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Schweigsam sitzen sie auf dem Schal, die Füße im Schnee, im Rücken den Wald so nah, dass er an einem Baumstamm seinen Kopf anlehnen könnte. Alles an mir, murmelt er lautlos, fühlt sich so schwer an. Mein Kopf, meine Schultern, meine Arme und Beine, sie hängen herab, als fielen sie mit dem Schnee langsam auf den Grund. Scheinbar leicht in der Luft, kommt Cornelio vor, verbinden sich die vielen Schneeflocken zu Stricken, binden dann seinen Körper an eine Erde fest, die ihm nicht vertraut ist. Ein Leben lang war er zu leicht. Es rührte sich nicht viel, solange er sich nicht bemühte, waren seine Berührungen ohne Druck, selbst seine Worte ohne Gewicht. Bis er von einem Apfelbaum fiel, ein Biss vom Apfel wog schwer wie Gold im Mund.

Was von den Tagen bei Jannis erwarten, wusste sie selbst nicht. Unendlich viel Schnee, schrieb er ihr vor Jahren, die Stadt gleichsam bloß für sie beide, so richten wir es uns ein. Als Greta in die Bahnhofshalle einfuhr, sah sie ihn auf einer erhöhten Bank warten. Ich musste einen späteren Zug nehmen und konnte dir nicht mehr Bescheid geben. Bist du denn die ganze Zeit über draußen gesessen, Schuhe, Hose, Mantel voller Schnee, den es zu ihm unters Vordach geweht haben musste. Jannis zuckte mit den Schultern, es geht mir nicht wie den Kutschern, sie fahren den ganzen Tag über im Schneefall, er klopfte die Flocken von seinen Kleidern, das ist nicht viel. Während sie noch nickte, kam sie ihm näher, bis sich endlich ihre Nasen berührten, aus dem Nicken ein Wippen wurde, ein Schaukeln ihrer Köpfe, bis die harte Kälte abfiel wie eine zweite Haut.
Noch einmal dort, würde sie ihn auf die Lippen, die Wangen weich küssen, neben den Augen, wo überall sein Lächeln lag, sein Herz, dein Herz, du trägst es wie ein Kind im Gesichtsausdruck, weißt du das, würde sie sagen, wären sie an diesem farblosen Wintertag ein graues Liebespaar geworden. Am Abend hätte sie seinen goldenen Lockenkopf an ihre Brust und Schulter gezogen, statt sich rauszureden, es gibt für mich nicht bloß dich, nicht bloß dich und mich, es ist nicht so leicht. Was sei so schwer daran. Sie konnte es ihm nicht sagen. Kaum mehr als ein Jahr später heiratete Jannis. Greta zog vom vorletzten ins letzte Dorf im Gebirge. Sie hilft dort ihrer Großtante, Tante Severine, mit den Kindern, fühlt sich ein bisschen erwachsener seither. Alle Besuche bei Jannis sind jetzt ein Geheimnis, jede Begegnung zunächst eine Zurückhaltung. Bloß eins, bitte sag mir, Jannis, deine Frau wollte dich, war das alles. Zögerlich antwortete er, vielleicht, das ist viel.
Greta nimmt das Gespräch mit dem Nachbarn Cornelio wieder auf, zum Glück fährt da kein Zug, es sähe trostlos aus, es gäbe ja keine Haltestelle, niemand würde im Schilf aussteigen. Außer er zieht die Notbremse, weil er Greta im Nebel winken sieht. Der Schal wird langsam feucht, lässt Greta aufspringen und übers weiße Feld zum Bach stapfen, der den Grund in Grundstücke teilt, von Stromleitungen überspannt, manchmal von Kinderbeinen. Aber nicht im Frühling, wenn das Gras wächst. Nicht im Sommer, schärfte Tante Severine den Mädchen ein, sonst gibt es wieder Probleme mit dem Pächter, ein böser Mensch, besprach sie mit Greta, Flora und Melina schon im Bett. Hast du Gott heute schon gedankt, dass du keinen Mann hast, seufzt Tante Severine täglich. Nein, aber ich werde es noch machen, stimmt Greta dann zögerlich ein. Sie hastet jetzt zum neuen Nachbarn zurück, warte, du brauchst mich ja, Cornelio, führt ihn wie eins der Kinder achtsam am Arm zum Wasser. Von ihren zwei Händen zittert bloß noch eine. Am Bach entlang begleitet sie ihn zum Mooshäuschen, vorbei am kleinen Bergsee. Ob ihm in seinem neuen Daheim nicht kalt sei, der Winde pfeife wohl durch alle Löcher, der Himmel sieht nach Schnee aus, ist das Dach denn dicht. All das alte Holz vorm Häuschen sei sicher so feucht wie das abgemähte Gras unter der Schneedecke. Cornelio seufzt, ich war im Herbst kurz da, schnitt die Wiese mit den Brennnesseln ab. Ehe sie Heu war, habe es geschüttet wie aus Kübeln, also ließ ich alles liegen, ich musste zurück in die Stadt.
