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„Die Soziologie […] hat es mit einer Welt zu tun, die schon innerhalb von Bedeutungsrahmen durch die gesellschaftlich Handelnden selbst konstituiert ist, und sie reinterpretiert diese innerhalb ihrer eigenen Theoriekonzepte, indem sie normale und Theoriesprache vermittelt […] es gibt ein fortwährendes ‚Abrutschen‘ der in der Soziologie geschaffenen Begriffe in den Sprachschatz derer, deren Verhalten mit ihnen eigentlich analysiert werden sollte […].“42
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Da die Kriminologie, wie die Sozialwissenschaften überhaupt, in den gesellschaftlichen Prozess der Sinnstiftung menschlichen Handelns eingebunden ist, folgt auch sie dem erkenntnisleitenden Prinzip einer „doppelten Hermeneutik“43. Es gilt, sich [21] beim kriminologischen Rückgriff auf das rechtlich und sozial vorinterpretierte Thema Kriminalität die Einbindung der Kriminologie in den nicht zum Ende kommenden Prozess der gesellschaftlichen Re-Interpretation dieses Themas bewusst zu machen. Die wissenschaftlichen Interpretationen dessen haben Rückwirkung auf das gesellschaftliche Verständnis. Dieses Vorgehen lässt sich auch als Reflexivität gesellschaftsbezogenen Erkennens bestimmen, und zwar in einem doppelten Sinne. Zum einen ist die sich über Sinnsetzungen verständigende Gesellschaft reflexiv; zum anderen verdoppelt deren wissenschaftliche Beobachtung diese soziale Reflexivität.
21 In Anlehnung an die dem Erklären komplementäre Erkenntnisform des Verstehens hat sich in der empirischen Sozialwissenschaft neben der objektivierenden quantitativen Forschung ein derzeit noch kleiner Zweig qualitativer Forschung ausgebildet (→ § 5 Rn 3 ff.). Diese unternimmt auf durchaus schmaler quantitativer Basis Sondierungen in die Tiefe. Das Interesse gilt der möglichst authentischen Erfassung der „Sinndeutungen“ des relevanten Geschehens aus der Subjektperspektive der Betroffenen.44 Beobachtungen finden „im Feld“ einer natürlichen Situation statt, wobei der Forscher an den situativen Interaktionen teilnimmt. Befragungen werden in dialogisch geführten und ergebnisoffenen Interviews erstellt, deren Auswertung intensiv erfolgt und nicht auf statistische Kennwerte beschränkt bleibt.45
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So kann der gewalttätige Jugendliche nach den Motiven seines Tuns befragt, die Empfindungen der Opfer ermittelt, der prügelnde Vater auf seine „Erziehungspraxis“ und deren mögliche Spätfolgen angesprochen und daraus eine Deutung des Geschehens in seiner interaktiven Vernetzung vorgenommen werden. Auf die wissenschaftliche Deutung reagiert das Untersuchungsfeld wie die Gesellschaft insgesamt und verlangt nach neuerlicher Prüfung der Sinnadäquanz dieser Deutung. Dem Modell des Erklärens sind solche Zugänge zu den Sinngebungen menschlichen Handelns und der Praxis der gesellschaftlichen Verständigung darüber versperrt. Es reduziert in seiner Beobachtung der Gesellschaft deren sinngebende Strukturen auf buchstäblich „sinnlose“ naturhafte Gegebenheiten.46
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Aber nicht nur der Versuch, den Forschungsgegenstand zu beschreiben bereitet Schwierigkeiten. Hinzu kommt, dass sich dieser laufend und unter den Augen des jeweiligen Betrachters verändert. Denn das Begreifen von Bedeutungen ist stets beispielgebunden, also auf Fälle der Anwendung des Wortes bezogen. Eine Erklärung verstehen heißt, die Regeln ihres Gebrauchs nachvollziehen zu können, nicht aber, dieselben Anwendungen vor Augen zu haben.
