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Eine zunächst ähnlich vorwissenschaftliche Neugier richtet sich auf die aus physikalischen Eigenheiten von Individuen erkennbare naturhafte Veranlagung zum Verbrechen. Die Physiognomie als die Lehre von der charakterlichen Bestimmung eines Menschen durch äußerliche Merkmale wird bereits von Aristoteles praktiziert [39] und erstmals 1586 von Giambattista della Porta (1535-1615) systematisch entwickelt. Ausgangs des 18. Jahrhunderts studiert der Zürcher Pfarrer Johann Caspar Lavater (1741-1801) die Gesichtszüge hingerichteter Missetäter und leitet daraus eine „Kriminalphysiognomie“ ab.79 Wenige Jahrzehnte später schließt der badische Arzt Franz Josef Gall (1758-1828) aus der Schädelform des Menschen, die sich den je individuell ausgeprägten Hirnteilen anpasse, auf charakteristische Anlagen und begründet mit seiner „Cranioscopie“ genannten Methode die später umfassend auf Gehirn, Veranlagung und Verhalten bezogene Phrenologie.80
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Die moderne Kriminologie als Fach mit einem systematisch erlangten und wissenschaftlich akkreditierten Wissensbestand entwickelt sich, als im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts das wissenschaftliche Interesse an einer Erklärung der Ursachen von Kriminalität mit den spezifischen administrativen Bedürfnissen des Kriminaljustizsystems zusammentrifft. Die Verbindung des wissenschaftlich auf die Kriminalitätsursachen gerichteten, also ätiologischen, mit dem auf staatliche Kriminalitätsbekämpfung gerichteten gouvernementalen Anliegen erschafft die Kriminologie als Wissenschaft der Kriminalitätsursachenergründung im Dienste der staatlichen Kriminalitätskontrolle. Noch immer sind es die gesellschaftliche Umwelt und die natürliche Veranlagung, die als Kriminalitätsursachen in den Blick genommen werden. Aber nun erfolgt die Prüfung möglicher Ursachen professionalisierter und mit klarem Fokus auf die Optimierung der Kriminalitätskontrolle.
16 Seither ist die Kriminologie im Kräftefeld zwischen wissenschaftlicher Autonomie und Praxisnutzen gefangen und bewegt sich darin auf unterschiedlichen Positionen. Dies hätte sich auch anders entwickeln können: Das theoretische Projekt einer akademischen Wissenschaft der gesellschaftlichen Normabweichung ohne strafrechtlichen Themen- und Relevanzbezug wäre ebenso möglich gewesen wie eine auf die Zulieferung nützlicher Informationen gepolte instanzenabhängige Institution ohne akademischen Anspruch.81
17 Die gesellschaftliche Beeinflussung der Kriminalität wird von dem französischen Soziologen Emile Durkheim (1858-1917) auf Modernisierungsprozesse in der arbeitsteiligen Industriegesellschaft bezogen und führt zu einer eigenständigen Kriminalitätserklärung aus einem „anomisch“ genannten gesellschaftlichen Zustand (→ § 9 Rn 3 ff.). Ähnlich ambitiös ist die von dem Belgier Lambert Adolphe Quételet (1796-1874) in seiner „Physique Sociale“ von 1834/35 entwickelte Politische Arithmetik.82 In dieser „Sozialen Physik“ geht es darum, menschliche Handlungen, die einzeln betrachtet willkürlich erscheinen, in ihrer Gesamtheit zu studieren und dabei statistische Gleichförmigkeiten zu erkennen. Gerade bei der mengenmäßigen [40]Betrachtung von Verbrechen, bei denen man eigentlich annehmen würde, dass sie der menschlichen Voraussicht entgehen, sei eine auffällige Beständigkeit hinsichtlich Art und Häufigkeit, die Voraussagen erlaube, erkennbar. Der Gebrauchsnutzen der Kriminalarithmetik wird ausdrücklich darin gesehen, durch die Betrachtung der Kriminalität als aggregierte Datenmenge zu einem vernunftgerechten Einsatz der Ressourcen des Kriminaljustizsystems beizutragen:
„Es gibt ein Budget, das mit erschreckender Regelmäßigkeit bezahlt wird, nämlich das der Gefängnisse, der Galeeren und Schafotte. […] Wir können im voraus aufzählen, wie viele ihre Hände mit dem Blute ihrer Mitmenschen besudeln werden, wie viele Fälscher, wie viele Giftmischer es geben wird, fast so, wie man im voraus die Geburten und Todesfälle angeben kann, die einander folgen müssen.“83
18 Das Ende des 19. Jahrhunderts ist durch einen kometenhaften Fortschritt in den medizinischen und biologischen Wissenschaften geprägt. Charles Darwins (18091882) Theorie der Evolution kraft natürlicher Selektion wird von Herbert Spencer (1820-1903) auf das Prinzip des survival of the fittest zugespitzt und auf das Lebewesen Mensch und gesellschaftliche Prozesse übertragen. Dies bildet nunmehr den theoretischen Deutungsrahmen für die Entstehung von Kriminalität. Zudem kommt die für die Psychologie folgenreiche Vorstellung auf, Menschen verrieten ihre Charaktereigenschaften unbewusst durch die Art ihres Benehmens, durch ihre Körpersprache und Mimik. Die Zurückführung der Kriminalität auf dauerhafte und vererbliche Einflüsse der menschlichen Natur verdrängt nunmehr Spekulationen über gesellschaftliche Faktoren und wird zur dominanten monokausalen Kriminalitätserklärung. Die Identifizierung und Aussonderung von Individuen mit negativ bestimmten, als dauerhaft und vererblich eingeschätzten Eigenschaften ist ein seit der Antike bekanntes Mittel staatlicher Bevölkerungskontrolle, welches nunmehr zum Programm einer naturwissenschaftlich „rationalen“ staatlichen Kriminalitätsbekämpfung gemacht wird.84
19 Das Bemühen um methodische Tatsachenerkenntnis der biologischen Einflüsse auf Kriminalität führt zur Bildung der „positiven“ biologisch-anthropologischen Schule. Diese findet in den stark belegten Gefängnissen des 19. Jahrhunderts ein Observatorium, in dem der homo criminalis in Aussehen, Konstitution und Alltagsverhalten durch Verhaltensforscher und Ärzte studiert werden kann. Die dort mögliche Beobachtung dient der Optimierung der dem Strafvollzug zugedachten Wirkungen: In der Tradition der (wörtlich zu nehmenden) Korrektur-Anstalt und des Zucht-Hauses sucht man in den Strafanstalten Arbeitsdisziplin zu vermitteln. Damit soll innerhalb der Gefängnispopulation eine Auslese getroffen werden zwischen den an die Arbeitsmoral Anpassungsfähigen, die sich alsbald in Freiheit bewähren [41] dürfen, und den Unverbesserlichen. Prägend ist die Vorstellung, dass es neben besserungsfähigen die unverbesserlichen Straftäter gebe, die unschädlich zu machen seien. Von daher ist es nur folgerichtig, dass sich das Augenmerk der Kriminologie nunmehr auf die Identifizierung jener unverbesserlichen Straftäter richtet, deren Natur zum Verbrechen drängt.85
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Gründer und Leitfigur der positiven Schule ist der Veroneser Arzt Cesare Lombroso (1836-1909). Dieser entwickelt in seinem 1876 erschienenen Buch „L’uomo delinquente“86 das biologische Verständnis der Kriminalität zu einem in sich geschlossenen Erklärungsansatz mit wissenschaftlichem Anspruch. Die klassische Prämisse rational und willensfrei handelnder Individuen wird durch die Annahme ersetzt, menschliches Verhalten sei durch angeborene Charakterzüge determiniert. Die Menschen werden nicht als gleich verstanden, sondern unterschiedlichen Typen zugeordnet, von denen jeder eine bestimmte charakteristische Neigung zur Tugend oder zum Laster besitzt. Daraus folgt, dass die Kriminalität nunmehr täterbezogen erklärbar wird durch die mit medizinisch-naturwissenschaftlichen Untersuchungen zu erlangende Erkenntnis jener Faktoren, welche die fundamentalen angeborenen Unterschiede zwischen den Kriminellen und den übrigen Menschentypen ausmachen.
