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Gymnasiallehrerinnen und -lehrer, wie auch die Lehrperson im Fallbeispiel, gehen noch oft von einer Homogenität der Lernenden aus. Die Schülerinnen und Schüler bringen jedoch auch auf der Sekundarstufe II stets individuell unterschiedliche Voraussetzungen mit und haben verschiedenartigen Lernbedarf. Auf kognitive Aspekte bezogen bedeutet dies, dass sich die Heterogenität in vier unterschiedlichen und lernrelevanten Bereichen ausdrücken kann: (1) Wissensbasis, (2) Intelligenz, (3) Motivation und (4) Metakognition (Rossbach und Wellenreuther 2002). Auch die Lehrperson nennt im Fallbeispiel Gründe für die heterogenen Leistungsvoraussetzungen: unterschiedliche Vorbildungen in Primar- und Sekundarschulen oder in den ersten Klassen des Langzeitgymnasiums; neu zusammengesetzte Klassen in bestimmten Fächern; außerschulisch erworbene Fähigkeiten usw. Diese unterschiedlichen Leistungsvoraussetzungen beziehen sich v. a. auf die Wissensbasis und sind insbesondere in den Sprachfächern bekannt, weil Schülerinnen und Schüler unterschiedlich lange Vorbereitungszeiten mitbringen. Zudem gibt es immer mehr Jugendliche, die eine andere europäische Muttersprache als Deutsch (z. B. Englisch) haben und damit Vorteile im Sprachunterricht genießen.
Ein gutes Klassenklima und Motivation als optimale Voraussetzungen
Die Lehrperson schreibt, dass das Klima in diesen Klassen sehr gut ist, dass die Schülerinnen und Schüler einander unterstützen und generell sehr motiviert und lernbegeistert sind. Somit zeichnen sich die Klassen nicht nur durch Heterogenität bezogen auf die Wissensbasis aus, sondern auch durch Homogenität hinsichtlich der Motivation und des ‹Teamgeistes›. Die Homogenität bezogen auf die Motivation und das Klassenklima bietet ideale Voraussetzungen, einen für alle Beteiligten gewinnbringenden Unterricht zu gestalten. Dabei muss aber die Heterogenität (mindestens bezogen auf die Wissensbasis) der Klasse berücksichtigt werden: Aufgabe der Lehrperson als Pädagogin ist es, Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Neigungen, Fähigkeiten, Stärken und Schwächen idealerweise gleichermaßen anzusprechen und in den Unterricht einzubinden. Dies setzt ein vielfältiges und flexibel variierbares Methodenrepertoire voraus, welches die Klasse als Ganzes wie auch die Leistungsgruppen und die Lernenden als Individuen anspricht und fördert.
Wie geht die Lehrperson mit Heterogenität um?
Die Lehrperson schildert, dass die zusätzliche und individuelle Unterstützung für die schwächeren Schülerinnen und Schüler zu einem aufwendigen Einzelcoaching außerhalb des regulären Unterrichts «mutiert», welches auf Dauer nicht aufrechterhalten werden kann. Inwiefern die Lehrperson individualisierende Methoden (siehe Lösungsansätze) im Unterricht selbst einsetzt, um die Heterogenität (zumindest stellenweise) aufzufangen, kann aufgrund der Fallbeschreibung nicht festgestellt werden.
Die Lehrperson schreibt, dass sie die schwachen Lernenden zusätzlich unterstützt, hingegen die leistungsstarken/muttersprachlichen Lernenden nicht entsprechend fördern kann. «Dies führt oft zu Unruhen», schreibt die Lehrperson. Keinesfalls darf es sein, dass die leistungsstarken Schülerinnen und Schüler nicht entsprechend ihrer Fähigkeiten unterrichtet werden und das Augenmerk ausschließlich auf Leistungsschwächere gerichtet wird. Sowohl leistungsstarke als auch leistungsschwache Lernende haben ein Anrecht darauf, entsprechend ihren Voraussetzungen innerhalb des Unterrichts gefördert zu werden (individualisierender Unterricht; siehe Lösungsansätze).
