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Gerhard Kurenz
EIN PILZFREUND ERZÄHLT
Mit Illustrationen von Gertrud Zucker
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2014
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Illustrationen © Gertrud Zucker
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
Ich sehe eine Rotkappe
Eine angenehme Überraschung
Der Tod der Rotkappe
Kommen und Gehen
Auf vier Rädern
Fröhlicher Marsch
Nachtjagd
Pilzriesen
»Heimsuchung«
Auf Wiesen und Weiden
Tschernobyl und riesige Riesen
Eine gefährliche Verwechslung
Das herrlich duftende Pilzgericht
Der Zweifel
Vorsicht Pilze!
Konsalik
»Rothädl« und »Graspilz«
Man lernt nie aus
Vorsicht Wildschweine!
Schlangen
Verstrickungen
Hoffen und Harren
Auf der Flucht
Tierbeobachtungen
Die verschmähten Pilzschnitzel
Trüffeln auf der Spur
Wo Hexen und Elfen tanzen
Schöner grüner Wald
Endnoten
Vorwort
Der Titel sagt schon: Dies ist kein »Pilzbuch«. Ein paar Betrachtungen über Lebensbedingungen und -äußerungen der Pilze unserer Heimat, über den Umgang mit ihnen bis hin zu ihrer Verwertung erschienen mir unumgänglich. Sie stützen sich auf belegbare Quellen, doch wissenschaftlichen Anspruch erheben sie nicht. Ich wollte vor allem über meine Pilzwanderungen und - jagden berichten und erzählen, was mir und meinen jeweiligen Begleitern dabei an erhebenden, freudigen und schrulligen, aber auch spannungsgeladenen und nicht ganz ungefährlichen Ereignissen und Begegnungen beschert war. Ich bin sicher, dass manche Leserin, mancher Leser bei der Lektüre an eigene Erlebnisse erinnert wird und viele interessante Beiträge aus eigenem Erleben hinzufügen könnte.
Gerhard Kurenz, Bad Saarow, 2014
Ich sehe eine Rotkappe
Ich war mit meiner Familie zum Pilzesuchen hinausgefahren. Als ich den Wagen auf »unserem Parkplatz« am Birkenwäldchen bei Potthagen abgestellt hatte, quoll die Kinderschar lärmend ins Freie. Es war Sonntag, nicht nur dem Kalender nach: eine warme, atmende Erde, eingehüllt von würziger und klingender Luft, über allem ein herrlich blauer Himmel mit reinweißen Schäfchenwolken und Sonnenstrahlen wie gleißendes Gold – ein wahres Paradies. Kein Wunder, dass uns der Übermut packte. Auch mir saß der Schalk im Nacken, als ich rief: »Ich sehe ein Rotkappe!«
Da hörten sie auf, sich und die Grashüpfer zu haschen und starrten mich an. Ich wies auf einen etwa fünfzehn Schritt entfernten Baum am Rande des Wäldchens und beteuerte: »Da, unter dieser Birke!«
Während die anderen hinübersahen und, weil sie nichts entdecken konnten, unschlüssig verharrten, stürmte mein Ältester mit ein paar Sprüngen auf die Birke zu. Wir sahen ihn im Erdreich herumfingern. Was genau geschah, war nicht auszumachen, doch schon bald erkannten wir in der erhobenen Rechten des Jungen ein Prachtexemplar von einer Rotkappe. Als ich nach Sekunden der Sprachlosigkeit erklärte, dass ich nur geblufft hatte, wollte mir niemand glauben. Vor allem der glückliche Finder, der im blinden Vertrauen auf »Vaters Pilzauge« losgerannt war und sich darin bestätigt fühlte, war nicht leicht zu überzeugen. Ich musste hoch und heilig schwören, die Rotkappe vorher nicht gesehen und gleich gar nicht vorher dort unter dieser Birke eingegraben zu haben.

