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Also ich schaute mich bloß um, erklärt sich Cornelio, auf die Steinmauer gestützt, ein bisschen heiser. Seinen Arm, sein Bein streifend bückt sich Greta hinab, schaut, wo ein großer Stein fehlt, hinaus zum See, weißt du, der Schlossherr starb vor einer Weile, sowieso war er nie da. Früher verbrachte seine Frau mit ihrem Kind im Gebirge den Winter, und ein paar Tage im Frühling und Herbst war sie allein da. Die Fensterläden auf der Ostseite seien, einer nach dem anderen, aufgeflogen, am Abend, sagte mir Tante Severine, habe lange das Licht in vielen Zimmern gebrannt. Cornelio lächelt, hell bis spät in die Nacht, bis zum Morgen, das leuchtet ihm ein. Ob die Frau bei Licht geschlafen hat, wer weiß, vielleicht hatte ja ihr Kind Angst im Dunkeln oder sie selbst, fährt Greta fort, ohne sich zu Cornelio umzudrehen. Niemals sei es finster gewesen, als Tante Severine vom Hof wie zum vollen Mond hinaufschaute, nie, ganz gleich, wie spät oder wie früh, sei es hell im Schloss gewesen.
Dichter werdende Vorhänge aus Schneeflocken ziehen sich über ihren Köpfen zu. Greta löst ihre kalte Wange vom Stein, kommt mit weißen Schulterpolstern wieder in Augenhöhe, wir müssen unters Dach. Verfroren stimmt Cornelio zu, geht voraus. Sie hält ihn zurück, nicht bloß unters Vordach, dort findet uns der Wind, einmal in den Bergen, schaffe er es durch alle Spalten, in jeden Ritz, überallhin, wie Wasser, Schnee. An Orten, wo die Sonne Wochen, Monate lang nicht hinlangt, einen ganzen Winter lang nicht, rüttle der Wind im Gebirge.
Seine Locken wie wehende Wipfel in aller Herren Lüfte, sein Bart wie ein totes Blatt verweht, fragt er, sag, welches Dach meinst du. Mit den Krücken zeichnet Cornelio wie in einem weißen Meer Wellen im Wind von überallher. Ob er über seinem Kopf, schau, mit Vögeln bemalte Fensterläden sehe, unterhalb ein Spalierobstgerüst, es sei aus Metall, wohl zur Zierde, für uns ist es eine Leiter jetzt. Hinter den Läden gibt es keine Fenster, fast wie in deinem Mooshäuschen. Greta schüttelt den Schnee von ihren Kleidern, zerdrückt ihn auf ihrer Nasenspitze, jetzt bin ich, glaube ich, leicht genug, die Sprossen hochzuklettern fällt ihr gar nicht mehr schwer. Ihren Arm mit kalter Luft von oben zwängt sie unter die Fensterläden, da ist ein Haken, gleich habe ich ihn. Zwitschernd schwingen die Vogelläden auf.
Mit einer echten Feder, glanzvoll, winkt Greta zu ihm herab. Mir kommt vor, du bist geflogen, so schnell, wie du oben warst, er strahlt verwundert. Sie schickt die Feder zu ihm in die Tiefe, für deinen Hut, jetzt du. Ehe er sichs versieht, reißt ihm der Wind die Feder aus der Hand, wie soll ich das anstellen. Schau mich an, mein Bein ist steif. Greta zuckt mit den Schultern, du hast ja die Vogelfeder, und verschwindet hinter den zugeschlagenen Fensterläden. Sachte fischt er die Feder aus dem Schnee, als würde er aus fester Erde eine Blume mit Wurzel, ohne die Wurzel pflücken. Er steckt sie unter die Hutkrempe hinters Ohr und hat, während sich an seiner Haut der Stiel wärmt, Schnee schmilzt, gleich ein paar Töne im Kopf. Ohne Gretas Blicke zieht Cornelio aus seiner Tasche den großen Bund mit Schlüsseln, probiert bei der ersten Tür ein paar Schlüssel durch, bis der feinste mit unendlich vielen Zacken passt. Zwei vier acht Mal dreht er ihn im Schloss durch, dann knarzt es und die Tür ist offen. Mit einem Schneewirbel im Rücken stolpert er vom Vordach unters Dach, in ein Zimmer ohne Fenster. Mit Lampen unter Stoffschirmen ist es alles andere als dunkel.