Auch ‹Native Speakers›, welche durch ihren flüssigen, korrekten und wohlklingenden Sprachausdruck beeindrucken, müssen entsprechend ihren Fähigkeiten gefördert werden. Oftmals täuscht die Beherrschung der mündlichen Sprache darüber hinweg, dass andere Lernziele – wie z. B. die Sicherheit im schriftlichen Ausdruck oder das Literaturverständnis – nicht gleichermaßen entwickelt sind und dort durchaus Lernbedarf besteht, der auch dementsprechend gefördert werden soll.
Lösungsansätze
Transparenz und respektvoller Umgang als grundlegende Prinzipien
Die Klasse muss darüber informiert werden, dass unterschiedliche Voraussetzungen vorhanden sind und entsprechend auch Lehr- und Lernformen angewendet werden, die diesen Bedingungen besser gerecht werden. Wichtig als Prinzip ist hierbei, dass weder schwächere noch stärkere Schülerinnen und Schüler für die anderen ein Grund für Unruhe, Gelächter usw. sein dürfen. Es gilt gegenseitiger Respekt. Darauf muss die Lehrperson bestehen.
Wichtig für die Lehrperson ist es zu wissen, dass sie nie wirklich allen gerecht werden kann. Aber sie kann gegenüber den Lernenden deutlich machen, was sie sich überlegt hat, damit möglichst viele zum Zuge kommen. Feedbacks einholen ist dabei besonders wichtig (kurze Rückmeldephasen am Schluss der Stunde, mündlich oder schriftlich), sodass zusätzliche Vorschläge von Schülerinnen und Schülern einbezogen werden können. Das Einzelcoaching ist auf ein Minimum zu beschränken – Lernende können sich in Partner-Lernsituationen auch gut gegenseitig helfen.
Konkrete Maßnahmen im Umgang mit heterogenen Klassenzusammensetzungen
Wenn die Lehrperson auf Heterogenität eingestellt ist, kann sie sich auch entsprechend vorbereiten. So ist es sinnvoll, Mindestkompetenzen zu definieren, die von allen erreicht werden sollen bzw. die für alle als Maßstab gelten müssen. Darüber hinaus sind aber vor allem leistungsstarke Lernende mit spezifischen Aufgaben zu fördern, damit sie die Freude am Lernen nicht verlieren (individualisierender Unterricht; siehe Dubs 2009; Gage und Berliner 1996; Gasser 2008). Dies kann in Einzel- oder Partnerarbeit erfolgen. Parallel dazu kann die Lehrperson mit dem Rest der Klasse arbeiten.
Mit Maßnahmen der Inneren Differenzierung lässt die Lehrperson die Lerngruppe als Ganzes bestehen und versucht durch entsprechende pädagogische und didaktische Vorgehensweise der Individualität der Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden: Durch unterschiedlich anspruchsvolle Lernziele (dabei die Mindestkompetenz einhaltend) und verschiedene Methoden und Medien können differenzierte Lernhilfen geboten werden (vgl. Klafki und Stöcker 2007). Alle Lernenden sollen damit das gleiche Ziel erreichen, aber auf unterschiedlich anspruchsvolle Weise.
Konkret kann dies bedeuten: Um die Niveauunterschiede auffangen zu können, wird ein und dieselbe Übungseinheit auf unterschiedlichen Levels angeboten (z. B. leicht, mittelschwer, anspruchsvoll). Nach einer kurzen Einführung erarbeiten sich die Lernenden das Thema selbstständig anhand eines Arbeitsplanes, welcher Anweisungen entsprechend der drei Schwierigkeitsgrade enthält.
Weitere individualisierende Unterrichtsmethoden, welche bei heterogenen Klassen Erfolg versprechen, aber auch viel Vorbereitung erfordern: Werkstattunterricht, Lernaufgaben, Fallstudien oder projektartige Gruppenarbeiten.