Komm gern zu uns, es gebe Gerstensuppe. Das ist freundlich, aber es geht schon, danke, ich könnte sogar noch einen alten Sessel verheizen. Auch bin ich Kälte gewohnt. Sein Vater habe immer bei der Wärme gespart, und beim Licht, im Winter war es daheim auch immer winterlich, drinnen fast kälter als draußen, und dunkler.

Sag mir, ob sie ihm noch einmal sagen könne, deinen kurzen Namen, er fällt mir im Moment nicht ein. Cornelio klopft den Schnee von seinen Beinen, hört sie sagen, Greta, noch einmal, einfach Greta. Von den Mauern reibt er Schnee wie Zucker kristallisiert, legt einen Flecken Moos frei, grün wie die Zeit vor und nach dem Winter. Ich glaube, die Mauern sind vor allem Moos. Die kleine Tanne verwandelt mein neues altes Häuschen nach und nach zurück in Wald. Er habe das Gefühl, als störte er im Grunde, als nähme er etwas weg, weiß der Himmel wem oder was. Gib etwas zurück dafür. Richte eine Schale mit ein paar Apfelstücken, stell sie auf die Schwelle vor der Tür, schlägt ihm Greta vor, es gibt Schnecken, die auch im Winter immer reisen. Um ihre Fühler tragen sie Hörner, in ihren Häusern bilden sie Perlen. Nähme er so eine Perle, stünde Cornelio wieder in der Schuld. Also nimm keine, so einfach ist das, oder gib wieder etwas zurück.
Zuerst drückt sie ihre Hand in das Moos an der Mauer, zeigt dann zum Schloss am Hügel hinauf. Wie das Moos dein Häuschen, schildert sie, überwuchert Efeu das Schloss bis weit zu unserem Hof. Von Efeu heiße es, an heißen Tagen wandeln sich seine Blätter zu Schmetterlingen. Cornelio räuspert sich, ist das wahr. Greta schüttelt zuerst den Kopf, nickt dann, glaub mir, es gibt auch Vögel, die mit Blüten fliegen. An ihren Federästen bleiben Blätter und rosa und rote Blüten von Obstbäumen hängen, sie trocknen in der Sommerluft, verwachsen mit den Vögeln. Ohne diese Blüten wären diese Feuervögel vielleicht Landtiere. So fliegen sie, auch in den Dachstuhl vom Mooshäuschen, davon wirst du noch ein Lied singen können.
Winter der Apfelernte
Auf den Hügel fällt am Morgen spät die Sonne. Es wird schon gleich, es weicht endlich die längste Nacht des Jahres, sie weicht aus dem Garten, dem Haus, hält sich so lange grau im Zimmer, bis überm Bett eine goldene Lampe brennt. Greta, komm auf, Tante Severine steht in der Tür. Irgendwoher, hörst du das, Geschrei, sind das wieder die Katzen. Tante Severine schüttelt den Kopf, komm auf, ich brauche dich, hebt die oberste Decke, die Daunendecke, zum offenen Fenster. Hinter Tante Severine läuft Greta durch den Gang voller Mehlsäcke in die Küche voll süßem Geruch. Durch den kalten Melkraum mit seinen Fliesen an den Wänden bis über den Boden kommen sie barfuß in den warmen Stall, Heu zwischen ihren Zehen. Tante Severines Lippen nah am Ohr, es ist wie vor Jahren, flüstert sie, als Melina, oder früher, als ich Flora fand.