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Untersuchungen an Sträflingen und teils gewagte, durch Darwins Evolutionstheorie inspirierte Mutmaßungen lassen Lombroso annehmen, Verbrecher seien an ererbten körperlichen und seelischen Anomalien wie fliehende Stirn, hohe Backenknochen, krauses Haar, Gemütlosigkeit, Grausamkeit, Hemmungslosigkeit und weitgehende Schmerzunempfindlichkeit erkennbar. Der Verbrecher verkörpere einen Rückfall in frühe Entwicklungsstadien der Menschheit, ein von tierähnlichen Trieben beherrschtes wildes, atavistisches Wesen. Aufgrund ihrer ererbten und daher unveränderlichen Anlage würde jedenfalls ein Teil der Delinquenten (bis zu 35 %) zwanghaft zum Verbrechen getrieben; diese verkörperten den anthropologischen Typus des „geborenen Verbrechers“.
„Wer uns bis hierher gefolgt ist, wird zugeben, dass viele Charaktere, welche die Wilden darbieten, sich sehr oft bei den geborenen Verbrechern finden, so z.B. die geringe Körperbehaarung, die geringe Schädelkapazität, die fliehende Stirn, die stark entwickelten Sinus frontales, die grosse Häufigkeit der Schaltknochen, die frühzeitigen Synostosen, das Vorspringen der Schläfenbogenlinie, die Einfachheit der Nähte, die grössere Dicke der Schädelknochen, die gewaltige Entwicklung der Kiefer und Jochbögen, die Prognathie, die Schiefe der Orbiten, die starke Pigmentation der Haut, das dichte krause Haar, die grossen Ohren, ferner der Lemuren-Fortsatz des Unterkiefers, die Anomalien des [42]Ohrs, das Diastem, die grosse Agilität, die Herabsetzung der Berührungs- und Schmerzempfindung, die hohe Sehschärfe, die Gleichgültigkeit gegen Verletzungen, die Gefühlsabstumpfung, die Frühzeitigkeit der sexuellen Regungen, die zahlreichen Analogien zwischen beiden Geschlechtern, die geringe Besserungsfähigkeit des Weibes (Spencer), die Faulheit, das Fehlen von Gewissensvorwürfen, die Haltlosigkeit, physisch-psychische Erregbarkeit, die Unvorsichtigkeit, welche manchmal wie Mut aussieht und der Wechsel von Wagehalsigkeit und Feigheit, die grosse Eitelkeit, die Spielleidenschaft und die Neigung zum Alkoholismus, die Gewalttätigkeit und die Flüchtigkeit ihrer Leidenschaften, der Aberglaube, die aussergewöhnliche Empfindlichkeit in Bezug auf die eigene Persönlichkeit und der besondere Begriff von Gott und von Moral.“87
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Die kriminalanthropologischen Studien Lombrosos sowie seiner Schüler Enrico Ferri (1856-1929) und Raffaele Garofalo (1851-1934) finden in der Fachwelt unterschiedliche Wertschätzung. Für die einen sind diese Studien eine Stammwurzel der empirischen täterbezogenen Kriminologie, der gerichtlichen Psychiatrie und der Rechtspsychologie.88 Für andere sind die vertretenen Annahmen grotesk und wissenschaftlich unhaltbar. Die Darstellung des geborenen Verbrechers wird verbreitet als eine zerrbildliche Kuriositätenmalerei verstanden, die den Mythos von der Bestialität des „Wilden“ in eine empirische Form zu bringen sucht. Bereits die Prämisse von der Wildheit als dem Ursprung des Bösen ist wissenschaftlich nicht begründbar, wie die Gegenposition von Friedrich Nietzsche (1844-1900) belegt, der den Gewaltüberschwang des Lebens nicht bloß als Ausdruck von Gesundheit, sondern gar von Moral versteht89. Zeitgenössische empirische Studien etwa durch den Berliner Gefängnisarzt Baer und den englischen Psychiater Goring90 bestreiten die biologische Bestimmbarkeit eines Verbrechertypus.