[22]„Und die Verständigung durch die Sprache ist nicht der Vorgang, dass ich durch ein Gift im Andern die gleichen Schmerzen hervorrufe, wie ich sie habe.“47
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In diesem Sinne prägt auch der Zeitgeist die wissenschaftliche Wahrnehmung und führt dazu, dass das Erkenntnisinteresse sich wandelt und neue Erklärungsmodelle bevorzugt werden. Stichworte zu den Veränderungen in den letzten dreißig Jahren lauten: Kriminalität wurde von einem sozialschädlichen Verhalten, das nach Reaktionen verlangt, zu einem Risiko, welches vor Schadenseintritt zu kalkulieren und kontrollieren ist. Dem entsprechend haben sich die regulierenden Praktiken der Kriminalpolitik von nach- zu vortatbezogenen Interventionen verlagert, wobei das staatliche Sicherheitsmonopol zugunsten von Eigenvorsorge und einer Marktöffnung für nichtstaatliche Sicherheitsanbieter durchbrochen wurde. Die Kriminalpolitik hat ihren moralischen Bezug aufgegeben und konzentriert sich auf ein technologisch betriebenes Sicherheitsmanagement. Die Kriminalprävention hat ihren Schwerpunkt von personenbezogenen sozialpolitischen und resozialisierenden Interventionen, mit denen man mutmaßliche Kriminalitätsursachen grundlegend anzugehen glaubte, auf die situationsbezogene Erschwerung von Tatgelegenheiten in pragmatischen kleinen Schritten verlagert (→ §§ 21, 22, 24).
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Vor diesem Hintergrund geht das Verstehensmodell bei der Klassifizierung des Forschungsgegenstandes einen anderen Weg. Die kriminologische Befassung mit Kriminalität erfolgt danach dreidimensional. Zum einen gilt das Interesse den Regeln des Gebrauchs der Kriminalitätsdefinition im informellen gesellschaftlichen Diskurs und durch die Instanzen der Kriminalitätskontrolle. Zum anderen wird nach Regeln geforscht, denen das damit bezeichnete Verhalten folgt. Drittens schließlich gilt das Interesse den Regeln, nach denen die möglichen Anwendungen des Gebrauchs der ersten beiden Regeln phänomenologisch in Subkategorien (Gewalt-, Sexual-, Umweltkriminalität usw.) eingeteilt werden können. Die Kriminologie betrachtet diese drei Arten von Regeln des crime talk unter dem Aspekt ihres tatsächlichen Gebrauchs: Nicht in ihrer logischen Konsistenz oder der normativen Korrektheit ihrer Anwendung, sondern in ihrer effektiven Verwendung in der gesellschaftlichen Praxis.
26 Die Bildung besonderer Kriminalitätserscheinungen (→ § 18) kann hier weitgehend unberücksichtigt bleiben, weil, wiederum Wittgenstein folgend, die charakteristische Besonderheit einzelner Bestandteile von Kriminalität nicht in diesen, sondern in ihrer deutenden Bestimmung liegt. Darum wäre es irreführend, „besondere Kriminalitätserscheinungen“ als gegebene Phänomene anzusehen, die durch Beobachtung in ihrer Ähnlichkeit erkannt werden könnten. Die Kriminalität als parzellierte Segmente zu verstehen, suggerierte eine falsche Gegenständlichkeit dieser [23] vermeintlich objektiv vorhandenen Teile. Die Teile existieren nicht an sich, sondern werden durch rubrizierende Deutung gebildet. Allemal beschreiben Begriffe wie „Ausländerkriminalität“ oder „Organisierte Kriminalität“ nicht Phänomene, sondern sind Redeweisen, welche gesellschaftlichen Wahrnehmungs- und Akzentuierungsbedürfnissen Ausdruck geben. Die Maßgeblichkeit der jeweiligen façon de parler und ihres Deutungsrahmens zeigt sich an den Unterschieden der scheinbar ähnliche Phänomene bezeichnenden Begriffe „Wirtschaftskriminalität“ und „Kriminalität der weißen Kragen“: Der erste Begriff ist kriminaltaktisch und dient zur Koordinierung von Verfolgungsaktivitäten; der zweite Begriff verweist skandalisierend auf Machenschaften in den Führungsetagen der Gesellschaft48.