Zusammenarbeit im Kollegium
Die zu erreichenden Lernziele bis Ablauf der Probezeit sind innerhalb der Fachschaft gemäß Lehr- und Stoffplan gemeinsam festzulegen. Die Probezeit ist eine Phase, die eine besonders sorgfältige Absprache innerhalb der Fachschaft bedarf, auch was die geforderten Minimalkompetenzen und den Notenmassstab betrifft. Wo dies an der Schule nicht selbstverständlich ist, müssen die Fachlehrpersonen solche Abstimmungen bei der Schulleitung einfordern.
Die Entscheidung für Bestehen oder nicht Bestehen nach der Probezeit muss vom ganzen Klassenkollegium mit aller Vorsicht vorgenommen werden. Dabei spielt das Gesamtbild eines Schülers/einer Schülerin eine Rolle. Wichtig ist die Einschätzung, ob noch vorhandene Defizite im Laufe einiger Monate ausgeglichen werden können.
Damit das Erstellen von geeigneten Aufgaben bei individualisierenden Unterrichtsmethoden nicht zur Überlastung führt, sollte die einzelne Lehrperson sich mit mindestens einer Fachkollegin/einem Fachkollegen zusammentun, um die Lernangebote zu konzipieren und vorzubereiten bzw. die Aufgaben aufzuteilen. So kann im Laufe der Zeit ein geeigneter Stock von interessanten Lernangeboten für jedes Thema entwickelt werden.
Leistungsstarke Schülerinnen und Schüler nicht vergessen
Für gute, motivierte Schülerinnen und Schüler können häufiger Formen selbstständigen Lernens angeboten werden als für andere. Es sollen aber beide Leistungsgruppen sowohl durch direkte Instruktion als auch selbstständig lernen. Dazu kann die Klasse ab und zu geteilt werden, wobei jedoch im gleichen Raum (wie in einer Mehrklassenschule) gearbeitet wird. Ebenfalls ist es wichtig, dass für leistungsstarke Lernende weiterführende Aufgaben konzipiert werden, die herausfordernd sind und neue Lernerfahrungen erlauben. Gerade für begabte Lernende kann ein Angebot von neuen, fakultativen Themen motivierend sein.
Zur Frage der Motivation
Beim Lernen spielt in jedem Fall die Motivation der Schülerinnen und Schüler eine wichtige Rolle. Die Motivation wird erhöht, wenn Lernende Vertrauen in ihren eigenen Lernprozess gewinnen. Das Vertrauen der Schülerinnen und Schüler in ihre Fähigkeiten kann durch realistische und anspruchsvolle Ziele und Aufgaben erhöht werden, bei deren Lösung sie ihre eigenen Stärken und Schwächen kennenlernen (z. B. durch spezifische Rückmeldungen der Lehrperson und durch die Erfahrung der Lernenden, dass die gesteckten Ziele dank eigener Leistung erreicht werden können). Eine solche Erfahrung entspricht dem theoretisch beschriebenen Konzept der internal-variablen Attribution bei Erfolg und Misserfolg, wie es z. B. von Rudolph (2007) erläutert wird: Lernende schreiben ihren Erfolg bzw. Misserfolg sich selbst (internal) und ihren spezifischen (variablen) Anstrengungen zu. Dies motiviert sie, sich weiterhin anzustrengen.
Literatur
Dubs, R. (2009). Lehrerverhalten. Ein Beitrag zur Interaktion von Lehrenden und Lernenden im Unterricht. 2., vollständig neu bearbeitete Auflage. Zürich: SKV.
Edelmann, W. und Wittmann, S. (2012). Lernpsychologie. 7., vollständig überarbeite Auflage. Weinheim: Beltz PVU.
Gage, N. und Berliner, D. (1996). Pädagogische Psychologie. 5., vollständig überarbeitete Auflage. Weinheim: Beltz.
Gasser, P. (2008). Neue Lernkultur. Eine integrative Didaktik. 3. Auflage. Oberentfelden: Sauerländer.
