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„Haben Sie schon Texte von Kriminologen gelesen? Da haut es Sie um. Ich sage das nicht aggressiv, sondern erstaunt, weil ich nicht verstehen kann, wie dieser Diskurs der Kriminologen auf diesem Niveau bleiben konnte. Er scheint für das System so nützlich und notwendig [30] zu sein, dass er auf theoretische Rechtfertigung oder methodische Konsistenz verzichten zu können glaubt. Er ist einfach ein Gebrauchsartikel.“60
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Im Bemühen um eine objektive wissenschaftliche Erkenntnis wurde um die Jahrhundertwende von Anhängern des sogenannten Logischen Empirismus die Auffassung vertreten, werturteilsbehaftete moralische Aussagen seien schlechthin unzulässig. Diese Auffassung kommt im Frühwerk von Wittgenstein, der sich von seinen eigenen grundlegenden Annahmen später weitgehend distanziert hat, in nicht zu überbietender Prägnanz zum Ausdruck:
„Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.“61
13 Diese rigoros metaphysikfeindliche These wurde im Kritischen Rationalismus von Karl Popper (1902-1994) abgeschwächt. Aus der Einsicht, dass der Forscher als Mensch zu einem gesellschaftlichen Forschungsgegenstand ein je spezifisches Verhältnis hat, das auch sein Forschungsverhalten bestimmt, wurde abgeleitet, werturteilsbehaftete Aussagen seien dem Forscher wie jedermann sonst im politisch-moralischen Diskurs unbenommen, im Forschungsprozess habe er sich ihrer aber zu enthalten. Das Problem, wie dies möglich sei, sucht Popper mit der Analogie zum Kaffeetrinken zu lösen: Die notwendig auf eine subjektive Stellungnahme hinauslaufende Anteilnahme des Forschers an seinem gesellschaftlichen Forschungsgegenstand entfalte eine bloß anregende Wirkung wie der Kaffee, den der Chemiker vor Erstellen des Experiments genieße. Sofern nur die Forschung selbst nach dem Modell eines naturwissenschaftlichen Experiments durchgeführt werde, seien deren Befunde objektiv gültig. Erst die Tilgung, oder besser: die Verleugnung der subjektiven Komponente macht die erfahrungswissenschaftliche Versuchsanordnung möglich:
„Jeder empirisch-wissenschaftliche Satz (muss) durch Angabe der Versuchsanordnung u. dgl. in einer Form vorgelegt werden, dass jeder, der die Technik des betreffenden Gebiets beherrscht, imstande ist, ihn nachzuprüfen.“62
14 Nach dem von Poppers Kritischem Rationalismus geprägten Wissenschaftsverständnis der objektivierenden empirischen Forschung muss man sich als Kriminologe von seiner persönlich-moralischen Werthaltung zur Kriminalität dispensieren, muss sich auf die Aufstellung solcher Behauptungen („Hypothesen“) beschränken, die experimentell überprüfbar sind, d.h. an Erfahrungen scheitern können.
[31]15
Die Wahl eines bestimmten Wirklichkeitsausschnitts der Kriminalität – etwa Kriminalität als mögliches Ergebnis einer bestimmten biologischen Veranlagung oder einer bestimmten gesellschaftlichen Struktur – ist im Kritischen Rationalismus Teil des unverbindlichen Entstehungszusammenhanges, in dem der Forscher nach seinen persönlichen Neigungen ein ihm anregend erscheinendes Thema wählt. Die Wissenschaftlichkeit seines Vorgehens ergibt sich hingegen allein aus dem Begründungs- oder Rechtfertigungszusammenhang, in welchem die Beobachtungen und Schlussfolgerungen ohne subjektive Beimengung rein objektiv empirisch getestet und systematisch geprüft werden.
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Aber wie sollen ausgerechnet Kriminalität und Bestrafungsvorgänge, die doch eminente Leiden schaffen und heftiges Mitfühlen auslösen, völlig leidenschaftslos studiert werden können?