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Aus heutiger Sicht ist die positive Schule angreifbar. Methodisch ist sie unzulänglich: Zu kleine Untersuchungseinheiten, kaum Vergleichsgruppen, Beschränkung auf Extremgruppen von Straftätern. Ihre Rolle in der nationalsozialistischen Rassen- und Sippenforschung ließ eine Art Berührungsangst gegenüber biologischen Kriminalitätserklärungen aufkommen. Freilich erlebt derzeit der Versuch, das Verbrechen auf die menschliche Natur zurückzuführen, eine neue Blüte (→ § 7 Rn 16 ff.; § 8).91
[43]24 Die Einseitigkeit der biologischen Verbrechenserklärung ließ die Erklärung stets umstritten bleiben. Der im Umfeld der Instanzen der Kriminalitätskontrolle zwischen Medizinern und Psychiatern gegen Soziologen ausgetragene Streit um den Anlagen- oder Umwelteinfluss auf die Kriminalität erschien den Praktikern bei Polizei, Strafjustiz und Strafvollzug bald als müßig. Im Interesse konkreter Reformen drängen die Praktiker auf eine nicht wissenschaftlich begründete, sondern eher im Sinne eines pragmatischen Kompromisses zu verstehende Formel, dass das Verbrechen sowohl durch die Anlage als auch durch die Umwelt beeinflusst werde. Dieser Kompromiss wird von der 1888 gegründeten Internationalen Kriminalistischen Vereinigung beschlossen und durch den Strafrechtsreformator Franz von Liszt (1851-1919) als Vereinigungsgedanken formuliert:
„Das Verbrechen ist […] wie jede menschliche Handlung, das notwendige Ergebnis aus der teils angeborenen Eigenart des Täters einerseits, der ihn im Augenblick der Tat umgebenden gesellschaftlichen, insbesondere wirtschaftlichen Verhältnisse andererseits.“92
25 Ein solches „sowohl als auch“ ist weithin konsensfähig, weil es unter Ausklammerung eines unentscheidbaren wie unergiebigen theoretischen Disputs sich den kleinsten gemeinsamen Nenner der Theorieannahmen zu Eigen macht. Dies entspricht nicht nur dem gerne bemühten „gesunden Menschenverstand“, der schon immer um das Körnchen Wahrheit wusste, das jeder Erklärungsmöglichkeit von Kriminalität eigen ist. Mehr noch bietet eine derartige sowohl-als-auch-Haltung den Vorzug, einerseits Behandlungsmaßnahmen des Rechtsbrechers zu rechtfertigen und andererseits eine Erklärung für den möglichen Fall ihres Scheiterns bereitzuhalten. Gelingt die Resozialisierung des Straffälligen, so verdankt sich dies dem glücklichen Umstand, dass der therapeutische Hebel just an der Stelle angesetzt wurde, welcher im Einzelfall für das Zustandekommen kriminellen Verhaltens ausschlaggebend war; scheitert hingegen die Therapiebemühung, so erklärt sich dies aus den notgedrungen beschränkten Möglichkeiten einer Behandlung mit den Mitteln des Strafrechts, die eine durchgreifende Beeinflussung sämtlicher vorhandener Anlage- und Umweltdefizite nicht zulassen.
26 Die von verschiedenartigen Ursachen der Kriminalität ausgehende, also: multikausale Kriminalitätserklärung (→ § 10 Rn 12 ff.) kommt verbreiteten Vorstellungen entgegen, wie sie in einem gemäßigten kriminalpolitischen Klima, das der Prävention Vorrang vor der Repression einräumt, eine gute Sozialpolitik als die beste Kriminalpolitik versteht und die Besserung des Rechtsbrechers zur vordringlichen Aufgabe des Strafrechts erklärt, vorherrschen. Mit seiner Marburger Antrittsvorlesung 1882 („Marburger Programm“93) beeinflusst von Liszt dieses Klima maßgeblich und stellt damit die Weichen für das spezialpräventive Behandlungsstrafrecht.