Klafki, W. und Stöcker, H. (2007). Innere Differenzierung des Unterrichts. In: W. Klafki (Hrsg.). Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemässe Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik. 6., neu ausgestattete Auflage. Weinheim und Basel: Beltz. S. 173 –208.
Rossbach, H.-G. und Wellenreuther, M. (2002). Empirische Forschungen zur Wirksamkeit von Methoden der Leistungsdifferenzierung in der Grundschule. In: F. Heinzel und A. Prengel (Hrsg.). Heterogenität, Integration und Differenzierung in der Primarstufe (Jahrbuch Grundschulforschung Bd. 6). Opladen: Leske und Budrich, S. 44 –57.
Rudolph, U. (2007). Motivationspsychologie. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Weinheim: Beltz PVU.
Internetquelle
Bundesamt für Statistik; Bildungssystemindikatoren:
www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/15/17/blank/01.html (21.09.2015)
Mündliche Beteiligung
Titel Mündliche Beteiligung
Fach Geschichte
Schultyp Berufsmaturitätsschule (in der Fallbeschreibung Berufsmittelschule genannt)
Klassenstufe 2. Klasse/11. Schuljahr
Klassengröße 17
Zusammensetzung der Klasse 11 Schülerinnen und 6 Schüler
Ergänzende Anmerkung Keine Angabe
Beschreibung des Falles

Ich unterrichte seit neun Jahren Geschichte an einer Berufsmittelschule. Berufsmittelschüler haben zwei Jahre Geschichtsunterricht, abgedeckt wird die Zeit von der Aufklärung bis in die Gegenwart. Ein großes Problem ist die mündliche Beteiligung, besonders bei Detailhandels-BM [Berufsmaturitäts]-Klassen. Eine Detailhandels-Berufsmittelschulklasse absolvierte jeweils am Freitagmorgen die ersten zwei Lektionen. Die Sitzwahl ist zwar nicht vorgegeben, aber es ergab sich, dass in der hufeisenförmigen Sitzordnung von mir aus gesehen fünf Mädchen auf der linken Seite nebeneinander sitzen, die sich mündlich am Unterricht nicht beteiligen wollen. Es zeigte sich ohnehin, dass sich nur etwa 20 – 25 % der Klasse regelmäßig mündlich beteiligen. 3 – 4 Schüler/innen beteiligten sich fast immer, d. h. konstant, zwei bis drei weitere nach Lust und Laune. Der Rest – insbesondere die erwähnte linke Reihe – war auch nach mehrmaligem Nachhaken nicht zum Mitmachen zu bewegen. Die Schüler/innen wussten zwar, dass sich die mündliche Beteiligung notenmäßig auf die Semesternote auswirken würde, dieser ‹Druck› verleitete die Mädchen aber auch nicht zur aktiven Beteiligung. Auch der Hinweis, dass die Berufsmatur eine mündliche Prüfung sei und es von Vorteil sei, im Unterricht dafür zu ‹trainieren›, konnte die Schüler/innen nicht zum Mitmachen animieren. Es zeigte sich auch, dass die Qualität jener Antworten auf Fragen, die ich den Mädchen spontan stellte, ungenügend war. Die Antworten der Mädchen auf die Frage, warum sie sich nicht am Unterricht beteiligen, lauteten u. a.: Geschichte interessiert mich nicht, ich habe im Unterricht noch nie mündlich mitgemacht, auch in anderen Fächern nicht, die Fragen sind zu schwierig usw. Der Großteil der Klasse war allerdings mit dem Unterricht zufrieden, wie sich bei einem eingeholten Feedback herausstellte.

Was fällt auf?

Die Lehrperson unterrichtet seit neun Jahren Geschichte an einer Berufsmaturitätsschule. Laut ihrer Erfahrung ist die mündliche Beteiligung generell ein großes Problem, besonders aber bei den Detailhandels-Berufsmaturitäts-Klassen.
Die Lehrperson beschreibt einen bestimmten Fall, an dem sie die Probleme der mündlichen Beteiligung in Detailhandels-BM-Klassen exemplarisch verdeutlicht.