„Schon die heute häufig zu hörende Forderung, man solle das Verbrechen emotionslos betrachten, ist unpolitischer Irrealismus.“63
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Die kriminologischen Untersuchungsgegenstände sind jedenfalls keine rein wertneutral zugänglichen Präparate unter dem Mikroskop des Forschers, sondern Produkte menschlicher Handlung und Deutung, die der Forscher interpretativ erschließt und auf die er mit seiner Forschung verändernd einwirkt. Bereits die Wahrnehmung als erster Filter der empirischen Beschäftigung mit sinnlich erfassbaren Aspekten von Kriminalität ist vom Menschen als einem empathisch empfindenden Sozialwesen geprägt. Davor vermag auch das Bemühen um scheinbar „objektivierende“, menschliches Verhalten quasi naturwissenschaftlich erschließende Zugangswege nicht zu schützen. Zudem fließen bei der Wahl eines dem Forscher unter den Nägeln brennenden Themas interindividuell unterschiedliche Empfindungen und Assoziationen zum Kriminalitätsthema, das zwangsläufig mit spezifischen Emotionen verbunden ist, unvermeidlich mit ein (→ § 2 Rn 11).
„Der Unterschied zwischen Gesellschaft und Natur besteht darin, dass Natur nicht vom Menschen gemacht ist, nicht durch den Menschen erzeugt wurde. […] Die Gesellschaft […] ist nicht von einer einzelnen Person geschaffen worden, sie wird vielmehr (wenn auch nicht ex nihilo) durch die Teilnehmer eines jeden gesellschaftlichen Kontakts geschaffen und aufrechterhalten. Die Produktion der Gesellschaft ist eine auf Fertigkeiten beruhende, vom Menschen getragene und ‚geschehen gemachte’ Leistung. Sie ist nur möglich, weil jedes (kompetente) Gesellschaftsmitglied ein praktischer Gesellschaftstheoretiker ist; bei jeder Art von Kontakt, den es unterhält, greift es normalerweise ungezwungen und routinemäßig auf sein Wissen und seine Theorien zurück, und der Gebrauch dieser praktischen Ressourcen ist genau die Bedingung für die Herstellung gesellschaftlicher Kontakte überhaupt. [32]Solche Ressourcen … sind als solche vom theoretischen Standpunkt der Sozialwissenschaftler nicht zu verbessern, sondern werden von diesen im Laufe jeder Untersuchung, die sie durchführen, selbst in Anspruch genommen. D. h., die Beherrschung der Ressourcen, die Gesellschaftsmitglieder zur sozialen Interaktion befähigt, ist ebenso eine Voraussetzung für das Verstehen dieses Verhaltens durch den Sozialwissenschaftler wie sie es für jene Mitglieder selbst ist.“64
18 Die quantifizierende empirische Erfassung und Erklärung von „Sozialdaten“ bildet die soziale Welt nicht ab, sondern simuliert diese in einem Artefakt, dessen Struktur durch die empirische Recherchetechnik vorgegeben ist. Der dem naturwissenschaftlichen Experiment nachgebildete empirische Erfahrungstest reproduziert durch Verwendung von standardisierten Fragebögen und statistischen Auswertungsverfahren Individuen und ihr Handeln so, als ob es sich dabei um mikroskopische Präparate handelte, deren Merkmale objektiv messbar seien. Ausgeblendet bleiben dabei die nur verstehend erschließbaren Intentionen der Akteure kriminalisierter und kriminalisierender Handlungen, die intersubjektiven Wirkungszusammenhänge, die mitmenschlich nachfühlbare Leidensgeschichte von Opfern und Bestraften, kurz: die spezifisch menschliche Subjektivität von Kriminalität und Kriminalisierung. Die Umformung dieser Subjektivität in empirisch erfassbare Eigenschaften von Subjekten muss deren Handlungen als durch solche Eigenschaften im Sinne einer statistischen Wahrscheinlichkeit determiniert verstehen. Das Subjekt wird zum „Merkmalsträger“ und somit austauschbar gemacht, wobei die Summe der Merkmale das Verhalten der Subjekte zureichend und erschöpfend erklärt.65 Auch dies hat bereits Wittgenstein erkannt, indem er als Konsequenz der empirisch erklärenden Erkenntnishaltung festhält:
„Das denkende, vorstellende Subjekt gibt es nicht.“66
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Objektivierende quasi naturwissenschaftliche Versuchsanordnungen in der Kriminologie tragen dazu bei, den „Kriminellen“ als autonome Person zu vernichten.