[44]27
Die Vermählung von wissenschaftlicher Kriminalitätsursachenforschung mit staatlicher Kriminalitätsbekämpfung, welche die moderne Kriminologie kennzeichnet, vollendet sich um die Wende zum 20. Jahrhundert in der Generation der Schüler von Lacassagne und Lombroso. Die Schülergeneration entstammt verschiedenen Nationen und Berufsgruppen. Sie setzt sich aus Medizinern, Naturwissenschaftlern, Soziologen und zunehmend Juristen zusammen. Sie ist nicht auf eine bestimmte Bezugswissenschaft fixiert, sondern eher an der kriminalpolitischen Nutzbarmachung des breiten Spektrums bezugswissenschaftlicher Problemzugänge.
IV. Der Ausbau der Kriminologie in den USA
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Im 20. Jahrhundert entwickelt sich die Kriminologie in den USA zu einer vom Strafrecht institutionell unabhängigen Disziplin. Das beginnende Jahrhundert verändert die nordamerikanische Gesellschaft rasch und grundlegend. Einwanderung und Industrialisierung bewirken eine Expansion der Großstädte. Die Bevölkerung Chicagos verdoppelt sich binnen 20 Jahren. Die Einwanderer sind zumeist mittellos, finden keine oder nur schlecht bezahlte Arbeit und siedeln in Elendsquartieren. Die Prohibition erlaubt Riesengewinne aus dem illegalen Verkauf von Spirituosen, über die sich rivalisierende Banden streiten.
29 1899 wird in Chicago unter dem Einfluss der religiös-moralischen Bewegung der „Kinderretter“ das erste Jugendgericht gebildet. Mit der Gründung des American Institute of Criminal Law and Criminology 1909 in Chicago setzt eine intensive, von Anbeginn an praxisnahe Forschungstätigkeit ein. Die so genannte Chicagoer Schule befasst sich soziologisch und sozialpsychologisch mit schädlichen gesellschaftlichen Einflüssen und erschließt das Praxisfeld der Sozialarbeit. Erklärungsbedarf besteht nunmehr für den Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Lebensverhältnissen und der Kriminalität. Die aus Frankreich stammende milieubezogene Betrachtung (→ § 4 Rn 12), insbesondere die inzwischen veröffentlichten Arbeiten des französischen Soziologen Durkheim, lenken die Aufmerksamkeit auf die gesellschaftlichen Strukturen und die darin enthaltenen sozialen Spannungen (→ § 9 Rn 3 ff.). Soziale Desorganisation und Chancenungleichheit werden für die Konzentration der Kriminalität in gesellschaftlich benachteiligten Kreisen als bestimmend erkannt.
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Beobachtungen zeigen, dass kriminelles Verhalten in bestimmten Kontakten „differentiell“ erlernt wird (→ § 10 Rn 25 ff.) und vom differentiell verteilten Zugang zu illegitimen Mitteln abhängt (→ § 9 Rn 23 ff.). Das Lernen erfolgt oft kollektiv, indem sozial Benachteiligte in einer „Subkultur“ zusammenfinden, welche Werte[45] pflegt, die von dem dominierenden mittelschichtbestimmten Wertesystem abweichen (→ § 10 Rn 28 ff.). Feldstudien weisen darauf hin, dass Kriminelle aus der Unterschicht sich gegenüber den Wertvorstellungen ihrer Schicht konform verhalten, diese Wertvorstellungen aber von denjenigen der maßgeblichen Mittelschicht abweichen. Der „Kulturkonflikt“ erlaubt oder verlangt sogar Rechtsbrüche, um dem Wertesystem der Unterschicht treu zu bleiben.