Im Flechtkorb für Heu am Rücken, wo sich Haare von Steinkitzen verfangen, sitzt ein kleiner, ein kleiner Bub ist es, seufzt Tante Severine, wohl kaum ein halbes Jahr alt. Nach Flora und Melina ist es jetzt schon das dritte Kind. Greta kniet sich wie Tante Severine neben den Korb hin, legt eine Hand auf die zarte Brust. Sein Herz klopft, als wollte das Kind die ausgestreckten Ärmchen einholen, sie heimbringen. Seinen Hinterkopf gegen den Korb gedrückt, das Heu, lässt nach und nach sein Schreien nach.
Obwohl das Kind nicht mehr weint, bleibt sein Gesicht verzerrt, verzieht sich um Mund und Augen in Schüben immer wieder, seine Augenlider zucken. Auf der Ofenbank, auf Gretas Schoß schläft es beim Geruch von Lebkuchen ein. Was träumst du jetzt wohl, flüstert sie, oder träumst du gar nicht, bist du noch zu klein. Während Greta den Buben an ihrem Ringfinger nuckeln, schlafen lässt, bestreicht Tante Severine Lebkuchen mit einer dicken Schicht Butter, für einen Namen ist das Kind schon groß genug. Ein Zeichen fehle. Flora trug getrocknete Blumenköpfe in den Taschen, als sie klein und mutterseelenallein am Hof läutete, groß schaute, als wollte sie mir sagen, schau auf mich. Eingewickelt in ein Bärenfell, völlig unbeweglich lag Melina eines Tages vor der Tür, ihre Hände von Honig verklebt. Es war früher Morgen, bei beiden, bei allen dreien. So ein Name könne viel erzählen, wie das Kind zu uns kam, könne er sagen, daran anknüpfen, als wäre es sein Geburtstag, der Anfang. Ich weiß nicht, hält Greta dagegen, ist die Geburt oder ein Anfang wirklich so wichtig, sie schluckt, ich gehe jetzt die Mädchen wecken.
Auf, auf, ihr zwei Murmeltiere. Flora vergräbt sich unter ihrer Decke. Melina kriecht hervor, schaut hinab zum Reifen vor ihrem Bett. Draußen lässt sie ihn gern um ihre Hüften schwingen, bei Windwetter bleibt er in der Luft ewig lang. Habt ihr gut geschlafen, Greta schüttelt die zwei Daunendecken über den offenen Fenstern aus, heute schneit es wieder. Melina ruft, so stark wie sonst nirgends. Flora lächelt ein bisschen, wird später mehr erzählen, draußen, unterm freien Himmel. Ein Schritt vor die Tür und sie sagt alles, was sie drinnen nicht sagt oder bloß aufschreibt. Sachte greift Greta der kleinen Melina unter die Beine und Schultern. Nein, lieber huckepack heute, bitte wie im Heukorb am Rücken, bettelt das Mädchen.

Für einen einzigen Brotlaib, einen ganzen Laib Brot, Cornelio streicht mit Zeige- und Mittelfinger über seinen aufgeklebten Bart, drückt ihn fest. Sein Vater, so liest er wieder und wieder liest er es nach, vererbt ihm das große Grundstück mit allem, was dazugehört, es gehöre jetzt ihm. Gekauft um einen einzigen Brotlaib, vor mehr als einem halben Jahrhundert, bedeutet es viele Schlüssel in allen Größen in seinen Händen. Cornelio schaut aus dem Fenster hinaus, wo unter dicken Lagen Schnee allerlei Wildes wurzelt und wuchert. Durch feuchte Mauern wächst es ins Zimmer herein, über den Boden wuseln Ameisen, rot und wild auf seiner Haut. Er spürt den Wind und Winter durch Glas und Knochen ziehen. Wie um gute Miene zu machen, malt Cornelio mehr und mehr Rouge auf seine Wangen auf, lässt die Wangenknochen unter Farbe und Falten eines gespielten Lächelns versinken. Das Spiel im Spiegel mit Rouge, viel Rouge, viel Farbe, sah er bei der Frau seines Vaters, sie sagte immer, ein schönes Gesicht macht einen guten Tag, meinte damit, ein fröhliches Gesicht, glaubte, die Tage fielen leichter so, die Farben tragen uns, nicht andersrum, vor allem im Winter. Im Gebirge, wo der Frühling spät kommt, erzählte sie ihm einmal, lernte ich den Maler in deinem Vater kennen. Fröhliche Bilder von Zirkusfiguren, mit bemalten Gesichtern, gemaltem Lächeln.