Als ob er auf Moos wandern würde, wird jeder seiner Schritte im Schloss gedämpft, sind bloß von oben Klopfgeräusche zu hören, so regelmäßig wie das Pendeln einer Uhr. Über Teppiche steigt er langsam die Treppen hoch, vorbei an den Zirkusbildern. Rahmen an Rahmen verkleiden sie wie eine lebendig frohe Tapete die Wände bis zur Decke. Ein breites Fenster zeigt ihm sein Mooshäuschen am Ufer, den kleinen Bergsee, zu dem er bald laufen wird, ohne Verband rundherum, wird er im Frühling bis zur Kugel mitten im See schwimmen. Der Spiegel von Kugel und Wasser fängt alles ein, seine großen Augen, die spitze Nase wie rund, andere Gesichter, die gespiegelt mit seinem Lächeln spielen und mit seiner Nase, seinen Augen.
Ein Zimmer nach dem anderen durchstreift er, berührt mit den Fingerspitzen, Handflächen die samtigen Möbel, Stoffe in allen Farben, keiner so weich wie der Boden, den er durch seine Stiefel hindurch spürt. Kaum etwas sagt ihm etwas, nichts verraten die Figuren und Vasen, die jeden noch so großen Saal voll machen, im Licht vieler Lampen. So viele, dass es hell ist, es darf niemals dunkel sein und still, schon gar nicht still. Das leise Klopfen im Takt wird hinter seinem Rücken lauter. Auf einmal hört es auf. Cornelio dreht sich um und schaut Greta ins Gesicht, was machst du da. Eigentlich müsse sie ihn das fragen. Ob er also doch hochgeklettert sei, durch welche Türen er sie überholt habe. Ich streue Kieselsteine, erklärt sie dann, damit ich wieder zurückfinde. Sich in diesen bunten Zimmern zu verlieren, es geht schnell. Für ein Zimmer genügen die Steine in meiner Tasche noch. Cornelio schüttelt den Kopf, du gehst ja barfuß, ist dir nicht kalt. Ihre Zehen trippeln, natürlich. Aber denk daran, Cornelio, es ist nicht mein Schloss. Wenn es so wäre, dann wäre sie, dann würde ich erst recht barfuß gehen, nach einer Pause, komm, zieh deine Stiefel aus, stell sie neben dem Steinmännchen ab.
Auf bloßen Sohlen folgt er Greta in ein kleines Zimmer mit Schreibtisch, darauf Briefpapier, farbig bedruckt, die dicken Vorhänge offen. Zwischen seinen bloßen Fingern befühlt Cornelio das raue Papier, wo die Tinte, wie er weiß, wie ein Gewächs grünblau ausfranst, wenn er, pass auf, sagte sein Vater immer, Papier ist wertvoll, verschwende es nicht. In seinem ganzen Leben habe er noch keine zehn Briefe verfasst. Auch Greta sei keine Briefeschreiberin mehr, ich war es einmal, ein bisschen, sie runzelt die Stirn, inzwischen hat Flora fast alle Post übernommen. Makellos ahmt Flora meine schiefe Schrift nach. Cornelio lächelt, bring ihr ein paar Blätter mit, es wird bei dem Haufen sicher kein Blatt mehr vermisst. Es wäre ein ungeschriebener Brief weniger auf dem Tisch.
Auf Zehenspitzen zieht Greta einen Kreis um ihn herum im moosigen Teppich, tanzen wir, Jannis, sie räuspert sich, Cornelio, meine ich. Was meinst du, wie die Zirkusfiguren auf den Bildern. Er zieht den Hut. Sie nimmt ihm die Krücken ab, nimmt seine Hände, hält sie fest. Langsam drehen sie sich, um sich selbst, rundherum, schnell und schneller halten sie sich beide auf dem Boden liegend wieder, als würden sie noch tanzen. Alles in Ordnung bei dir, deinem Bein. Dann streicht sie ihm die Locken aus dem Gesicht, ohne Bart ist es besser, und küsst ihn wieder wie ein Kind auf die Stirn, gehen wir die kleinen Kieselsteine einsammeln, es seien, es sind genau einhundert. Die großen Steine, die Männchen bleiben. So weiß ich, wo ich schon war.