„Par la connaissance scientifique, la société prend d’elle même une conscience réflexive: elle se voit, elle se décrit, elle voit dans le voleur un de ses innombrables produits; elle l’explique par des facteurs généraux. Quand elle a fini son travail, il ne reste plus rien de lui.“ 67
[33]20
Aus diesem Befund lassen sich mehrere Konsequenzen ziehen. Erstens besteht Bedarf für eine alternative verstehende kriminologische Erkenntnismethode, die
■ die Unvoreingenommenheit des Erkennens anders als durch das uneinlösbare Postulat strikter Wertfreiheit erstrebt;
■ die zu beobachtenden Subjekte als intentional handelnde Akteure und nicht als in ihrem Verhalten determinierte Objekte versteht;
■ die sich auf die Komplexität der zu erschließenden Wirklichkeit einlässt, anstatt die Wirklichkeit auf die mit standardisierten Erhebungsverfahren sichtbar zu machenden Merkmale zu reduzieren.
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Zweitens sind neben der dem Verstehensmodell folgenden qualitativen Forschung andere Zugangswege zu den Phänomenen von Kriminalität und Kriminalisierung von Interesse: Etwa die Strafrechtsgeschichte, die bildhaft und hautnah Kontrast- und Analogieerlebnisse zur aktuellen Situation zu vermitteln weiß.68 Die Romanliteratur, welche die menschlichen Aspekte von Kriminalität und Strafverfolgung veranschaulicht69 und uns in die Abgründe der Psyche von Tätern, Opfern und Verfolgern blicken lässt70. Die Poesie von Baudelaire, welche die „Blumen des Bösen“ zum Erblühen bringt.71 Die Gerichtsreportagen von Sling, dem Klassiker des Genres.72 Die Briefe aus dem Gefängnis von Vaclav Havel und Antonio Gramsci.73 Filme wie Stanley Kubricks „Clockwork Orange“ und Milos Formans „Einer flog über das Kuckucksnest“. Oder nicht zuletzt ganz unvermittelt das Gespräch mit Inhaftierten, Opfern und deren hinterbliebenen Angehörigen.
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Angesichts der eminenten gesellschaftlichen Bedeutung des sich auf Kriminalität richtenden Erkenntnisinteresses (→ § 1 Rn 5) bleiben indessen Zweifel, ob die objektivierende quantitative Kriminologie restlos durch interpretativ verstehende Forschung ersetzbar ist. Der Anspruch wertfreier Erkenntnis ist Ausdruck der die Aufklärung und die Moderne beherrschenden Vorstellung von vernunftgemäßer Wissensproduktion zur Gestaltung der Gesellschaft. Von der Vorstellung scheinbar makellos wertfrei gewonnener Befunde geht eine Faszination aus, der die praktische Kriminalpolitik bereitwillig erliegt. Die Magie scheinbar eindeutiger „Fakten“ verleiht dem kriminalpolitischen Argument, das sich darauf bezieht, etwas vermeintlich Objektives und Definitives. Eine wissenschaftliche Betrachtungsweise, die im kriminalpolitischen Diskurs ähnliches Gewicht hätte, ist nicht vorhanden. Nüchtern betrachtet muss man sich deshalb wohl damit abfinden, dass die objektivierende [34] quantitative Kriminologie wegen ihrer Funktionalität für Verwertungsbedürfnisse der praktischen Kriminalpolitik dominant ist. Die sich interpretativ verstehende Forschung gewinnt gleichwohl gerade bei einem kritischen, für unkonventionelle Perspektiven aufgeschlossenen Publikum immer stärkere Bedeutung.