Bald im Morgenlicht, bald im hügeligen Schatten von Bergen an der Morgenseite des Flusses nähert er sich auf Umwegen dem Hof, wo die Frau vom Bahnsteig, die Frau mit dem versteckten Bänkchen am Waldrand wohnt, Greta, einfach Greta, heiße sie. Ob sie nach gestern heute schon wieder mit ihm rechnet, ja sich erwartet, dass er als neuer Nachbar sich allen vorstellt, ich bin Cornelio, einfach Cornelio. Auf einmal laufen zwei drei vier große Hunde auf ihn zu und umstellen ihn. Er flucht, fuchtelt mit einer Krücke, kauert sich dann im Schnee zusammen, als wäre sein Körper so klein, als könnte er unter einem Hut Platz genug finden.
Ruhe, hört er Greta laut sagen. Sie bückt sich unter seinen Hut, küsst ihn auf die Stirn. Bilde dir nichts darauf ein, so grüßen viele Menschen im Gebirge. Ob er denn Angst vor Hunden habe. Vor nichts anderem habe ich so große Angst. Und ob er denn ihren Kuss, ist es höflich, einen Kuss zurückzugeben. Greta nickt, unbedingt, aber bloß ganz kurz, zwischen Händen an Schläfen und Wangen, wie hinter Scheuklappen, wird es für einen Moment ganz warm. Als er wieder um sich blickt, sind die Hunde fortgelaufen. Im Gesicht spürt Cornelio warme Abdrücke, Gretas Hände längst schon wieder in den Manteltaschen, ihre Lippen hinterm grauen Schal.
Je näher Cornelio und Greta dem Hof kommen, umso mehr dringt ein süßer Geruch in seine Nase. Er könnte ihn, stellt er sich vor, auf der Stirn schmecken. Über gefrorene Stufen erreichen sie eine Veranda mit einem Tisch angezuckert, einer Schaukel in leichter Bewegung, als spürte sie den Wind oder die Hand eines Kindes vor ein paar Augenblicken. In einer stillen Ecke neben der Haustür steht eine Milchkanne als Vase. An den Früchten aufgeplatzt, die an Zweigen in eine graue Lache reichen, entdeckt er ein Nest gefiederter Sporen. Sie riechen gut, wie, irgendwie wie Nelken riechen sie oder wie Kakao, eine Mischung, murmelt er, seinen Kopf tief über Zweige und Früchte gebeugt. Auf einmal flattern ihm alle Sporen weiß ins Gesicht, aus dem Augenwinkel sieht er eine fliegende Katze, sieht dahinter einen Besen in hohem Bogen in die Luft schwingen.
Wie ein Feuerwerk schießen die Blicke der alten Frau im Türrahmen durch und über Brillengläser hinweg auf Cornelio. Tante Severine, schau, unser neuer Nachbar vom Mooshäuschen beim Schloss, wir lernten uns auf der Reise aus der Stadt kennen, Greta wischt die Sporen aus seinem Gesicht, er heißt Cornelio. Ihre Fingernägel in den Besenstiel gekrallt, fragt die alte Frau, sind Sie der Vater, alt genug wären Sie schon lange, wie eine Peitsche pfeift ihr grauer Zopf von einer Schulter auf die andere. Cornelio räuspert sich, ich habe keine Familie, auch keine Kinder. Donnern würde es, schlüge dieser Zopf wie ein Blitz gegen die Wand, die Wange eines Vaters, wie ihn die Frau im Sinn hat. Cornelio langt in seinen Rucksack, also ich habe etwas mitgebracht, ein Apfelbrot, hart wie ein Stein spürt er es ins Papier gewickelt wie eingefroren, die Nacht im Häuschen wurde ihm wohl kalt, seine Entschuldigung. Als Cornelio gestern den Kachelofen absperren wollte, war schon alle Wärme verflogen, aus den Fensterlöchern fortgepfiffen. In den Zimmern drinnen Winterwind. In Decken gewickelt, fror er, wachte auf im feuchten Nebel, die Gläser angelaufen. Komm rein, Greta gibt ihm einen kleinen Stoß, bei uns taut das Früchtebrot schon auf, leiser, und du auch.