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Daneben werden Studien zu den individuellen Ursachen kriminellen Verhaltens fortgeführt. Die rein anlagebezogene, auf vererbliche biologische Defizite gerichtete Kriminalitätserklärung Lombrosos wird um andere mögliche biologische Faktoren ergänzt. Vor allem wird nunmehr angenommen, der Anlageeinfluss präge bloß eine Prädisposition, die sich erst unter bestimmten Umwelteinflüssen zu abweichendem und kriminellem Verhalten ausbilde (→ § 7 Rn 4 f.). Unter dem Einfluss der Psychologie und der Psychiatrie werden persönlichkeitsbezogene Kriminalitätserklärungen entwickelt (→ § 8), die sich auf die wiederholte Begehung schwerer Gewalt- und Sexualstraftaten konzentrieren und teils „antisoziales“ Verhalten mit einer „psychopathischen“ Persönlichkeit in Zusammenhang bringen oder, im Sinne des Mehrfaktorenansatzes (→ § 4 Rn 24 ff.; § 10 Rn 12 ff.), ein Zusammenspiel biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren annehmen.
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In der Mitte des 20. Jahrhunderts interessiert sich die nordamerikanische Kriminologie in einem vorwiegend theoretischen Diskurs für die Prozesse, welche die gesellschaftliche Konstruktion von Kriminalität bestimmen (→ § 2 Rn 4). Der labeling approach rückt den Kriminalisierungsprozess und seine Agenten ins Blickfeld (→ § 13 Rn 6 ff.). Seit den 1980er Jahren gewinnen, unter dem gesellschaftspolitischen Vorzeichen des Neoliberalismus, spätmoderne Theorien an Einfluss, die eine soziale Geprägtheit von Kriminalität bestreiten und sich wieder unverblümt den individuellen Ursachen kriminellen Verhaltens zuwenden (→ § 12).
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Neben Forschungen über das Zustandekommen „klassischer“ Kriminalität werden Konzepte zur Erfassung der Kriminalität der Weißen Kragen (white collar crime) entwickelt und dabei die Strategien analysiert, mit denen es den Trägern weißer Kragen gelingt, nicht nur dem strafrechtlichen Kontrollnetz zu entschlüpfen, sondern sogar zu verhindern, dass strafrechtliche Verbote gegen ihr sozialschädliches Verhalten zustande kommen. Landesweit periodisch wiederholte Opferbefragungen haben die Entwicklung einer systematischen Opferforschung (Viktimologie) ermöglicht (→ § 18 Rn 19 ff.). Die Frage, welche Maßnahmen der Kriminalprävention gleichermaßen realisierbar, kostengünstig und erfolgversprechend sind, ist ein nachhaltiges Thema der nordamerikanischen Kriminologie. Die überaus harte Sanktionierungsstrategie in den USA (→ § 21 Rn 11 ff.) ist Gegenstand kritischer Studien. Neuestens steht die verbreitete gesellschaftliche Verunsicherung über kriminelle Ereignisse (→ § 24 Rn 19 ff.) sowie die Prävention besonders „brennender“ Kriminalitätsprobleme in den Bereichen der Straßengewalt (→ § 24 Rn 31), des [46]Drogenhandels, der organisierten Kriminalität (→ § 2 Rn 26) und des Terrorismus im Blickfeld.
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Angesichts all dieser Entwicklungen bildet sich der Eindruck eines komplexen Forschungsrepertoires, das in seiner Reichhaltigkeit, aber auch Disparität weltweit einzigartig ist, ein Sammelbecken sämtlicher aktueller Perspektiven der Kriminologie bildet und als Steinbruch für jegliche kriminalpolitische Argumentation dienen kann. Die Kriminologie in den USA ist weltweit prägend und richtungsweisend. Spätestens mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums, der Krise des europäischen Wohlfahrtsstaates und der Homogenisierung der Kulturen im globalen Rahmen werden die USA zur Leitkultur der Weltordnung und damit zum alleinigen Trendsetter auch für die Kriminologie und die Kriminalpolitik.