49 Kaiser 1997, 1.
50 Kaiser 1997, 9.
51 Killias 2007, 315, 329.
52 Sack 2003, 76.
53 Sack 1996, 297 ff.
54 Schiller o. J., 192.
55 Schiller o. J., 243.
56 Feyerabend 1986.
57 Nagel 1986.
58 Bauman/May 2001, 11.
59 Kaum sind etwa in der Hirnforschung bildgebende Verfahren entwickelt, wird über die Kriminogenese im „Tatort Gehirn“ spekuliert (→ § 7 Rn 23 f.).
60 Foucault 1976b, 41.
61 Wittgenstein 1969, Vorwort, vgl. auch Thesen 1, 1.1, 4.023, 7.
62 Popper 1971, 257.
63 Naucke 2002, 41.
64 Giddens 1984, 16 f.
65 Kunz 1990, 92.
66 Wittgenstein 1969, These 5.631.
67 Sartre 1952, 545: „Durch ihre wissenschaftliche Wahrnehmung gewinnt die Gesellschaft von selbst ein reflexives Bewusstsein: sie beobachtet sich, sie beschreibt sich, sie erkennt im Dieb eines ihrer unzähligen Werke; sie erklärt sich durch generelle Umstände. Wenn sie ihre Arbeit beendet hat, bleibt von ihm nichts mehr übrig.“ Diese brillante Analyse aus dem Standpunkt eines „Zuchthäuslers“ war ursprünglich als Einführung zu den gesammelten Werken des wegen Raubes und Päderastie mehrfach inhaftierten Dichters Jean Genet gedacht.
68 Vgl. den Bildband Schild 1985.
69 Dazu Ruggiero 2003.
70 Dostojewskij 1994; Genet 1982.
71 Baudelaire 1979.
72 Sling (alias Paul Schlesinger) 1929.
73 Havel 1984; Gramsci 1988.
§ 4 Geschichte der Kriminologie
I. Anfänge und Wegbereiter kriminologischen Denkens
1
Überlegungen zu den Gründen des Straffälligwerdens und zur sozialen Funktion der Strafe finden sich bereits bei den griechischen Philosophen Plato (427-347 v. Chr.), Aristoteles (384-322 v. Chr.) und Hippokrates (460-377 v. Chr.). Das Mittelalter begreift das Verbrechen als Sünde wider Gott und sperrt sich damit gegen weltliche Kriminalitätserklärungen. Immerhin stützt sich das mittelalterliche Inquisitionsverfahren auf experimentelle Techniken der Gerichtsuntersuchung. Seit Beginn des 14. Jahrhunderts sind Bemühungen um eine richterliche Erforschung der materiellen Wahrheit durch Leichenöffnung und Leichenschau bekannt. Die Peinliche Gerichtsordnung Karls V. (Constitutio Criminalis Carolina, 1532) schreibt bei Tötung und Kindstötung den Sachverständigenbeweis zur empirischen Abklärung der Verbrechensursache vor. Humanismus und Renaissance vermitteln ein neues säkularisiertes Weltbild, das den Menschen als konkretes Individuum in den Mittelpunkt stellt. Die Säkularisierung erfasst auch das Strafrecht, das sich nunmehr von seinen religiösen Bezügen löst und nach einer weltlichen Begründung der Strafe sucht. Spekulationen über gesellschaftliche Verbrechensursachen lösen erstmals eine Kritik der geltenden Strafpraxis aus. So stellt der Humanist Thomas Morus (1478-1535) die bezeichnende Frage nach der „Herkunft der Diebe“ und schlägt eine vorbeugende Kriminalitätsbekämpfung durch Minderung von Armut und Elend vor.74