IV. Schlussfolgerungen
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Vorerst ist festzuhalten, dass beide Standpunkte in der Kriminologie vertreten werden, wobei das Modell des Erklärens vorherrschend ist, welches die Kriminologie als eine empirische Erfahrungswissenschaft bestimmt. Die Dominanz des Erklärens ist in der Kriminologie naheliegend, da ihr Datenmaterial weitgehend über Kriminalstatistiken verfügbar ist und der Staat als größter Auftraggeber der kriminologischen Forschung (→ § 1 Rn 9 ff.) sich bevorzugt für die quantitativ-vergleichende Bestimmung des Kriminalitätsvolumens und der Wirksamkeit staatlicher Interventionen interessiert.
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Allerdings werden wesentliche Aspekte des Forschungsgegenstands wie gezeigt nur bei einem Vorgehen sichtbar, das dem Verstehensmodell folgt – denn ein maßgeblicher Teil der Auseinandersetzung mit Kriminalität ist die Beschäftigung mit dem interaktiven Prozess ihrer Konstruktion durch den Beobachter. Einer auf kausale Erklärungen bedachten, rein objektiv und vermeintlich von außen wahrnehmenden Perspektive muss diese Ebene verborgen bleiben.
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Die Kriminologie setzt sich also (auch) mit den gesellschaftlichen Sinnsetzungen von Normabweichung und Kriminalität diskursiv auseinander, wobei der kriminologische Diskurs nicht vollständig unabhängig von der gesellschaftlichen Verständigung verläuft, sondern auf diesen zurückwirkt und ihn mittelbar beeinflusst. Schon bevor Kriminologen sich mit Kriminalität befassten, war dies ein Thema des alltäglichen Diskurses. Kriminologen greifen ein Thema auf, welches mit Bedeutungen belastet ist, die die „normalen“ Leute ihm beimessen, und sie müssen diese „normalen“ Bedeutungen – nicht anders als die Laien es tun – reinterpretieren, um den Gegenstand ihrer Analyse zu bestimmen.
[24]30Schaubild 1.1: Erklären und Verstehen
Kausales ErklärenInterpretatives VerstehenModellMonistisch:erklärt „Ursachen“ menschlichen Verhaltens wie die verursachenden Faktoren eines NaturgeschehensDualistisch:Sinnhaftigkeit und Intentionalität der „Gründe“ des Handelns von Subjekten müssen anders als eine Naturgegebenheit bestimmt werdenSozialwelt als GegenstandUnabhängig vom Beobachter als mit ihm nicht kommunizierendes Objekt materiell vorhandenForscher ist mit Sozialwelt reflexiv verbunden: er hat daran Anteil, agiert mit der Forschung in ihr und diese reagiert kommunikativ auf ForschungsergebnisseBeobachtungErfolgt einseitig: Beobachter → ObjektVerläuft interaktiv: Beobachter ↔ ObjektMethodeQuantitativ an statistischen Zusammenhängen interessiertQualitativ an der Rekonstruktion des Sinns interessiert, den der Handelnde mit seinem Handeln verbindet31
Damit stellt sich die prekäre Frage, was die kriminologische Wahrnehmung zur wissenschaftlichen macht, also vom Laienverständnis unterscheidet. Die Antwort fiele nur leicht, wenn man mit dem Erklärungsmodell davon ausgehen könnte, dass die kriminologische Beobachtung in der streng objektiven wissenschaftlichen Wahrnehmung und Erklärung von Faktizität bestünde. Jedoch gibt es zur Beobachtung der Sozialwelt nicht den einen externen objektiven Standpunkt, sondern nur Standpunkte in ihr, die den Beobachtenden einbeziehen, die seine Wahrnehmung perspektivisch und seine Feststellungen bestreitbar machen.
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Darum kann die Kriminologie, wie die Sozialwissenschaften überhaupt, nicht mit der unbezweifelbaren Autorität einer „exakten“ Wissenschaft auftreten. Dennoch unterscheiden sich wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Kriminalität von unbelehrten und ungelehrigen Debatten am Stammtisch. Was die Wissenschaft auszeichnet, ist das reflexive Bewusstsein ihrer Perspektivengebundenheit, ihr Bemühen um Unbefangenheit und die diskursive Begründung ihrer Annahmen. Dies soll im folgenden Abschnitt deutlicher werden.