Im Zickzack windet sich Cornelio im süßen Halbdunkel um die Hunde herum, an Waagen, Packungen mit Mehl oder Zucker vorbei bleibt er vor einer Regenbogenwand aus Glas stehen, dahinter alle Kugeln in allen Farben und viele Lichter. Nimm eine Farbe aus dem Regenbogen, flüstert Greta und löst dann selbst einen Farbstreifen von der Wand ab. Durch den Spalt sichtbar nichts als Glas und Kugeln, zerbrechlich und farblos. Dahinter noch mehr aus Glas, selbst der Weihnachtsbaum in der Stube, es ist ein Glasbaum. Greta drückt sein Kinn ein Stück höher, siehst du durchs viele Glas durch. Mit großen Augen schaut er auf den lebendigen Baum draußen hinter Glas, Gläsern und Fensterglas im Freien unterm Schnee, der Baum draußen hat goldene Äpfel. Greta nickt, alle acht Jahre, immer im Winter.
Warum so viel Rouge, Greta stellt die Frage zuerst, eine Tasse Tee auf dem Tisch beim Glasbaum. Ich weiß nicht, blasse Haut, wenig Blut, er fragt zurück, warum trägt Severine so viel Rouge, mehr als ich, er nimmt einen Schluck, das ist, glaube ich, zu viel für mich. Als er die heiße Tasse abstellen will, zieht Greta sie, noch in seinen Händen, zu ihren Lippen, rückt auf der Bank ein Stück näher. Tante Severine, sie heißt für alle und immer Tante. Sie trägt nie Farbe, schon gar nicht im Gesicht. Sie hat sich ein bisschen aufgeregt, eigentlich ist sie sonst sehr blass. Bei Greta wie bei ihm ziehen sich glitzernde Fäden vom Tassenrand zu den Lippen. Tante Severine putze jeden Morgen das ganze Haus, selten gehe sie mehr als hundert Schritte weit vom Ofen weg, von den Kindern. In meinem Fall ist sie wirklich die Tante, die Großtante. Tante Severine, knüpft Cornelio an, vergesse wohl nie, den Ofen abzusperren. Das erkläre ihre Verwunderung. Greta verneint, bei einem Mann erwartet sie eigentlich nicht viel, ob Vater oder nicht, im ersten Fall fast noch weniger.
Auf einem Apfelbaumzweig hockt eine graue Krähe, will sich festhalten, festwachsen wie eine Statuette in der Stadt thront sie doch bloß für Sekunden, bis sie der Luftzug wieder und wieder verweht es die Arme, arme Krähe, sagt Cornelio. Greta teilt den verglasten Ausblick, die Krähe spielt, sie spielt bloß, mit dem Wind mischt sich ein honigblondes Mädchen, keine zehn Jahre alt, ins Bild mit Baum und Vogel. Füße in der Luft, schwebt sie um den Baum, wie beflügelt von Cornelios Krücken. Das ist unsere Melina.