2 Eine systematische Befassung mit Kriminalität setzt im 18. Jahrhundert ein. Die französische Aufklärungsphilosophie bekämpft die „Unvernunft“ mythisch-religiöser Vorstellungen und postuliert die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Damit liefert die Aufklärung die methodischen Instrumente einer Kritik der diesen Idealen widersprechenden Sozialordnung des Ancien Régime. Die Verwirklichung dieser Ideale bildet die politische Rechtfertigung der Revolution von [35]1789. Indem die französische Aufklärungsphilosophie einerseits die Entfaltung säkularer Wissenschaften beflügelt und andererseits eine kritische, auf politische Veränderungen hin abzielende Gesellschaftstheorie anleitet, bildet sie die Basis für eine bipolare Entwicklung der Gesellschaftswissenschaften, die alsdann in zwei Lager auseinanderdriften. Das eine Lager übernimmt die in den rasch expandierenden exakten Naturwissenschaften entwickelten Methoden empirischer Beschreibung und Erklärung in die Gesellschaftswissenschaften und unterwirft diese einem sozialtechnologischen Erkenntnisinteresse. Das andere Lager bezieht Ideale, die auf eine Gesellschaftsveränderung abzielen, in die Theoriebildung ein und verfolgt damit ein kritisches Erkenntnisinteresse.
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Beide Lager finden sich in der Folge zeitversetzt in der Kriminologie vertreten: Während die Klassische Schule der Kriminologie des 18. Jahrhunderts noch beide Erkenntnisinteressen zu verfolgen trachtet, wird im 19. Jahrhundert in der anthropologisch-positiven Schule (→ § 4 Rn 19) ein sozialtechnologischer Umgang mit Kriminalität ausgebildet.
II. Die Klassische Schule des 18. Jahrhunderts
Lektüreempfehlung: Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M., 93-132; Naucke, Wolfgang (1989): Die Modernisierung des Strafrechts durch Beccaria. In: Deimling, Gerhard (Hrsg.): Cesare Beccaria. Die Anfänge moderner Strafrechtspflege in Europa. Heidelberg, 37-53.
4 Noch nicht 26jährig, veröffentlicht der Mailänder Graf Cesare Beccaria Bonesana (1738-1794) 1764 ein schmales Buch unter dem Titel „Dei delitti e delle pene“ („Über Verbrechen und Strafen“). Diese bald ins Französische und ins Deutsche übersetzte Schrift entfacht in wenigen Jahren europaweit eine hitzige Debatte über Strafgesetzgebung und Kriminalpolitik. So verfasst Voltaire (1694-1778) 1766 einen Kommentar zu diesem Buch, der mit den Worten beginnt:
„Ich stand mitten in der Lektüre des kleinen Buchs über Verbrechen und Strafen, das in der Moral ist, was in der Medizin die wenigen Heilmittel sind, mit denen unsere Übel erleichtert werden können. Ich schmeichelte mir, dieses Werk werde den Rest der Barbarei im Rechtswesen so vieler Nationen verringern; ich hoffte auf einige Reformen im Menschengeschlecht […].“75
[36]5
Beccarias Werk, dessen Titel bereits den Zusammenhang des Verbrechens mit der Gesellschaft betont, liest sich heute als eine humanitäre Kritik der sinnlosen Brutalität des menschenunwürdigen Strafrechts seiner Zeit und als Grundlegung eines modernen und effizienzorientierten Strafrechts. Die in einem politisch-philosophischen Räsonnement vorgetragene Kritik wendet sich gegen ein despotisches und irrationales Strafrecht, das Handlungen ohne Rücksicht auf die Verletzung sichtbarer Rechtsgüter pönalisiert. Angeprangert wird die Nutzlosigkeit und Ungerechtigkeit der Todesstrafe und der Folter. Gefordert wird ein für alle gleiches gesetzlich bestimmtes Strafrecht, das sich an der Sozialschädlichkeit von unter Strafe gestellten Handlungen ausrichtet und das von einem unabhängigen gesetzlichen Richter vollzogen wird.