Als dränge der Winternebel vom Tal herauf zwischen die vier Wände in die Küche herein, hat sie noch immer kalt an den Füßen. Während Greta den Teig auswallt, fährt Flora wortlos die Falten ihrer Bluse entlang, zerknittert, als hätte sie eine Kuh im Maul gehabt. Greta hält inne, das hat sie bei Jannis auch gemacht, als er noch studierte, keiner seiner Kittel gebügelt, glatt war, viel zu viel Aufwand, wozu. Wozu überhaupt studieren. In den Hörsälen und Laboren, dort lerne ich nicht, was ich brauche, sagte Jannis. Die Tiere werden zuerst aus der Natur, dann durch Herz und Nieren geschnitten, in den Laboren, dort lerne ich nichts mehr, ich muss ins Freie, gehen wir hinaus, oder, den weißen Kittel um ihre Schultern gelegt, schlaf mit mir, Greta. Rund ein Jahr später, alle seine Kittel bei neunzig Grad gewaschen, gebügelt, gestärkt, beendete er das Studium, ohne viel vom Leben zu wissen. Oder von der Liebe, das meine ich ernst, Greta. Herbstnebel bis zum Hals, als er heiratete, waren ihre Füße fast unsichtbar.
Mit dunkler Schokolade kleben sie die Lebkuchenteile zusammen, mit einem Spritzsack trägt Flora die Ziermuster auf. Auf das Dach und neben das Hexenhäuschen steckt Melina lustlos ein paar Zimtsterne und Mandeln, mir ist so schlecht. Greta seufzt, es wundert mich nicht, Melina, vorm Backen habe sie fast alle Fensterläden aufgegessen, und den halben Schornstein. Auf die Fensterläden, die übrig sind, spritzt Flora Vögel auf, als wüsste sie, wo Greta war, schon wieder, als wäre es ihr Schloss, klettert sie dort ein und aus.
Sachte macht Greta zuerst eine Schublade auf, dann eine Zündholzschachtel, darin Figuren, die übrig sind, Schwester und Bruder, eine graue Katze. Sag, Tante Severine, wo ist die Hexe hin. Die alte Frau schüttelte den Kopf, eine Hexe, damit die Eltern aus dem Schneider sind. Da spiele ich nicht mit.
Auf Cornelios Fragen, woher Flora und Melina, ja, der kleine Bub, wie, warum auf den Hof, wusste Greta keine Antwort. Von den Kindern am Hof lässt sich nicht wirklich sagen, dass sie sich verlaufen haben. Die Eltern brachten sie her, aus dem Dorf den Hang zum Hof hinauf, stellt sich Greta vor. Weil sie zu spät oder nie laufen lernten, ohne Grund schrien, auf einmal keinen Ton mehr von sich gaben, meint Tante Severine, weil es ihnen an Kraft und Ausdruck fehlte. Auf eine Art und Weise haben sie sich doch verlaufen. Flora und Melina wissen nicht, wo ihr Daheim war, und finden nicht mehr zurück, sie sind jetzt am Hof daheim. Tante Severine glaubt, bei unserem Buben wird es ganz gleich, nicht viel anders sein. Nennen wir ihn Chaspar, das ist ein guter Name für das Kind. Im Steinwildkorb im Stroh habe sie einen goldenen Chaspar gefunden. Chaspar heißt Luchsstein, es heißt, so ein Stein entstehe, wenn Luchse ihren Urin mit Erde bedecken. Vielleicht haben ihm die Eltern den Stein zugesteckt, zum Abschied, wer weiß, oder ein Luchs war bei ihm auf der Reise. Ob Tante Severine denn, hakte Greta nach, glaubt, der Bub sei wie ein Steinkitz im Korb über die Berge getragen worden. Wer weiß, jedenfalls steht seitdem ein Korb mehr in unserem Stall oder täusche ich mich.