Schau, ich bringe dir Tee, mit einem Löffel Windbienenhonig. Greta streckt die Tasse durch die Zaunlatten, dahinter Flora mit den Schafen und Ziegen, ein breites Stirnband über ihren verdrückten roten Locken. Gleich wie kalt, wie nass, wie nass und kalt, Flora hütet die Tiere. In allen Winternächten kommt das Vieh in den Stall, bei unter zehn Grad bleibt es den ganzen Tag dort. Nicht seinetwegen, das zottelige Fell hält auch draußen warm genug. Wegen Flora, die kein Wetter davon abhält, selbst nachts Wache zu stehen. Melinas Spieluhr geht wieder nicht. Es ärgert sie grün und blau und blau und grün, Greta atmet die kalte Luft ein, du weißt ja, Flora, sie steigt über den Zaun, für ein paar Minuten läuft die Musik, dann bricht sie wieder ab. Der neue Nachbar vom Mooshäuschen, Cornelio heißt er, versucht die Spieluhr zurechtzudrehen, im Gegenzug kriegt er seine Krücken zurück. Langsam schmelzen in Gretas Händen Schneeflocken in der weißen Wolle der Schafe an ihrer Haut. Floras Stimme hüpft, immer ein bisschen, als würde sie eigentlich singen, es gefiel mir, als Melina mit den Krücken tanzte, im Schnee versunken, die Füße in der Luft, als würde sie eigentlich, eigentlich schwebt sie dann. Greta stimmt zu, das stimmt, aber besser kein Wort zu Melina, der Lauser würde dem armen Nachbarn die Krücken wieder und wieder wegnehmen, und er braucht sie ja wirklich.
Ihre Spieluhr unterm Arm eingeklemmt, geht Melina mit den zwei schwarzgrauen Eseln rechts und links, Cornelio führt trotz Krücken den weißen Esel Gian an einem Strick auf die Weide. Gib Acht, ruft Flora dem neuen Nachbarn zu, streich ihm nicht über die Ohren, sie sind wund, er reibt sich an den Ohren immer auf. Der weiße Esel sei sehr alt schon, vor Jahren erblindet, sagt Flora, ohne sich selbst vorzustellen, seitdem geht Gian mit den Ziegen und Schafen, sie zeigen ihm die besten Flecken zum Grasen, die Krippe, wo wir sie mit Heu versorgen. Die zwei Eselinnen, seine eigenen Kinder sind es, lassen ihn nicht mehr zu sich. Aber unsere Ziegen, sie schauen gut auf ihn.
Von Greta mit einem Schneeball eiskalt erwischt, stellt Melina die Spieluhr endlich ab, zieht die Mütze über ihre Ohren wie einen Schutzschirm. Über ein paar Schafsköpfe trifft es einmal noch Flora, zweimal Cornelio, dann den alten Gian zwischen den Ziegen. Verzeih mir, alter Gian, Melina klopft dem Esel auf den Rücken, mit frischem Schnee entlang der Wirbelsäule wieder fast so weiß wie früher.
Den kleinen Buben im rechten Arm, öffnet Tante Severine mit der linken Hand das Gatter, lässt zwei Kitze auf die Weide springen. In ein paar Jahren lassen sie sie zwischen Felsen frei, höher als das Dorf, hoch oben im Gebirge. Sie hüpfen jetzt zu ihrer Amme, ihrer Ziehmutter, und zerren an den Zitzen mit Milch. Die fremden Kitze nahm die Ziege an, als wären sie die eigenen. Wären sie Hausziegen wie sie, wären sie schon ganz richtig, am rechten Ort. Das Apfelbrot, das Sie uns gebracht haben. Es ist jetzt weich, Tante Severine mustert Cornelios Gesicht, fast schon zu weich für meinen Geschmack, als er, Schnee im Nacken, neben ihr steht. Ich frage mich, was wir Ihnen schulden. Verwundert schüttelt er den Kopf, natürlich nichts, Schnee rieselt ihm den Rücken hinab, ein kalter Schauer, das war ein Gastgeschenk. Beschämt mischt sich Greta ein, weißt du, Cornelio, wir kriegen eigentlich nie solche Geschenke. Also Brot oder Kuchen, wir backen das alles selbst und verkaufen es im Dorf. Bis jetzt hatten wir niemanden als Nachbarn, sehr selten komme jemand vorbei. Gott sei Dank selten, murmelt Tante Severine so leise, dass es Gott sei Dank bloß Greta hört.