Der Unterricht der besagten Klasse findet jeweils am Freitagmorgen statt. Die Klasse sitzt in einer Hufeisenform, die Platzwahl ist frei. Auf der linken Seite der Hufeisenform sitzen fünf Mädchen, denen die Lehrperson unterstellt, sie wollten sich mündlich nicht am Unterricht beteiligen. Sie ergänzt, ohnehin würden sich «nur etwa 20 bis 25 Prozent der Klasse regelmäßig mündlich beteiligen». Drei bis vier Schülerinnen und Schüler beteiligen sich in der Wahrnehmung der Lehrperson konstant, zwei bis drei weitere «nach Lust und Laune». Vom «Rest», die linke Reihe eingeschlossen, berichtet die Lehrperson, dass die Schülerinnen und Schüler «auch nach mehrmaligem Nachhaken nicht zum Mitmachen zu bewegen» seien. Die Ausdrucksweise legt nahe, dass es die Lehrperson viel Kraft kostet, die mündliche Beteiligung vermehrt über die ganze Klasse zu verteilen. Auch das Wissen, dass sich die mündliche Beteiligung «notenmäßig auf die Semesternote auswirken würde», worin die Lehrperson einen gewissen «Druck» sieht, «verleite» die Mädchen nicht zur aktiven Beteiligung. Mit dieser Aussage stehen wiederum die Mädchen auf der linken Seite im Fokus, die in der Wahrnehmung der Lehrperson eine Gruppe mit gruppenkonformem Verhalten (sich nicht mündlich am Geschichtsunterricht zu beteiligen) zu bilden scheinen. Auch der Hinweis, dass es von Vorteil sei, den mündlichen Unterricht als Trainingsmöglichkeit für die mündliche Berufsmatur zu nutzen, kann «nicht zum Mitmachen animieren». Die Lehrperson beschreibt den mündlichen Unterricht als eine Situation, in der sie mit verschiedenen Lockmitteln sozusagen zum Mitspielen anregen will. Ein eigentliches pädagogisches Ziel der mündlichen Beteiligung bleibt dabei unausgesprochen.
Die bis zu diesem Punkt des Falles beschriebene mangelnde mündliche Beteiligung bezieht sich auf die Quantität der Wortmeldungen. Wie beiläufig kommt die Lehrperson in einem einzigen Satz auf die Qualität der Antworten zu sprechen: Wenn sie den Mädchen in der linken Reihe spontan Fragen stellte, waren die Antworten «ungenügend». Ob das wirklich jedes Mal zutraf und wie die Lehrperson auf die ungenügenden Antworten reagierte, schreibt sie nicht, auch nicht, wie sie die Fragen gestellt hat und um welchen Schwierigkeitsgrad es sich bei den Fragen handelte. Dass es für die Schülerinnen eher schwierig ist, aus dem Stegreif heraus eine sprachlich und inhaltlich qualitativ hochstehende Antwort zu geben, ist nachvollziehbar.
Die Lehrperson schildert zum Schluss, dass sie die Mädchen auf die mangelnde Mitarbeit anspricht, wobei nicht klar wird, ob sie sie direkt vor der Klasse, nach dem Unterricht, als Gruppe oder einzeln anspricht. Die dokumentierten Antworten der Mädchen beziehen sich einerseits auf den Unterricht («die Fragen sind zu schwierig»), auf ein fachunabhängiges Verhalten («ich habe im Unterricht noch nie mündlich mitgemacht, auch in anderen Fächern nicht») oder auf ein mangelndes inhaltliches Interesse («Geschichte interessiert mich nicht»). Die Lehrperson hat diese Aussagen offenbar einfach zur Kenntnis genommen, ohne mit den Schülerinnen weiter über ihre Erfahrungen mit mündlicher Beteiligung zu sprechen. Zusätzlich holt die Lehrperson ein Feedback ein. Sie stellt fest, dass der «Großteil der Klasse […] allerdings mit dem Unterricht zufrieden war». Auf welche Weise dieses Feedback erhoben wurde, ob es sich um eine mündliche oder schriftliche generelle Einschätzung oder eine Befragung anhand eines Fragebogens mit vorgegebenen Kriterien handelte, beschreibt die Lehrperson nicht.