Über die Jahre durch viele warme Kinderhände gereicht, verhüllen die Gesichter der Figuren vom Lebkuchenhaus, wer der Bruder, wer die Schwester ist, ob sie verwundert, erschrocken sind, lachen oder weinen, wie sie da an den Zimtstern gelehnt stehen, ihre Füße abgebrochen, versteckt im Schneeeiweiß.
Vor acht Jahren
Außer Atem lässt Greta sich auf die Bank neben dem Grenzstein fallen, komm, mach die Packung auf, Jannis. Den weiten Weg über den Berg geschmuggelt scheint jede der Zigaretten zu lang, kein Zug so kurz, dass sie nicht husten müssten, sie husten nach jedem Zug, jetzt du. Nein du, Greta. Nach der Hälfte zerstampfen sie die Zigarette. Verschnaufen kurz, es ist noch weit bis ganz zurück zu ihren Ziegen, zu seinen Schafen, ein weiter Weg, aber ich bekomme so schlecht Luft. Gretas aufgeraute Stimme, selbst schuld, wir sind selbst schuld. Wir haben zu viel auf einmal geraucht.
Unter einem großen Schwarm schwarzgrauer Vögel steigt sie mit Jannis durch den lichten Wald hinab zu den Weiden. Das sind Bergdohlen da oben, sie ziehen die Konturen der Felsen nach, erklärt er, schau. Schreiend stürzen die Vögel in die Tiefe und fangen sich gleich wieder für eine Zeichnung des hohen Gipfels, wir brauchen eine Stunde, die Bergdohlen keine Minute. Greta nickt, sie fliegen mit dem Wind, wir gehen, wo es geht, vom Wind geschützt. Ob er das auch höre, sie packt Jannis am Arm, sind das deine Schafe, Jannis, hörst du das Blöken. Er zeigt hinunter, ich glaube, es ist ein Mutterschaf, es muss ein Lamm verloren haben. Kreuz und quer laufen Greta und Jannis den Berg hinab, ohne Pfad, mit dem Wind, jetzt spüre ich ihn auch, Jannis. Als wären sie federleicht, erreichen sie scheinbar mühelos die Weiden mit ihren Herden. Sie sehen, wie das Mutterschaf blökend von Wiesenkuppe zu Wiesenkuppe hastet. Bei jeder Rast hängen drei Lämmer an ihren Zitzen, aber sie sucht das vierte, es ist die Mutter mit den vier Jungen.
Zur rechten Zeit am rechten Ort gefehlt, schließen sich Greta und Jannis der Suche an, beschließen nach der ersten die zweite Weide, die vor allem Gretas Ziegen versorgt, von oben bis unten abzulaufen. Murmeltierpfiffe machen Jannis nervös, vielleicht sei das Lamm abgestürzt, und der Adler. Greta will beschwichtigen, wir finden es, stolpert tapfer einen Steilhang hinab, stolpert wieder, verliert ihr Gleichgewicht. Wütend strampelt sie am Waldboden mit ihren Beinen, ihre Knie aufgeschlagen an ein paar Kieselsteinen, obwohl ganz rund, glatt, es wären eigentlich Steine für Jannis’ Sammlung.
Voll mit Dreck, feuchter Erde, zerrissenem Gras klammert sich Greta an Jannis, der sie hinter sich hinaufzieht, ich bin so ein Rindvieh, es tut mir leid. Zurück auf der Weide kein Blöken mehr, vor ihnen das Schaf mit ein zwei drei vier Jungen, es sind vier, zum Glück, Jannis lacht, Greta, ich bin auch ein Rindvieh, zum Glück ist nichts passiert. Von ihrer zerkratzten Haut, den verfilzten Haaren löst sich die Schmutzkruste wie von selbst vom Kleid im kalten Bach in den Bergsee auf. Hinter ihr reibt Jannis die Grasflecken von den Kieselsteinen. Auf einmal spürt sie seine Hand an ihren Schulterblättern, wie seine Finger ein Blatt von ihrem Nacken zupfen, lass das, Jannis. Hängst du mein Kleid in den Wind, dann trockne es mit dem Wind, spiele wie die Vögel, dann ist es früher als morgen staubtrocken.