Zusammen mit Melina begleitet Greta den Nachbarn noch ein Stück des zugefrorenen Weges. Es sei eigentlich nicht gut so für ihn mit seinem Bein, ganz allein. Er winkt ab, das Alleinsein macht mir keine Angst, nicht einmal jetzt, nicht einmal so, aber, er zwinkert Melina zu, die Krücken müsst ihr mir schon lassen. Obwohl in jeder Stirnreihe die Kleinste, schafft es Melina auf Zehenspitzen, die Arme hochgestreckt, dem Nachbarn ihre Spieluhr ans Ohr zu halten. Cornelio lächelt, ist es ein Winterlied, singt ihr es auch manchmal. Melina nickt, draußen im Obstgarten, unterm Apfelbaum, damit Flora auch mitsingt, es ist ein Jahreszeitenlied, es sei vier Strophen lang, wie ein Jahr. Die Spieluhr habe Greta Melina an Weihnachten geschenkt, es war zugleich ihr Geburtstagsgeschenk. Ohne Rauschen kein Radio in den Bergen, Cornelio werde schon noch sehen, wie anders es ist als in der Stadt. Warum sie glauben, dass er, dass ich ein Städter bin. Greta hebt die Brauen, das sehen wir, du klebst dir einen Bart auf. Wieder Melina, im Dorf wachsen Bärte brustlang oder länger.
Wo der Schotter in löchrigen Asphalt übergeht, biegt Greta auf den Weg in den Wald ab, bittet Melina, richte bitte Tante Severine aus, dass ich im Dorf noch Zimt besorge. Verborgen ist das Bänkchen, die Zeit dort, außer für die Mädchen, den Nachbarn, Greta. Melina spaziert ein weiteres Stück weit mit Cornelio, umarmt ihn zum Abschied, wie Greta ein kurzer Blick über die Schulter verrät. Wie oft, wenn sie sich freut, wackelt das Mädchen mit den Ellbogen, die Unterarme an ihre Brust geklemmt. Es gibt wenige, so gut wie keine Männer in ihrem Leben, keinen Vater, Onkel. So hat es auch sein Gutes, ist Tante Severine überzeugt, bei dir war es doch ganz gleich. Anders war es, es gab Jannis.
An das Bänkchen gelehnt, merkt Greta, wie ihre Lider schwer werden. Natürlich kommt Jannis nicht. Warum wartet, erwarte sie, dass er dasitzt, verschneit, wenn sie kommt. Ihre Finger in den Schnee bis zu den Holzlatten getaucht, öffnet Greta ihre Augen. Rauch in der Luft wie von einer Dampflok, einer Reise von dort nach da, da wären sie, Greta und Jannis, Jannis und Greta. Vom Himmel auf den Grund segelt sie mit Blicken einer Feder nach, hebt sie hoch, ehe sie schwer landet. Ihre Zweige mehr um einen Mittelpunkt als um eine Achse angeordnet, erinnert die Feder an einen Blumenkopf. Die Blüten, stellt sich Greta vor, machten sich gut auf dem Hut des Nachbarn. Sorgfältig heftet sie sich die Feder hinters Ohr, an die Stelle, wo Jannis vor Jahren, Jannis, was machst du da. Er lege Küsse für sie für später bereit, erklärte er, wenn wir erwachsen sind, uns nicht mehr jeden Tag sehen. Ob er wisse, wie sich das anfühle. Wie Käfer, kleine Käfer überall, fühlt sich das an, oder.
Wenn es anfängt zu schneien, zum ersten Mal im Jahr, empfinden die Flocken die Formen der Gräser und Steine nach. Annähernd so gründlich wie der Reif, der vom Größten bis ins Kleinste alles nachzieht, von allen Seiten, Spitzen und Kanten verhärtet. Wenn viel, lange und länger Schnee fällt, sind Steine und Gräser irgendwann überformt, sammelt, zeichnet die Wiese alle Stapfen überdeutlich aus. Von Cornelios Haus, dem alten Mooshäuschen, wo es in den Zimmern dunkel ist, führt im Licht der letzten Straßenlaterne eine frische Spur zum Schloss. Zögerlich schlüpft Greta in die Abdrücke der Stiefel. Gesäumt von Löchern, wohl von Krücken, wandert sie den steilen Hügel hinauf. Niemals mit Schlüssel verschlossen steht das Tor in den Schlossgarten einen Spalt weit offen, ein Stück weiter als sonst.