Wenig später sollte sich ein ähnliches Geschehen abspielen. Ich hatte einen pilzunkundigen Bekannten und dessen Sohn Steffen mit in den Wald genommen. Der Vater wollte unbedingt selbst ein paar Steinpilze finden, um sie anschließend zu trocknen und zum Würzen von Saucen zu verwenden.
Steffen, damals fünf oder sechs Jahre alt, folgte mir in der Dickung auf Schritt und Tritt, fand wohl auch hin und wieder einen Pilz, den er mir zur Prüfung vorzeigte, doch die ersehnten Steinpilze blieben aus, und der Junge wurde missmutig. Vielleicht wollte ich ihn nur aufmuntern, vielleicht erfüllte mich auch ein hoffnungsfrohes Ahnen, als ich vorschlug: »Legen wir uns doch einmal hin, hier müssen doch welche stehen!« Wer zuerst unten war, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur, dass wir, auf dem Boden liegend, ein Bild gewahrten, das uns für eine Weile die Sprache verschlug: Unter einer nahen Baumgruppe präsentierte sich uns eine reichliche Handvoll wunderschöner Steinpilze. Der schallende Kommentar von Steffen: »Papa, hinlegen musst du dich!«
In diesem Moment war der Junge wohl ernstlich davon überzeugt, dass man Steinpilze im Liegen sucht. Wir zwängten uns durch dichte Baumzeilen zum Standort und ernteten unseren Fund, alles kräftige, gesunde Pilze. Glücklicherweise verlief unsere Suche fortan auch im aufrechten Gang so erfolgreich, dass ich nicht noch einmal mit Steffen zu Boden gehen musste.
Der Vater hatte seine Pilze zum Trocknen. Der Sohn hatte eine interessantes Erlebnis, ich konnte helfen. Alle waren zufrieden.
Es war das einzige Mal, dass uns mein Bekannter in den Wald begleitete. Er kaufte sich, wenn er nicht von uns ein paar abbekam, seine Trockenpilze wieder im Laden. Steffen hat die Episode sicher schnell vergessen. Er ist, soviel ich weiß, kein Pilzfreund geworden.
Eine angenehme Überraschung
An mehr oder weniger guten Bekannten, die zu einer Pilzwanderung mitgenommen werden möchten, fehlt es dem erfahrenen Pilzfreund kaum. Deren Motive können weit auseinander liegen: den einen geht es um den Einmaleffekt, ein paar selbst gesuchte Pilze heimzuholen, die anderen wollen auf Dauer Nutzen ziehen. Letztere sind potenzielle Konkurrenten. Also muss man sich die Bittsteller genauer ansehen und mögliche Folgen überdenken, ehe man ihrem Drängen nachgibt.
In unsere Einrichtung kam eines Tages von weither ein neuer Mitarbeiter, der mich, nachdem ihm mein Ruf als Pilzfan zu Ohren gekommen war, geradezu bestürmte, ihm »auf die Sprünge zu helfen«. Das war so ein Potenzieller. Obwohl ich das erkannte und Nachteile voraussah, konnte ich ihn aus Höflichkeitsgründen nicht abwimmeln. Dass er mir in der Folgezeit nicht ins Gehege kam, lag daran, dass er das von mir ausgewählte Gebiet in einem Waldmassiv bei Hanshagen später allein nicht wiederfand. Bald hatte er seine eigenen Reviere abgesteckt.
Also fuhren wir mit Wagen bis zu einem Wegekreuz, wo ich jedes Mal parkte, stiegen aus und schlugen die von mir bevorzugte Route ein, die mehrere hundert Meter durch lichten Kiefernhochwald führte. Die Suche war mühelos, unsere Körbe füllten sich zusehends vor allem mit jungen, kräftigen Maronenröhrlingen. Mein Begleiter ließ seiner Begeisterung freien Lauf, während in mir der Gedanke Gestalt annahm, diese Pilzstelle künftig mit ihm teilen zu müssen.