Am Abend beim Feuer bringt sie keinen Ton aus ihrer Blockflöte, mir geht die Luft aus. Die Lehrerin wird mich fortschicken, schon letztes Mal sagte sie „Greta, mach doch bitte Platz für Kinder, die fleißiger üben als du“. Mir ist es gleich, ich brauche die Luft sowieso für anderes, das ist mein Trost, sie gibt Jannis die halbe Zigarette, umspielt sie nach ihm wieder selbst mit ihrer Zunge. Sie schmeckt anders danach.

Sei bitte leise, Jannis, ich mag auf die Gerüche achten, es rieche immer so gut im Frühling. Auch keine Zeichen, bitte Jannis, das wäre ja das Gleiche, irgendwie sei das ja wie reden. Einmal werde sie inmitten von Lavendelfeldern für ihre Mutter einen Geruch erfinden, ein Parfüm, das ausdrücklich bloß zu ihr passt. Greta hebt ihr Kinn und forscht die Duftnoten der harzigen Zirben aus. Mit geschlossenen Augen hört sie in ihren Kopf und Körper hinein, in ihren Traum von letzter Nacht. Fröhliche Töne für ihre Ziegen aus der Blockflöte, Greta spielte sie ganz aufgeregt. Wie von selbst schloff ihr die Flöte aus den zittrigen Händen, glitt zwischen ihre Beine, schwang in einem Atemzug durch Bauch und Brust hoch über ihren Mund ins Freie, mit Tönen, die anders klangen. Sag, was summst du da, Greta, Jannis drückt seine Hände zu Fäusten gegen seine Stirn, das ist das Jahreszeitenlied, richtig, mein Locklied für die Schafe, Jannis seufzt, nicht dass uns diese Lauser jetzt ins Dorf nachlaufen, wo sie die Herden doch gerade erst auf die Weiden getrieben haben.
Statt Gemecker tönen tiefe Stimmen einer großen Rinderherde zu ihnen. Es sind viele Kühe mit Kälbern, das hättest du riechen müssen, Greta. Bleich wie ein Leintuch schlägt sie vor, das Vieh zu überholen, sich die Böschung über der Schotterstraße entlangzuhangeln. Sie sei die Ältere, ich gehe vor, Jannis kommt ihr nach. An den kahlen Ästen unterhalb der grünen Blätter der Büsche zwängen sie sich oberhalb der Straße mit den Rindern vorbei. Endlich haben sie wieder Schotter unter den Füßen, die Kühe hinter sich, die haben wir hinter uns, Jannis von den Wangen bis zu den Schläfen rot. Erleichtert biegen sie um die Ecke, erschrecken vor noch mehr Muttertieren, wir sind eingeschlossen, zwischen Rindern, Greta noch immer blass, Jannis rot, das sieht nicht gut aus. Wäre das Bachbett nicht voll, voller Schmelzwasser, ganz gleich, wir sind nicht aus Zucker, unterbricht sie ihn. Ihre Schuhe samt Socken an den Rucksackriemen befestigt, waten sie durch den Bach. Mit spitzem Kopf dringt das kalte Wasser in alle Felsritzen, zwischen ihren Zehen stichelt es wie Nadeln.
Gut seid ihr meinen Kühen ausgewichen. Obwohl nicht so gewandt wie ein Steinbock, bemerkt der junge Kuhhirte, ein paar Jahre älter als sie. Als Greta und Jannis auf seiner Höhe zur Schotterstraße zurückkommen, sind sie bis zu den Knien herauf nass. Das wirst du wissen, sagt Greta, in deinem ganzen Leben hast du noch keinen Steinbock in diesen Bergen gesehen. Da habe sie schon recht, wie denn auch, in unseren Bergen sind die Steinböcke ja ausgestorben. Über der Grenze, in einem königlichen Jagdgebiet habe aber eine Steinwildkolonie überlebt, geschützt von Wildhütern, die früher Wilderer waren. Dort war ich schon, da seid ihr noch in Windeln gelegen. Jagen darf dort bloß der König. Greta wundert sich, dass, also wo Jannis und ich Zigaretten kauften, im Grenzland, dort gibt es noch Steinwild, stimmt das, ist das wahr. Der Kuhhirte nickt, im Frühjahr kommen die Böcke tief herab ins Tal, hungrig vom Winter, ein paar Wochen später steigen sie wieder in die Höhe. Manchmal bleiben Hörner zurück, wie tote Äste im Geröll. Wirklich, ihr könnt mir glauben.