74 Morus/Campanella/Bacon 1960.
75 Zitiert nach Alff 1989, 85 f.
76 Deimling 1989, 171.
77 Foucault 1976a, 93 ff.
78 Becker 2002, 11 ff.
79 Lavater 1775-1779, 490.
80 Gall/Spurzheim 1809-1812.
81 Garland 2002, 8 f.
82 Quételet 1914; Quételet 1921.
83 Quételet 1914, 104 f., 107.
84 Crews 2009.
85 Debuyst u. a. 2008.
86 Lombroso 1887.
87 Lombroso 1902, 326 f.
88 Kürzinger 1977.
89 Strasser 2005, 47.
90 Goring: The english convict, zitiert nach Vold 1958, 58.
91 Gebhardt/Heinz/Knöbl 1996.
92 von Liszt 1905, 65.
93 von Liszt 1883.
§ 5 Kriminologische Forschungsmethoden
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Als Erfahrungswissenschaft liegt ein Schwerpunkt kriminologischer Forschung neben theoretischen Arbeiten auf der empirischen Forschung. Anders als normative Wissenschaften, wie etwa die Rechtswissenschaft, untersucht die Kriminologie die Lebenswirklichkeit – so unverstellt wie möglich. Dabei sollen in der Theorie entwickelte Annahmen überprüft und/oder weiterentwickelt werden, die sowohl die Entstehung von abweichendem Verhalten als auch die Praxis des Kriminalisierungsprozesses betreffen können. Für diese Forschung greift die Kriminologie auf die Methoden verschiedener Bezugswissenschaften zurück, im Besonderen auf die der empirischen Sozialforschung. Diesen kommt die Aufgabe zu, den Forschungsprozess möglichst frei von unerwünschten Einflüssen zu strukturieren und so allgemein gültige Erkenntnisse zu erlangen.94
I. Grundlagen
2 Innerhalb der Methoden der empirischen Sozialforschung besteht die Wahl zwischen quantitativen und qualitativen Methoden. Quantitative Methoden messen zählbare Eigenschaften und versuchen anhand der Häufigkeit ihres Vorkommens und des Zusammentreffens mit anderen Elementen Aussagen über Kausalzusammenhänge [47] zu treffen. So kann beispielsweise gefragt werden, ob eigene Gewalterfahrungen in der Kindheit zu einer höheren Gewaltbereitschaft im Erwachsenenalter führen. Für die Aussagekraft solcher Untersuchungen kommt es darauf an, dass eine repräsentative Stichprobe aus der jeweiligen Gesamtheit untersucht wird.
3 Qualitative Methoden der Sozialforschung verfolgen als sinnverstehende, interpretative Herangehensweise eine Perspektive des Verstehens anstelle des Erklärens (→ § 2 Rn 21 f.).95 Dabei bemühen sie sich um ein tieferes Verständnis der sozialen Zusammenhänge im Sinne eines Nachvollziehens.96 Qualitative Methoden wurden aus der Erkenntnis entwickelt, dass quantitative Verfahren im Bemühen um Objektivität sich den Zugang zu einem intersubjektiv gebildeten sozialen Forschungsgegenstand verstellen. Andererseits sind quantitative Verfahren angesichts ihres geplanten Forschungsablaufs der Gefahr ausgesetzt, weniger offensichtliche Umstände und Zusammenhänge, die vom Forschungsdesign nicht erfasst worden sind, im Laufe des Forschungsprozesses zu übersehen und so zu einer selektiven Wahrnehmung zu gelangen.97 Demgegenüber handelt es sich bei qualitativen Methoden oft um naive Verfahren, die bemüht sind, möglichst frühzeitig mit dem praktischen Forschungsprozess zu beginnen, um aus dem empirischen Material heraus das konkrete Vorgehen zu entwickeln. Dies kann die Gefahr bergen, das eigene Vorverständnis unhinterfragt als allgemein gültig zu unterstellen.
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Quantitative Ansätze stehen auch in der kriminologischen Forschung immer noch im Vordergrund, obwohl die Bedeutung qualitativer Methoden hier wie auch allgemein in den Sozialwissenschaften zunimmt. Beide Herangehensweisen haben ihre Berechtigung und können methodisch gültige empirische Erkenntnisse erbringen. Allerdings sind sie für verschiedene Fragestellungen in unterschiedlichem Maße geeignet.98 Ihre Wahl bleibt von der Weltsicht der Forschenden und der jeweiligen Forschungsintention abhängig.