Das Problem der mangelhaften mündlichen Beteiligung aus der Sicht der Lehrperson wird von den Schülerinnen und Schülern nicht negativ beurteilt, vielleicht auch nicht einmal wahrgenommen. Für sie steht vermutlich im Vordergrund, ob der Unterricht interessant ist.
Was ist das Problem?
Das Fallbeispiel beschreibt die mangelhafte mündliche Beteiligung von Lernenden im Geschichtsunterricht. Bei einer hufeisenförmigen Sitzordnung wird die linke Reihe von fünf Mädchen gebildet, die sich auch durch Nachhaken nicht mündlich am Unterricht beteiligen wollen. Lediglich drei bis vier Schülerinnen und Schüler sind aktiv, zwei bis drei weitere «nach Lust und Laune». Für die Nichtbeteiligung am Unterricht geben die Schülerinnen verschiedene Gründe an. Obwohl die mündliche Mitarbeit benotet wird und am Ende der Schulzeit eine mündliche Abschlussprüfung bevorsteht, können die Schülerinnen nicht zum Mitmachen bewegt werden. Wie ein Feedback zeigt, ist der Großteil der Klasse mit dem Unterricht zufrieden.
Zwei Probleme lassen sich erkennen:
–Die Vorstellung der Lehrperson von einem guten mündlichen Unterricht deckt sich nicht mit der Vorstellung der Lernenden von gutem Unterricht.
–Was ist ein guter mündlicher Unterricht und wie lässt er sich umsetzen?
Erklärungsansätze und Hintergründe
Annahmen der Lehrperson über die «Detailhandels-BM-Klasse»
Die Lehrperson sieht die mangelnde mündliche Beteiligung als besonders großes Problem bei Detailhandels-BM-Klassen. Es ist denkbar, dass sie oft ähnliche Erfahrungen mit früheren Klassen gemacht hat. Vielleicht aber findet sie die mündliche Beteiligung bei dieser Berufsrichtung auch ausgesprochen wichtig und wünscht sich deshalb eine besonders gute Beteiligung. Die Art und Weise, wie sich die Lehrperson ausdrückt, lässt ein Vorurteil vermuten: Detailhandels-Klassen beteiligen sich immer mangelhaft am mündlichen Unterricht.
Einflüsse auf die mündliche Beteiligung der Schülerinnen und Schüler im Unterricht
So wie die Erfahrungen der Lehrperson latent als Vorurteil in den Unterricht einfließen, so gilt dies auch für die Lernenden: Ihre Erfahrungen mit dem mündlichen Unterricht dürften einen direkten Einfluss auf ihre Beteiligung bzw. Nichtbeteiligung im Unterricht haben («ich habe im Unterricht noch nie mündlich mitgemacht, auch in anderen Fächern nicht»). Weitere Faktoren, die einen Einfluss auf das Verhalten im mündlichen Unterricht haben können, sind: persönliche Einstellung gegenüber dem von der Lehrperson gewünschten Verhalten; wahrgenommene Schwierigkeit, dieses Verhalten ‹korrekt› auszuführen; Annahme über die Akzeptanz oder Ablehnung des gezeigten Verhaltens durch andere, z. B. die Mitschülerinnen und -schüler oder die Lehrperson (vgl. hierzu die «Theorie des geplanten Verhaltens» [Ajzen und Fishbein 1977; Tonglet, Phillips und Read 2004]).