Wir waren an jenem Brandstreifen angelangt, hinter dem das junge, niedrige und dichte Fichtengehölz begann, das ich allein oder in familiärer Begleitung mehrfach ohne nennenswerten Erfolg nach Pilzen abgesucht hatte. Da hieß es umkehren, und ich traf schon Anstalten dazu, als sein Freudenschrei ertönte. Er sprang hinaus auf den Brandstreifen und überquerte ihn hastig. Bald entdeckte ich auch den Grund: Steinpilze drüben am Saum des Wäldchens, etwa zwanzig Stück, alles Prachtexemplare! Es sah aus, als hielten kleine Waldkobolde eine festliche Versammlung ab. Noch nie hatte ich so viele schöne und noch dazu gesunde Steinpilze auf einem Fleck gesehen. Das war ein Schatz, den ich allein bestimmt verfehlt haben würde, denn ich hätte diesen Waldrand »aus Erfahrung« keines Blickes gewürdigt.
So offenbarte ich einem Kollegen eine meiner Pilzstellen und gewann durch ihn eine neue hinzu. Jahrelang ernteten wir dort unsere Steinpilze, bis der Ertrag immer geringer wurde. Zugleich erhielt ich eine heilsame Lektion, was die Erfahrung mit fündigen und nichtfündigen Flecken betrifft. Ganz abgesehen davon, dass man auf Waldränder immer ein Auge haben sollte, kann man leicht Chancen versäumen, wenn man die Veränderlichkeit der Pilzflora außer acht lässt und sich allzu starr an »seine Pilzstellen« klammert.
Der Tod der Rotkappe
Das erwähnte Fichtenwäldchen brachte nach einigen Jahren bald nichts mehr als ein paar Ziegenlippen, wohl auch einmal einen Maronenröhrling oder ein Kuhmaul. Der vorgelagerte Brandstreifen, der schnell vergraste, trug bald auch keine Rotkappen mehr. Eine Zeitlang fanden wir dort unter einer Gruppe junger Birken in kurzen Zeitabständen regelmäßig eine Handvoll Orangegelber Rotkappen, die, ihrer Schönheit wegen, auf dem Heimmarsch stets den Ehrenplatz ganz obenauf im Pilzkorb erhielten. Das wiederholte sich so zuverlässig, dass wir gar nicht auf den Gedanken kamen, dieser Quell könne einmal versiegen, und überrascht waren, als dieser Fall eintrat.
Eines Tages in der beginnenden Abenddämmerung nahmen meine Frau und ich wieder einmal Kurs auf die Birkengruppe, um am Ende unseres Streifzuges auch noch »unsere schönen Rotkappen« zu ernten. Da blieb meine Frau, die gerade im Begriff war, auf den Rasenstreifen hinauszutreten, plötzlich stehen. Auch ich war beunruhigt. Irgendetwas war anders als sonst. Bald wurde mir bewusst: Die Birken sind weg!
Meine Frau stand wie angewurzelt, konnte es wohl gar nicht begreifen. Und so stand sie noch lange, was mir sonderbar vorkam, bis ich die Erklärung fand: Drüben im Saum des Fichtenwäldchens verhoffte, ebenso reglos wie meine Frau, eine Bache, unverwandt zu dem Störenfried auf zwei Beinen herüber sichernd. Sie standen sich, nur durch den schmalen Brandstreifen getrennt, so nahe gegenüber, dass sie selbst im Dämmerlicht jede Einzelheit aneinander wahrnehmen und keine Regung voreinander verbergen konnten. Sekunden um Sekunden verstrichen. Die Bache gewann zuerst die Fassung wieder und trat den Rückzug an.