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Die Grundannahme der Aufklärung, dass alle Menschen gleich und frei seien, formt das Menschenbild eines rational und autonom handelnden Individuums. Für das Kriminalitätsverständnis folgt daraus, dass prinzipiell jeder Mensch fähig ist, eine unter Strafe stehende Handlung zu begehen und es keine individuellen Ursachen des Straffälligwerdens jenseits der freien Entscheidung des Täters gibt. Damit werden mögliche täterorientierte Erklärungen des Straffälligwerdens, welche das strafbare Verhalten von Umständen jenseits des freien Willens als abhängig erscheinen lassen, verworfen.
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Die Ursachen der Kriminalität bestimmt Beccaria vor allem in einer unvernünftigen Gesetzgebung, welche die Zahl der mit Strafe bedrohten Handlungen vermehrt, anstatt sie zu vermindern, die widersprüchliche, für den Bürger unverständliche Gesetze produziert, welche die natürlichen Rechte des Individuums missachtet und die Furcht zwischen den Bürgern steigert. Weitere Ursachen sind eine korrupte Rechtsprechung, ein gesetzlich unzureichend geregeltes Strafverfahren sowie die Begünstigung des Denunziantentums durch geheime Anklagen. Damit sind für Beccaria die Ursachen der Kriminalität im Kriminaljustizsystem selbst, in seiner unvernünftigen und ungerechten Struktur, angelegt. Eine erfolgreiche Verbrechensvorbeugung erfordert deshalb einen grundlegenden Wandel des Strafrechts und seiner Anwendung, ja letztlich der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse.76 Nicht von ungefähr ist Beccarias Mailänder Lehrstuhl der „Politischen Ökonomie und Wissenschaft der Polizei“ gewidmet, wobei „Polizei“, dem griechischen politeia folgend, sich umfassend mit der Innenpolitik befasst.
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Der Erklärungsansatz Beccarias besitzt Aktualität. Indem er die Verbrechensursachen in kriminogenen Befindlichkeiten des Kriminaljustizsystems und in der gesellschaftlichen Makrostruktur sucht, deutet er die Kriminalität als ein rechtlich und gesellschaftlich produziertes Phänomen, das durch die soziale Reaktion darauf erklärbar wird.
[37]9
Für die von Beccaria geprägte Klassische Schule folgt – anders als für den philosophischen Idealismus Immanuel Kants (1724-1804) – die Notwendigkeit einer rechtsstaatlichen Mäßigung der Strafgewalt aus Nützlichkeitserwägungen. Das Übermaß der Züchtigungen wird weniger als Missbrauch denn als Regellosigkeit und fehlende Ökonomie des Strafens kritisiert. Die Klassische Schule propagiert mit ihrer humanitär motivierten Kritik keine neue Empfindsamkeit, sondern ein neues ökonomisches Kalkül des Strafens, das dessen Wirksamkeit und soziale Akzeptanz erhöhen soll. Die Strafe dient nunmehr zur differenzierten Behandlung der Gesetzwidrigkeiten. Die Willkür und Maßlosigkeit wird ersetzt durch eine proportionale Ökonomie, die nur gerade so viel bestrafen will, wie ausreicht, um Delikte zu verhindern.77 Damit wird die Grundlage für ein präventionsbezogenes und effizienzorientiertes Strafrecht gelegt, das sozialtechnisch bestimmt ist.