Gründe für die Nichtbeteiligung am Unterricht aus der Perspektive der Lernenden
Die Schülerinnen beschreiben verschiedene Gründe, warum sie sich nicht am Unterricht beteiligen:
–«Geschichte interessiert mich nicht»: Diese Aussage kann einerseits eine bequeme Rechtfertigung sein, sich dem Unterricht entziehen zu können, oder ein echtes Interesse fehlt tatsächlich. Bei einem fehlenden Interesse können eine Vielzahl von Faktoren dafür verantwortlich gemacht werden: z. B. mangelndes Sachinteresse; mangelnde Selbstwirksamkeit; fehlende Relevanz des Inhalts für die Schülerin; Kritik an der Qualität des Unterrichts, die zu einem tiefen situationsbedingten Interesse beiträgt (siehe Krapp 1992, 2002 zum Interessenbegriff).
–«Die Fragen sind zu schwierig»: Wenn die Schülerin die Fragen als zu anspruchsvoll erlebt, geht dies mit der Erfahrung einher, dass ihre Fähigkeiten und ihr Wissen ungenügend sind, um die Fragen beantworten zu können. In der Folge sinkt die Anstrengungsbereitschaft (Wahl et al. 2001). Vielleicht will sie sich auch nicht exponieren und benützt die angebliche Schwierigkeit der Fragen als Ausrede.
Denn im mündlichen Unterricht wird das Können oder Nichtkönnen direkt für andere sichtbar.
Es gibt weitere Gründe, warum sich Lernende kaum oder gar nicht am mündlichen Unterricht beteiligen. Darüber sprechen die Lernenden im Fallbeispiel allerdings nicht.
Überlegen Sie für sich selbst: Melden Sie sich gerne und jederzeit bei einer Diskussion in einer Seminar-Veranstaltung oder in einem großen Plenarraum vor versammelter Zuhörerschaft? Mussten Sie sich im Studium ab und zu oder dauernd überwinden, um ein Votum abzugeben? Oder gehören Sie zu denjenigen, die lieber zuhören?
Gründe für eine passivere Rolle können sein: Angst, sich zu exponieren; Angst, ausgelacht zu werden; Angst vor den besseren Leistungen anderer; Angst vor Misserfolg; Scheu, vor anderen zu sprechen; Bescheidenheit. Es kann von Lernenden, die sich nicht freiwillig melden, nicht sicher gesagt werden, ob sie etwas nicht können, sich nicht getrauen, nicht motiviert sind oder andere Gründe haben. Eine Nichtbeteiligung darf somit niemals gleichgesetzt werden mit Nichtkönnen.
Zur Frage der Qualität von Antworten im mündlichen Unterricht
Die Lehrperson schreibt in einem einzigen Satz, dass die Schülerinnen auf spontan gestellte Fragen nur Antworten von ungenügender Qualität geben. Worauf sich die mangelnde Qualität bezieht, die inhaltliche Sachkenntnis oder die Formulierung, beschreibt sie nicht. Ebenso erläutert sie nicht, was sie unter einer guten Antwort versteht. Wie die Lehrperson auf die ungenügenden Antworten reagiert, geht ebenfalls nicht aus der Beschreibung hervor. Wenn Schülerinnen und Schüler ungenügende Antworten geben, ist zunächst danach zu fragen, wie die Fragen gestellt werden: Entspricht das Anforderungsniveau den Lernenden? Ist die Frage interessant genug für die Lernenden, um sich konzentriert damit zu befassen? Ist die Frage klar genug gestellt? Welche Erwartungshaltung geht aus der Art der Fragestellung hervor? Sollen die Lernenden mit einem Wort, einem Satz, einer längeren Erklärung antworten? Nimmt sich die Lehrperson die Zeit, die Schülerin ausreden zu lassen, oder erwartet sie lediglich ein Stichwort? In der Reaktion auf die Antwort kann die Lehrperson ebenfalls verschiedene Verhaltensweisen zeigen: Sie kann eine Antwort einfach als falsch taxieren, sie kann eine andere Schülerin oder einen anderen Schüler aufrufen, sie kann die Frage in eine besser verständliche Form umformulieren, sie kann nachfragen, wie die Schülerin die Frage verstanden hat; sie kann aber auch mangelhafte Antworten aufgreifen und gemeinsam mit der Schülerin und/oder anderen Lernenden eine gute Antwort entwickeln.