Als sich meine Frau einigermaßen beruhigt hatte, machte ich sie auf die Birken aufmerksam. Man hatte sie abgesägt und liegen lassen. Rotkappen fanden wir nicht und sollten wir dort auch nie wieder zu Gesicht bekommen. Der Pilz war mit seinen Symbiosepartnern auf Gedeih und Verderb verbunden. Ohne die Hilfe der Birken bei der Aufnahme von Nähr- und Aufbaustoffen konnte er nicht weiterleben.
Als wir am Abend die Begebenheit mit der Bache auswerteten, wurden wir an ein früheres Zusammentreffen mit Schwarzkitteln in diesem Fichtengehölz erinnert. Damals waren wir, meine Frau und ich, auf der Pirsch nach Steinpilzen, jeder in seinem Streifen. Sehen konnten wir uns nicht, wohl aber hören: ein Knacken, ein Rascheln … Da wir unsere Beute, wie üblich, an Ort und Stelle säuberten, waren wir beide ziemlich beschäftigt. Das war wohl der Grund dafür, dass eine (sicher belanglose) Frage an meine Frau, die ich ganz in der Nähe wähnte, unbeantwortet blieb. Ich rief nach ihr. Zu meiner Verwunderung kam die Antwort aus einer ganz anderen Richtung und aus einiger Entfernung. Noch ehe ich darüber nachdenken konnte, überstürzten sich die Ereignisse: Zu meiner Linken preschte in panischer Hast eine Rotte Wildschweine vorbei. Das war ein Stampfen und Brechen, ein Schnauben und Grunzen, dass es einem bange werden konnte. In das Getöse mischte sich ein menschlicher Laut, ein verhaltener und doch vernehmbarer Angstschrei. Kurz darauf trat völlige Stille ein.
Es war, als sei ein Spuk vorübergezogen. Nur der aufgewühlte Waldboden und das frisch gebrochene Gezweig sowie die unverwechselbare herbe Witterung, die im Dickicht hing, bezeugten, was geschehen war.
»Sie hätten mich fast umgerannt«, sagte meine Frau. »Mir kam der Gedanke, auf einen Baum zu klettern. Da war auch schon alles vorbei. Nur meine Knie fingen an zu zittern.«
Seit dieser Begebenheit ist das Fichtenwäldchen für uns »der Schweinewald«.
Kommen und Gehen
Der Wald ist in unseren Breiten überwiegend Wirtschaftsobjekt. Planmäßige Holzeinschläge, Aus- und Aufforstungen haben großen Einfluss auf die Pilzflora, vor allem, weil viele einheimische Bodenpilze in Symbiose mit bestimmten Waldbäumen leben.
Bei einer Pilzwanderung mit meinem ältesten Sohn durch ein Waldstück bei Potthagen erregte ein Baumriese, eine uralte Rotbuche, unsere Bewunderung. Wir schätzten seine Höhe und konnten uns auf dreißig Meter einigen. Was sein Alter betraf, wichen unsere Schätzwerte weit voneinander ab. Kein Wunder, denn das Alter eines Baumes zu schätzen fällt dem forstlichen Laien immer schwer, besonders wenn es sich um einen solchen Riesen handelt, bei dem ein Menschenalter mehr oder weniger kaum ins Gewicht fällt.
Als wir näher traten, fielen uns zunächst die sichtbaren Großwurzeln auf, die selbst Baumstämmen ähnelten. Dann erst bemerkten wir das Pfifferlingsvölkchen, das sich im Schatten des Giganten ausgebreitet hatte.
Wir schätzten diese kleinen Kerle unter der Rotbuche sehr. Sie waren von hellgelber Farbe, in den Stielen fast weiß, erreichten eine stattliche Größe, hatten festes, doch zartes Fleisch und dufteten besonders aromatisch. Es kam vor, dass eine Ernte einen großen Korb füllte. Doch unsere Entdeckung war uns nur einen Sommer und einen Herbst von Nutzen. Im folgenden Frühjahr fiel der Riese einer Motorsäge zum Opfer. Mit einem Schlag blieben die begehrten kleinen Leistlinge weg.