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Diese Entwicklungslinie der Klassischen Schule wird besonders in England weiterverfolgt. Der von Jeremy Bentham (1748-1832) geprägte britische Utilitarismus ist um höchste technologische Strafeffizienz bemüht. In diesem Sinne schlägt Bentham Gefängnisbauten in Form eines die totale Überwachung ermöglichenden Panopticons vor. Für den Utilitarismus sind menschliche Handlungen vom Streben nach persönlichem Wohlergehen und der Vermeidung von schmerzhaftem Leid motiviert. Die Aufgabe des Strafrechts besteht folglich in der Sicherstellung, dass das angedrohte Leid der Bestrafung potentielle Täter von dem mit Straftaten verbundenen persönlichen Gewinn abschrecken wird. Die Vorstellung der Strafe als eine Art ökonomische Lenkungsmaßnahme, die potentielle Täter in ihrer autonomen Entscheidung für oder gegen ein Straffälligwerden beeinflussen könne, wird in der Gegenwart von der neoklassischen ökonomischen Kriminalitätstheorie wieder aufgegriffen (→ § 12 Rn 11 ff.).
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Die Klassische Schule bildet die Kriminologie noch nicht als eigenständiges Fach aus. Die Befassung mit Kriminalität erfolgt nicht aus Expertensicht, sondern aus der Perspektive einzelner Universalgelehrter und folgt dem zwiespältigen Anliegen einer humanitären und zugleich effizienzorientierten Strafrechtskritik. Bewusst wird auf die Suche nach charakteristischen Merkmalen von Rechtsbrechern verzichtet. Ein Konzept für einen speziell auf Kriminalität bezogenen Untersuchungsansatz fehlt. Das Verbrechen wird als eine allgegenwärtige Versuchung für alle Menschen betrachtet. Differenzierende Erklärungen dafür, warum einige dem Verbrechen verfallen und andere nicht, werden nicht gegeben.
[38]III. Die Herausbildung der modernen Kriminologie im 19. Jahrhundert
Lektüreempfehlung: Becker, Peter (2002): Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis. Göttingen, 11-34; Crews, Angela D. (2009): Biological Theory. In : Miller, J. Mitchell (Hrsg.): 21st Century Criminology. A Reference Handbook. Thousand Oaks, 184-200; Debuyst, Christian u. a. (2008): Histoire des savoirs sur le crime et la peine. Tome 1: Des savoirs diffus à la notion de criminel-né. Bruxelles.
12 Nachdem das Bürgertum an die Macht gelangt ist, setzen sich die Vorstellungen Beccarias nur unvollkommen durch. Das ökonomische Kalkül des Strafens der Klassischen Schule ist auf eine Gesellschaft gleicher, wirtschaftlich und politisch emanzipierter Citoyens gemünzt. Mit dem Aufkommen des Industrieproletariats und der zunehmenden Verhärtung der Klassenauseinandersetzung verliert Beccarias Konzept seinen gesellschaftlichen Bezug. Die weitgehend mit Armut und Elend zusammenhängende Kriminalität wird zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Gefahr für das Bürgertum durch verderbte, Freiheiten missbrauchende Gauner interpretiert. Der moralisierende Diskurs über das verbreitete Gaunertum dient dem Schutz von Eigentum und Privilegien der wohlhabenden Bürger und legitimiert sicherheitspolizeiliche Interventionen.
13 Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts bestimmen zwei weitere, einander konträre Vorstellungen das Bild des Kriminellen: Der sozial verelendete und der von seiner Natur her degenerierte, krank entartete Mensch. In Abgrenzung von der Klassischen Schule verbindet sich mit beiden Vorstellungen eine Abhängigkeit der Kriminalität von determinierenden Umständen, welche das Individuum dauerhaft prägen und besonders die karrierehafte schwerwiegende Kriminalität erklären sollen.78 Erstmals in Frankreich erfolgt durch Alexandre Lacassagne (1843-1924) und Gabriel Tarde (1843-1904) eine milieubezogene Betrachtung des Verbrechens. Die frühen Studien formulieren eher Programmsätze als prüfbare Annahmen (Lacassagne: „Les sociétés ont les criminels qu’elles méritent!“) und verfolgen keine spezifischen Ziele der Kriminalitätsprävention, sondern wollen allgemeiner private karitative Bemühungen in Abstinentenverbänden und Besserungsvereinen sowie staatliche Benachteiligtenhilfe fördern.




