in ihrem Sinn bestimmt und dieser Sinn daraufhin bewertet, ob er den laienhaft verstandenen Anforderungen an einen Diebstahl entspricht. Ludwig Wittgenstein (1989-1951) bemerkt dazu in seiner philosophischen Grammatik:
„Als hätten die Wörter nicht auch ganz andere Funktionen als die Benennung von Tischen, Stühlen u. dergl. – Hier ist die Wurzel des [19] schlechten Ausdrucks: die Tatsache sei ein Komplex von Gegenständen.“38
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Im deutenden Ausdruck wird das Verhalten nicht exakt abgebildet wie die Blume auf dem Foto, sondern eher wie in einer akzentuierenden Skizze überzeichnend nachempfunden. Menschliches Handeln wird stets in solcher durch Bedeutung gerahmten Form wahrgenommen und ist nur so anderen vermittelbar. Wer die Handlungsbedeutung verstehen will, muss sich mit dieser Sinnsetzung auseinandersetzen, sie teilen oder ihr eine andere entgegensetzen. Daraus ergibt sich
„[…] der Leitgedanke einer symbolischen, sinnhaften Konstitution der sozialen Welt und des menschlichen Handelns“, demzufolge „die Sozialwelt und ihre Handlungsformen durch kollektive Sinnsysteme konstituiert werden.“39
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Jede Wahrnehmung der sozialen „Dinge“ beruht auf einem von ihnen gewonnenen persönlichen Eindruck, der das Wahrgenommene wertend nach Belangvollem und Unbedeutendem strukturiert und den Dingen Sinn beimisst. Da die Wahrnehmung sozialer „Dinge“ stets mit subjektiver Sinngebung verbunden ist, kommt auch die Wissenschaft nicht ohne sie aus. Insofern die soziale Welt sich durch diskursive Praktiken bildet und erschließt, muss auch der Forschende diese Praktiken rekonstruieren und dabei auf dieselben Fertigkeiten zurückgreifen, welche diejenigen ausüben, deren Verhalten er zu analysieren versucht. Die Sozialwissenschaft ist deshalb bei der Re-Interpretation ihres durch Vor-Interpretationen sozialer Akteure gebildeten Themas in den Prozess gesellschaftlicher Bedeutungs- und Identitätsstiftung eingebunden und wirkt mit ihren wissenschaftlichen Interpretationen auf den gesellschaftlichen common sense zurück.
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Dies ist bei der Kriminologie nicht anders. Als Werk und Spiegel der Gesellschaft existiert Kriminalität nicht als objekthaft, nichtkommunizierend und natürlich „sinnlos“ vorhandene Gegebenheit. Kriminalität ist ein „negatives Gut“40, das gesellschaftlich ausgehandelt und mit ausgrenzender Distanz, Stigmatisierung und Beschneidung von Ressourcen assoziiert wird. Das Erkennen von Kriminalität verlangt deshalb, diese Aushandlungen und Assoziationen unter Einbringung des eigenen Vorverständnisses interpretierend nachzuvollziehen.41
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Die verstehende Perspektive macht deutlich, dass der Mensch und seine Handlungen nicht bloß passives Produkt externer gesellschaftlicher Kräfte sind, auch wenn die Gesellschaft ihn und sein Verhalten prägt. Die „Prägung“ ist eine durchaus [20] wechselseitige, dialektische. Denn soziales Handeln wirkt auf eine symbolisch vermittelte gesellschaftliche Umwelt verändernd ein, die ihrerseits individuelle Reaktionen stimuliert, wobei durch reflexive Verarbeitung von Umwelteinflüssen ein neues Identitätsverständnis geformt wird. Indem das Subjekt als sich entwickelnde Identität die gesellschaftliche Erfahrung, die es macht, strukturiert, schafft es sich gleichsam seine eigene gesellschaftliche Erfahrung. Darum muss menschliches Handeln auf der Basis des Selbstverständnisses der Akteure und der Bedeutung, die sie ihrem Handeln beilegen, nach einem „interpretativen“ Paradigma erschlossen werden. Anders als bei einem Naturgeschehen, das sich durch Bestimmung von Ursachen erklären lässt, geht es hier um das Verstehen menschlichen Handelns.
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Danach geht es in den Sozialwissenschaften darum, die Bedeutungen und Sinnsetzungen, die Menschen mit ihrem Handeln verbinden, deutend zu rekonstruieren, also gleichsam Bedeutungen von Bedeutungen zu setzen. Diese wissenschaftlichen Bedeutungssetzungen wirken auf den gesellschaftlichen Diskurs über Bedeutungen menschlichen Handelns zurück, geben ihm Anregungen und neue Akzente. In der kreislauf- oder besser spiralförmigen Dynamik dieser Entwicklung reproduziert sich die Gesellschaft stets aufs Neue, stiftet ihre Identität und findet so zu sich selbst.
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Die unvermeidbar zirkuläre Struktur des Verstehens der Bedeutungen menschlichen Handelns wird gemeinhin als hermeneutischer Zirkel bezeichnet. Dieser ist, um im Bilde zu bleiben, jedoch eher eine weiterführende Spirale als ein fruchtlos sich im Kreise drehendes Gebilde. Denn das anfängliche Verständnis, das Vorverständnis des Interpreten, wird an den vorläufig verstandenen gesellschaftlichen Sinnsetzungen geprüft, die Sinnerwartung gegebenenfalls geändert, diese neuerlich mit gesellschaftlichen Deutungen konfrontiert und so weiter. Fern einer nicht erzielbaren strengen Objektivität gelten dabei die Gebote von Sinnadäquanz und diskursiver Begründbarkeit.