Leider, doch kein Grund zu langer Trauer, man verliert hier ein paar Rotkappen oder Pfifferlinge und gewinnt andernorts neue Fundstellen hinzu: Im Lärchenforst lohnt es sich auf einmal, nach Goldröhrlingen zu suchen, und in einer bisher pilzarmen Kiefernschonung zeigen sich zum erstenmal Grüppchen von Echten Reizkern. Die Kahlschläge bieten uns auf und an den Stubben bald neue Erntemöglichkeiten, die nicht zu verachten sind.
Es ist gut, etwas über die Symbiose von Pilzen und Bäumen zu wissen. Man kann seine Aufmerksamkeit besser auf das zu erwartende Pilzangebot ausrichten, also gezielter suchen. Übertriebene Hoffnungen sollte man an seine Kenntnisse aber nicht knüpfen. Neulinge unter Pilzfreunden neigen dazu und sind fassungslos, wenn ihre Erwartungen nicht erfüllt werden. Sie können einfach nicht verstehen, weshalb »in einem so schönen Kiefernwald« kein einziger Maronenröhrling steht oder »unter so herrlichen Birken« keine Birkenpilze wachsen, obwohl ihre Zeit da ist.
Auch mir fallen beim Anblick von Birken unwillkürlich Birkenpilze ein; auch ich hoffe jedes Mal, ein paar davon zu finden, muss mich umsehen und schlau machen. Die Bilanz meiner Suchaktionen ist ausgeglichen. Ich bin ins Leere gelaufen, habe aber mitunter auch Glück gehabt.
Als ein Haupttreffer erwies sich ein Wildwuchs junger Birken bei Potthagen, nahe einer Müllkippe in einer Graslandschaft gelegen, die junge Leute mit ihren Motorrädern zu Geländefahrten benutzten und deshalb von uns »Moto-Cross-Bahn« genannt wurde. Ich will anfügen, dass sich dieser Wildwuchs mit der Zeit zu jenem kleinen Birkenwäldchen mauserte, von dem im ersten Beitrag die Rede ist. Besagter Wildwuchs garantierte einige Jahre hindurch gute Ernten an Birkenpilzen. Die Pilze verteilten sich gleichmäßig auf das ganze Terrain; wenn wir auf einem Randstück, unserer »Teststelle«, fündig wurden, war auch drin gewiss etwas zu holen. Daher bezog ich die Sicherheit, mit der ich hin und wieder einer oder einem Bekannten ankündigte: »Heute hole ich dir einen Korb Birkenpilze.« Blamiert habe ich mich dabei nie. An eine außergewöhnlich reiche Ernte in diesem Birkenwäldchen erinnere ich mich besonders gut und gern. Meiner damals sechsjährigen jüngsten Tochter oblag es, die Pilze zu putzen, die mein jüngster Sohn und ich ihr zu Füßen legten. Wir brauchten nur ein paar Schritte in die eine oder andere Richtung zu gehen, um gleich darauf mit vollen Händen zurückzukehren. Die Kleine bemühte sich sehr und schaffte auch eine ganze Menge, doch der Berg Pilze wuchs und wuchs; am Ende hatten wir alle drei noch lange zu säubern und zu verstauen. Schon im folgenden Jahr machte das Suchen größere Mühe; je mehr sich dieser Wildwuchs in ein Birkenwäldchen verwandelte, desto geringer wurde der Ertrag.
Solche »Lehrvorführungen« der Natur indizieren, dass Vorkommen, Wachstum und Fruchtbildung von Symbionten, ihr unsichtbares und sichtbares Kommen und Gehen, auch mit dem Alter der Baumbestände zusammenhängen.