33 Sutherland/Cressey 1978, 21.
34 Comte 1975.
35 Der Begriff bezieht sich ursprünglich auf eine Praxis, die ohne Bezug auf Theorien sich auf wissenschaftlich erwiesene „Fakten“ stützen will, wird inzwischen aber auch für die empirische Wissenschaft selbst verwandt, die scheinbar theorieindifferent nach reinen „Fakten“ sucht.
36 Habermas 1967.
37 Sellars 1997, 117, sect. 63: „The myth of the given”.
38 Wittgenstein 1973, 8.
39 Reckwitz 2012, 15, 32.
40 Sack 1968, 469.
41 Ferell/Hayward/Young 2015, 1 ff.
42 Giddens 1984, 199.
43 Giddens 1984, 199.
44 Ferell/Hayward/Young 2015, 209 ff.
45 Diekmann 2010, 443 ff., 461 ff., 510 ff.; Flick 2012; Mayring 2016.
46 Sack 2003, 87.
47 Wittgenstein 1973, 107.
48 Kunz 2001.
[25]§ 3 Das Problem kriminologischer Unbefangenheit
Lektüreempfehlung: Kunz, Karl-Ludwig (2008): Die wissenschaftliche Zugänglichkeit von Kriminalität. Ein Beitrag zur Erkenntnistheorie der Sozialwissenschaften. Wiesbaden, 35-53; Sack, Fritz (1996): Kriminalität dementieren – sonst nichts? KrimJ 28, 297-300.
1
Nach dem vorherrschenden Erklärungsmodell (→ § 2 Rn 6 ff.) gilt es, „die Gesamtheit des Erfahrungswissens“49 zu sammeln und zu ordnen. Kriminologie wird so als Erfahrungswissenschaft verstanden, die sich auf die Beobachtung erhobener Fakten gründet und die gewonnenen Wahrnehmungen an theoriegeleiteten Hypothesen überprüft. Ziel ist die „Gewinnung eines festen Bestandes an gesichertem Wissen“50. Damit soll sich die Kriminologie zu einer „harten“ Wissenschaft entwickeln, die streng auf aussagekräftigen Beobachtungen beruht und damit evidence-based (→ § 2 Rn 8) verfährt.51
„Wie keine mir bekannte Einzeldisziplin zieht die Kriminologie mit dem Schwert der Empirie und der emphatischen Betonung der Erfahrung, der Tatsachen, der Beobachtung gegen theoretischen Anspruch und konzeptuelle Vorgängigkeit zu Felde, proklamiert, ja: klammert sich an einen wissenschaftlichen Induktivismus, den man in wissenschaftshistorischer Literatur wohl noch nachlesen kann, aus den aktuellen methodischen und methodologischen Anleitungen für die Werkstattarbeit gesellschaftlicher Analyse indessen vollständig verbannt findet.“52
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An sich ist es erwünscht und soweit möglich geboten, sich bei der wissenschaftlichen Annäherung an Kriminalität von der schillernden Ambiguität der Empfindungen zu lösen. Die Faszination der Kriminalität, ihr geheimnisvoller und leidenschaftlicher Gehalt, löst in uns wie kaum sonst ein Thema Empfindungen des Mitgefühls und der Abscheu, der Neugier und der Verängstigung aus, deren Widerstreit nicht zum Ende kommt, sondern sich problembezogen immer wieder neu entzündet. Kriminalität ist mit zwiespältigen Empfindungen verbunden: mit Entrüstung und heimlicher Bewunderung, Betroffenheit und Schadenfreude, mit Nachsicht und Racheverlangen. Die von der Kriminalität in uns ausgelöste Erregung (ver)leitet unsere Wahrnehmungsgabe, (ver)führt uns zu einseitigen Schlüssen, macht uns in Vorurteilen befangen. Unsere subjektiven Vorstellungen über Kriminalität sind stark durch unsere Lebensgeschichte und durch persönliche Erlebnisse in Rollen wie denen des Opfers, des mitfühlenden Angehörigen, des spitzbübisch über ein gelungenes