Als sich ihre Wege trennen, streicht er über Gretas Nacken, trippelt mit seinen Fingern ihre Wirbelsäule entlang, dein kleiner Bruder hat dir die Knöpfe nicht zugemacht. Greta stößt ihn weg, lass das, er ist nicht mein Bruder und mein Kleid hat keine Knöpfe. Komm, wir gehen, Jannis.

Am beißenden Geruch verwesender Tiere weiß Greta, dass sie bald daheim ist. Bei mir, sagt Jannis, sind es die verbrannten Fliegen, die er mit Daheim verbinde, verschmolzen mit der Glühbirne der Stehlampe. Jeden Abend bleiben mehrere Fliegen dort kleben, vom Totengeruch lässt sich keine abschrecken, fährt Jannis fort. Ist es so weit, ist es zu spät, reiß das Fenster auf, ruft mein Vater dann, das Licht aus. Greta nickt, bei mir hilft bloß Fenster zu, damit der Gestank von den Bahngleisen draußen bleibt. Ist die Verwesung schon so weit, sei es für Mutter und sie längst zu spät, den überfahrenen Wieseln und Dachsen zu helfen. Manchmal zünden sie eine Kerze an, für das Lebewesen, das es war. Eure Lampe hätte Mutter schon längst entsorgt. Aber ich weiß, dein Vater ist da anders.
Jeder tote Vogel, Frosch oder Igel verlangt ein Gebet, aus Mitgefühl, glaubt Gretas Mutter, aus Respekt. Manchmal kauft sie am Freitag am Wochenmarkt alle Flusskrebse aus den Kübeln, lässt sie im wilden Gebirgsbach frei. An einer Engstelle ein paar Meter weiter wartet der Koch vom Dorfgasthaus, er weiß gut, Freitag ist ein guter Tag, ein Fangtag. Greta weiß es auch, schau, dass du wegkommst, aber es bringt nichts. Auch hat es keinen Wert, Mutter abzubringen. Siehst du, Greta, die Krebse freuen sich. Wie kann ich das sehen, erwiderte Greta, ich bin ja kein Flusskrebs und du auch nicht. Mutter spazierte ein paar Schritte am Ufer, ich weiß es, zitierte sie ihr Lieblingsbuch, aus der Freude, mit der ich am Bach entlangwandere.
Sorgfältig putzt Greta ihre Schuhe an der Fußmatte ab, ihren Traum, den sie Mutter nicht erzählen wird, er haftet noch am ganzen Körper. Auf der Schwelle steht ein Teller Essensreste, für Häuschenschnecken, sie schützen das Haus. Mutter nimmt sie an der Hand, ihr habt lange gebraucht, du und Jannis. Geht es unseren Ziegen gut und Jannis’ Schafen, und auch der Schafsmutter mit den vielen Lämmern. Greta nickt, weißt du, die leibliche Mutter ist ja gestorben, ein anderes Schaf hat die vier Lämmer angenommen. Welche sei jetzt eigentlich die richtige Mutter. Beide sind es. Es gibt Omelett mit Käse und Schnittlauch, nach dem Rezept einer Tante, deiner Großtante Severine, sie würde darauf bestehen, dass Greta sie „Tante“ nennt. Greta schaut auf, wie war sie damals, als ihr zu zweit am Hof gelebt habt, wart ihr wie wir zwei. Sehr streng zu mir als Kind, fängt Mutter an zu erzählen, offene, wilde Haare seien Tante Severine Dornen im Auge gewesen, „ich sehe, du hast wieder deinen Haarreifen verloren, Mädchen, oder gibt es so etwas heute nicht mehr“, sagte sie dann immer, und „schau mir in die Augen, wenn du mit mir redest“. Da wären wir wieder bei den Haaren. Mutter schiebt Greta eine dünne Strähne hinters Ohr, erzähl, was gibt es bei dir. Greta kann ihrem Blick nicht mehr ausweichen, sie möchte, ich möchte mit der Schule aufhören. Sie möchte, ich möchte eine Lehre machen, ein Parfüm erfinden, ein Parfüm für Mutter, denkt sie bei sich. Sag nicht, Greta lässt die Strähne zurück ins Gesicht fallen, das hat keinen Nutzen, das ist bloß Gestrüpp in meinem Kopf. Ich wünsche mir das ganz fest, meine Nase ist so fein, ich rieche alles so gut, das weißt du.