Ebenso wie unsere pragmatischen Vorstellungen über die Symbiose sollten auch unsere Erwartungen an begünstigende Witterungseinflüsse, an das »Pilzwetter«, angemessen sein. Das Wetter fördert oder hemmt zweifellos insbesondere die Fruchtkörperbildung. Doch so prompt, wie oft angenommen, reagieren Pilze auf meteorologische Faktoren nicht. Nicht nach jedem warmen Regen müssen Pilze aus dem Boden schießen. Für die Fruchtkörperbildung sind vielmehr ganze Wetterabläufe mit zeitlichen Ausdehnungen von Wochen, Monaten und vielleicht sogar Jahren verantwortlich. In Mitteleuropa ist, statistisch belegt, nur jedes dritte oder vierte Jahr ein ergiebiges Pilzjahr. Außerdem folgen Großpilze einer unterschiedlichen, artspezifischen Fruktuations-Rhythmik, die selbst unter günstigsten Witterungsbedingungen bei bekannten Speisepilzen lange Phasen zwischen den Schüben bewirken kann. Der Pilzfreund muss also sowohl Enttäuschungen über »Missernten« verkraften, aber auch auf überraschende Schübe und sich daraus ergebende Probleme reagieren können.
Was tun, wenn wir bei einem Spaziergang durch Wald und Flur unerwartet auf Pilze stoßen? Nicht immer führt man Gefäße zum Sammeln und Transportieren von Pilzen mit sich. Ist der Fund umfangreich, muss aus der Situation heraus eine Lösung gefunden werden. Ich war mehrfach dazu gezwungen. Manchmal konnte ich mir nur damit helfen, ein Kleidungsstück abzulegen, zu verknoten und als Transportmittel zu benutzen.
Auf vier Rädern
Solouchin berichtet in seiner »Dritten ‚Jagd«1 über erstaunliche Pilzfunde, die ihre Entdecker ebenso freudig überraschten wie in Verlegenheit brachten, weil ihnen der Abtransport ihrer Ernte Kopfzerbrechen bereitete und Mühe machte.
So erinnert er sich an eine Situation um die Jahrhundertwende zu 1900, als die Mutter des Schriftstellers in einer Fichtenpflanzung bei Barki Reizker in Hülle und Fülle fand und mit dem Pferdefuhrwerk abfahren musste. Nach dem zweiten Weltkrieg ernteten Solouchin und seine Frau bei einer Pilzwanderung durch ein Kiefernwäldchen bei Schoschenski an die zwölf Eimer Butterpilze. Nicht, dass sie zwölf Eimer bei sich gehabt hätten! Zunächst türmten sie die Pilze zu einem großen Haufen, um sie später mit dem Auto abzuholen.
Mit so riesigen Funden wurde ich nie belohnt (oder bestraft?). Aber einmal, bei einer Familienwanderung, brauchten auch wir ein Vierradfahrzeug, um unsere Ernte einzubringen.
Ein schöner Spätsommertag hatte unsere Familie an Luft und Sonne gelockt. Unser Ziel war ein Mischwäldchen inmitten von Stoppel- und Umbruchsfeldern auf einer Anhöhe an der Freiberger Straße zwischen Frankenberg und Langenstriegis. Fichten gab es und Buchen, Ahorn und Esche, am häufigsten aber Birken. Hier hatte ich erst vor einigen Tagen mit meinen Jungen eine Laubhütte errichtet, die sich sehen lassen konnte und die wir Oma und Opa, die mit von der Partie waren, vorzeigen wollten.
Um es vorwegzunehmen: Die Laubhütte stand noch lange. Wir versahen sie mit einer Knüppelbank und besserten sie hin und wieder aus. Jedes Mal, wenn wir im Wäldchen Pilze suchten, ließen wir uns ein paar Minuten darin nieder. Durch das Gezweig konnten wir aus nächster Nähe, ohne selbst bemerkt zu werden, Meisen, Finken und Zeisige bei der Nahrungssuche und einmal ein Eichhörnchen beim drolligen Spiel beobachten. Das waren für uns Augenblicke, die etwas Feierliches an sich hatten.