Ganovenstück sich freuenden Zeitungslesers geprägt. Die subjektive [26]Wahrnehmung und Einstellung zur Kriminalität ist kontextabhängig. Dieser Kontext ist anderen kaum je vollständig vermittelbar, ist vielfach uns selbst gar nicht bewusst. Eigene Wahrnehmung vermischt sich in der Erinnerung mit Berichten vom Hörensagen. Unmittelbare Erfahrungen werden überlagert durch vielerlei Aufarbeitungen des Themas in Presse und Literatur, auf die wir je nach Geschmack zurückgreifen und die unser Vorstellungsbild unterschiedlich prägen. All dies erschwert einen möglichst vorurteilslosen, allgemein nachvollziehbaren Zugang zum Thema.53
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Das wusste man schon in der Zeit der Aufklärung, als das Programm einer Wissenschaft vom Verbrechen erstmals verkündet wurde (→ § 4 Rn 2). In der Erzählung „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ zeigt Friedrich Schiller (1759-1805), wie die Unterdrückung des Individuums durch Gesellschaft und Justiz dieses zum Verbrecher werden lässt. Er plädiert für eine unemotionale, wissenschaftliche Analyse des Verbrechens. Anstatt das Herz des Lesers durch hinreißenden Vortrag zu bestechen und damit die republikanische Freiheit des lesenden Publikums zu beleidigen, müsse die Kriminalität mit nüchterner Sachlichkeit beschrieben werden. Die wissenschaftliche Befassung mit der Kriminalität ist für Schiller eine umfassende Menschheitswissenschaft, die über menschliches Verhalten und seine gesellschaftlichen Bedingungen am besonders aufschlussreichen Extrembeispiel der Kriminalität generelle Aussagen trifft. Dem gemäß beginnt die Erzählung in der ersten Fassung wie folgt:
„Die Heilkunst und Diätetik, wenn die Ärzte aufrichtig sein wollen, haben ihre besten Entdeckungen und heilsamsten Vorschriften vor Kranken- und Sterbebetten gemacht. Leichenöffnungen, Hospitäler und Narrenhäuser haben das helleste Licht in der Physiologie angezündet. Die Seelenlehre, die Moral, die gesetzgebende Gewalt sollten billig diesem Beispiel folgen und ähnlicherweise aus Gefängnissen, Gerichtshöfen und Kriminalakten – den Sektions-berichten des Lasters – sich Belehrungen holen.“54
In der endgültigen Fassung heißt es nicht minder prägnant:
„In der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrungen.“55
4 Ausdruck eines solchen über ihre unmittelbaren Studienobjekte hinausweisenden Verständnisses der Kriminologie als umfassende Menschheits- und Gesellschaftswissenschaft ist die Ablösung der Bezeichnungen „Krimineller“ und „Kriminalität“ durch den Begriff des „abweichenden“ oder „devianten“ Verhaltens. Damit soll von [27] einer einseitig negativen, stigmatisierenden Wertung Abstand genommen und ein unbefangener, sich moralischer Parteinahme enthaltender Zugang erleichtert werden. Zugleich werden damit Verbindungslinien gezeichnet zu anderen, nicht strafbaren sozialen Auffälligkeiten. Mag es sich auch um eine zunächst gekünstelt wirkende Beschreibung handeln – das Verständnis der Kriminalität als sozial abweichendes Verhalten, dessen Eigenart allein in der Abweichung von gesellschaftlich herrschenden Normen besteht, ist eine tragfähigere Basis für eine Wissenschaft, die sich dem Anspruch eines möglichst vorurteilsfreien Studiums stellt.