Mit der Kerze leuchtet Mutter durchs offene Fenster hinaus in den Garten, du weißt, Greta, mir gefällt Gestrüpp. Schon Jahre habe der Rosenstrauch draußen kaum Blüten, keine Hagebutten mehr, vielleicht nächsten Herbst, rotes Leuchten, süße Marmelade mit Apfelmost. Und wenn nicht, nie mehr, sie zuckt mit den Schultern, braucht es uns auch nicht zu bekümmern. Seine Blätter sind jedenfalls eine Zierde.

Also, in vier Wochen sind Heuferien, in acht Wochen ist mein letzter Schultag, Greta zwickt Jannis in den Arm, was sagst du, sag etwas, Jannis. Er bückt sich, liest vom erdigen Boden vor der Schule einen Stein auf, befühlt ihn, ob er an allen Seiten abgeschliffen, ist er auch wirklich rundum glatt. Dann sackt er ihn ein, in seinem Rucksack schon so viel, wie viel denn noch, Jannis. Es kann nie genug sein. Auf dem großen Küchentisch daheim werde er am Nachmittag die Steine, die gepflückten Frühlingsblumen in bunten Reihen auflegen. Einzig die Käfer, sie halten nicht still, einfrieren müsste ich sie, so behielten sie auch ihre Farbe, murmelt Jannis vor sich hin. Manchmal hat Greta das Gefühl, als sei er tief im Gespräch versunken, aber nicht mit mir, mit allem rundherum, Blättern, Steinen, mit allem, was nichts fragt. Es heißt, der erste Kuss tut eine neue Welt auf, ob ihm denn kein Mädchen in der Klasse gefalle, ich glaube, nein, ich weiß, es kitzelt beim ersten Mal ein bisschen. Jannis stutzt, gehst du dann weg, Greta, nach den acht Wochen, also weg aus dem Dorf. Sie schüttelt den Kopf, wir müssen zuerst sparen, es kostet viel, die Ausbildung, allein schon die Reise zu den Lavendelfeldern. Die nächsten paar Jahre arbeite ich bei Mutter in der Bäckerei, das ist auch eine Geruchslehre und viel mehr. Jannis stellt seinen Rucksack voller Steine auf den Boden, lächelt, ich freue mich auf den Lebkuchen von dir. Ein Hexenhäuschen im Schaufenster an Weihnachten stelle er sich vor, er würde alle Münzen vom Jahr zusammenkratzen, am Ladentisch jede einzelne aus seiner Geldbörse herauszählen. Als wären sie Gold wert, das wären sie ja wirklich. Alle Münzen zusammen und mehr, überlegt Greta, bedeuten endlich einen Geruch für Mutter.
Auf dem Weg zum Badeweiher erspähen Greta und Jannis den Kuhhirten, schon wieder der. Wo dem Weiher der Bach ins Dorf entwischt, baut der junge Mann einen Damm, aus Steinen viele Male so groß wie der wunderliche Haufen in Jannis’ Rucksack, und viel schwerer noch. Mit einem Anlauf bloß schafft es Greta nach zwei Sprüngen auf die höchste Stelle in der Mitte, wie eine Steingeiß, da sagt ihr nichts mehr, ihre Arme hat sie stolz in die Seiten gestützt. Seinen Ellbogen am Felsen vernarbt, den Kopf in seine Hand gelegt, nickt der Kuhhirte, ich bin beeindruckt.