Während besagter Familienwanderung wurde aber nicht unsere Hütte zur Hauptattraktion. Als wir das Wäldchen betraten und gleich von einer Schar junger Maronenröhrlinge begrüßt wurden, war das ursprüngliche Ziel unseres Ausfluges schon fast vergessen und das Pilzfieber packte uns. Wir verfügten zwar über einen mitgebrachten Beutel, um die ersten Findlinge unterzubringen, doch bald standen wir vor einem Berg von Maronenröhrlingen und Ziegenlippen, der immer noch größer wurde. Wohin damit? Die Lösung war einfach: Wir hoben unsere jüngste Tochter, die damals zwei Lenze zählte, aus ihrem Sportwagen in die Arme ihres Großvaters, und schon war der benötigte Transportraum gewonnen. Nun rührten sich große und kleine Hände, um das Gefährt mit malerisch-frischen Pilzen zu beladen. Die letzten wurden sorgfältig geschichtet, so dass unterwegs nichts verloren gehen konnte.

Der Heimweg glich einem Triumphzug.
Einige Zeit später fand dieses Ereignis in einem kleinen Gedicht, das mir ein Bekannter anlässlich meines Geburtstages widmete, Erwähnung:
»Taschen, Körbe und auch Säcke
nehmen sie mit auf die Strecke.
Und was sie nicht nach Hause tragen,
das schafft für sie der Kinderwagen.«
Ob wir an dem bewussten Tag überhaupt noch dazu kamen, unsere Laubhütte zu präsentieren, entzieht sich meiner Erinnerung. Wenig später kam sie in einem Schauspiel vor, in dem mein Vater, unser Ältester, mein Zweitältester und ich die Hauptakteure waren.
Fröhlicher Marsch
Wir vier machten uns an einem Sonntagvormittag auf den Weg zu unserem Mischwäldchen. In fast regelmäßigen Abständen blendete das Sonnenlicht auf und ab, so als ob oben jemand mit einer großen Taschenlampe spielte. Eine starke Strömung trieb unentwegt Regenwolken über uns hinweg. Manchmal riss eine davon auf und benetzte uns mit ein paar Tropfen. Aprilwetter im Oktober …
Über Feldern stiegen Drachen hoch, tauchten in tiefhängende Wolkenfetzen ein, kletterten höher hinauf, so weit die Schnüre reichten, und leuchteten da oben in grellen Farben wieder auf.
Am Ziel angelangt, nahmen wir Suchformation ein, um das Wäldchen regelrecht durchzukämmen, denn wir waren am Vortag schon hier gewesen und mussten nun aufspüren, was wir übersehen hatten, von ein paar »Neugeborenen« abgesehen. Mit fanatischem Eifer suchten wir unsere Familienpilzmahlzeit zusammen und verdrängten dabei den Umstand, dass sich der Himmel zunehmend verfinsterte und auf eine ausgiebige Entladung vorbereitete.
Wolkenbruchartig prasselten plötzlich Wassermassen auf uns. Von den jungen Bäumen kam kein Schutz, und unsere Laubhütte, die wir eiligst aufsuchten, wurde schnell durchlässig, so dass wir alle bald bis auf die Haut nass waren. Es blieb uns nichts anderes übrig, als den Heimweg anzutreten und gute Miene zum bösen Spiel zu machen, egal, ob der Regen nachlassen oder gleichbleiben würde. Da an uns ohnehin keine trockene Stelle mehr war, fiel uns das auch nicht schwer. Wir genossen den Regen, als sei er ein erfrischendes Duschbad, schlürften das Regenwasser, bespritzten uns gegenseitig und wurden dabei immer ausgelassener, lachten und lärmten und fingen gar an, Lieder zu singen, die uns gerade einfielen.