5 In der Regel wird die gebotene wissenschaftliche Unbefangenheit sehr radikal dahin verstanden, die Wissenschaft müsse strikt „wertfrei“ und „objektiv“ vorgehen. Gefordert ist eine Trennung der emotional befrachteten lebenspraktischen Wahrnehmung von der wissenschaftlichen Untersuchung. Letztere müsse von den Trübungen dieser Wahrnehmung gereinigt, rein „wertneutral“, also gleichsam auf einer kognitiven tabula rasa erfolgen. In den Naturwissenschaften erscheint diese Auffassung noch einigermaßen plausibel, obwohl auch die modernen Naturwissenschaften ihren fragwürdigen Rigorismus nicht mehr teilen56: Der Chemiker, der eine unbekannte Reagenz auf ihre Bestandteile analysiert, mag dabei von Neugier, Wissensdurst und Streben nach Reputation geplagt sein. Solange er die Regeln der experimentellen Forschung einhält, wird er ungeachtet seines möglichen Interesses an spektakulären Ergebnissen einigermaßen „wertneutral“ zu „objektiven“ Erkenntnissen gelangen.
6 Dies gilt für die Kriminalität so nicht. Sie ist nie reines Objekt, das unabhängig vom erkennenden Subjekt existierte und – nur deshalb und nur dann – in theoretischer Distanz streng „wertneutral“ analysiert werden könnte. Kriminalität ist ein gesellschaftlicher Gegenstand, an dem Forschende als gesellschaftliche Subjekte immer schon je spezifisch Anteil haben, und den sie aus ihrer je besonderen persönlichen Perspektive wahrnehmen. Eine völlige Befreiung von dieser Perspektive, die den Forscher gleichsam auf einen fremden Stern versetzen und ihm dadurch den objektiven Blick auf die Gesellschaft verschaffen würde, ist weder möglich noch zur Erlangung der gebotenen Unbefangenheit nötig. Strenge „Objektivität“ bedeutet die Illusion der Möglichkeit eines Blicks von Nirgendwo.57 Stattdessen geht es darum, angesichts der zwangsläufigen Eingebundenheit des Forschenden in eine spezifische Lebenspraxis, welche auch spezifische Vorstellungen über Kriminalität vermittelt, Unbefangenheit herzustellen: Es gilt, sich bei wissenschaftlichen Aussagen über Kriminalität die Subjektivität seiner lebenspraktischen Einstellung zu dem Thema reflexiv bewusst zu machen, sich so gut wie möglich davon im Erkenntnisvorgang zu distanzieren, sich für Deutungsmöglichkeiten zu öffnen, die von dem eigenen Vorstellungsbild abweichen, und quer zu antrainierten Mustern zu denken.
[28]7
Gefordert ist etwa eine verantwortliche Haltung, die das eigene Forschungsprojekt, seine leitenden Annahmen und die methodischen Aussagemöglichkeiten skrupulös transparent macht. Zudem ist das Beurteilungsfeld über die individuelle Lebenswelt und die eigene Erfahrung hinaus zu erweitern, indem andere Wahrnehmungen aufgenommen und andere Verständnisse aufgegriffen werden. Ferner ist das der eigenen Lebenswelt entstammende Verständnis menschlicher Intentionalität zu ergänzen durch ein „systemisches“ Verständnis der Sozialwelt in ihren Vernetzungen und Interaktionen. Vor allem aber ist eine bewusste Distanzierung von vertrauten Perspektiven gefordert.
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Kriminologen gewinnen in dem Maße wissenschaftliche Unbefangenheit, wie es ihnen gelingt, die Selbstevidenz vertrauter Kriminalitätswahrnehmungen zu meiden, sich von routinemäßigen Denkhaltungen zu befreien und am gesellschaftlichen Diskurs über Kriminalität gleichsam wie irritierende Fremde teilzunehmen, welche Fragen stellen, auf die andere nicht kommen. So lässt sich die Wissenschaftlichkeit der Kriminologie in ähnlicher Weise bestimmen, wie Zygmunt Bauman (*1925) dies für die Soziologie tut. Damit distanziert sich dieses Verständnis wissenschaftlicher Unbefangenheit deutlich von dem Postulat des „wertfreien“ Erkennens.
„To think sociologically can render us more sensitive […]. It can sharpen our senses and open our eyes to new horizons beyond our immediate experiences in order that we can explore human conditions which, hitherto, have remained relatively invisible […] Sociological thinking, as an anti-fixating power, is therefore a power in its own right. It renders flexible what may have been the oppressive fixity of social relations and in so doing opens up a world of possibilities. The art of sociological thinking is to widen the scope and the practical effectiveness of freedom. When more of it has been learnt, the individual may well become just a little less subject to manipulating and more resilient to oppression and control. They are also likely to be more effective as social actors, for they can see the connections vetween their actions and social conditions and how those things which, by their fixity claim to be irresistible to change, are open to transformation.“58
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Der in den Sozialwissenschaften unhaltbare Rigorismus eines „wertfreien“ Erkennens vermittelt allerdings den trügenden Eindruck, die Sozialwelt sei als eine Fülle vermeintlich naturalistisch beobachtbarer „Befunde“, „Daten“ oder „Tatsachen“ vorgegeben. Diesem Eindruck entspricht die Vorstellung, die erhobenen Beobachtungen ergänzten einander und würden, Mosaiksteinchen ähnlich, sich à la longue zu dem linearen Gesamtbild eines gesicherten Wissensbestandes zusammenfügen.
[29]10
Diese Vorstellung eines schrittweisen Erkenntnisfortschritts durch quantitatives Wissenswachstum wäre nur in dem Maße zutreffend, wie homogene Erkenntnisraster verwandt und Beurteilungen getroffen würden, über die in der Forschergemeinschaft Konsens bestehen. Indessen ist – abgesehen davon, dass schon im Allgemeinen das Ganze immer mehr ist als die Summe seiner Teile – jede Erhebung von Daten theoriegeleitet. Die jeweils gewählten methodischen Instrumente bestimmen die Untersuchungsanordnung, die sich notwendig auf die Prüfung bestimmter Aspekte des zu untersuchenden Phänomens beschränkt. Jede empirisch gestützte Aussage über Zusammenhänge zwischen Einzelbeobachtungen enthält implizit eine aus den Beobachtungen nicht mehr ableitbare Behauptung darüber, dass die Aussage einstweilen durch Erfahrung hinreichend gestützt und als gültig anzusehen sei. Die theoriegeleitete Wahl des Untersuchungsfeldes und die Entscheidung, gewonnene Ergebnisse als vorläufig verbindlich zu akzeptieren, verlangen wertende Entschlüsse, die nicht erfahrungswissenschaftlich begründbar sind, sondern nur in dem Masse Gültigkeit beanspruchen, wie sie diskursiv begründet, argumentativ belastbar und von der Gemeinschaft der Forschenden akzeptiert sind. Ein solcher Konsens besteht allenfalls innerhalb einer der verschiedenen Strömungen der kriminologischen Forschergemeinschaft.
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Die Vorstellung eines einheitlichen, sich zu einem geschlossenen zweidimensionalen Gesamtbild formenden kriminologischen Datenbestandes wird nicht zuletzt durch die dissonante Entwicklungsgeschichte des Fachs im Zielkonflikt zwischen akademischem Anspruch und Wissenszulieferung für den institutionellen Umgang mit Kriminalität widerlegt. Der Mangel an einer konsistenten „Disziplinarität“ und das Fehlen einer selbstbewusst in sich ruhenden Geschlossenheit zeigen sich in hitzigen Richtungsstreitigkeiten und der Anfälligkeit für die Übernahme intellektueller Modetrends.59 Das Verständnis eines einheitlichen kriminologischen Wissensbestandes ist nicht wissenschaftlich begründet, sondern entspringt dem Streben nach Reputation bei den Agenten der Kriminalpolitik. Nur als Produktionsstätte eines bedarfsgerecht einheitlich zu präsentierenden „Erfahrungswissens“ (→ § 1 Rn 10) kann die Kriminologie die Rolle als neutraler Lieferant wertfreier Informationen zur Vorbereitung von Entscheiden der praktischen Kriminalpolitik spielen. Der von der kriminologischen Bedarfsforschung erweckte falsche Anschein der strikt wertneutralen Politikberatung verbirgt nach Foucault eine „geschwätzige und aufdringliche“ Anbiederung an die offizielle staatlich dominierte Kriminalpolitik:




