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Aber auf Dauer ist das kein Land für einen notorischen Kaffeehausliteraten aus Wien: „Ich sehne mich nach Gelegenheiten, irgendwo außer Haus allein eine Stunde bei einem Glas Bier, einer Tasse Café sitzen zu können. Aber diese Gelegenheiten gibt es hier nicht. Ein Restaurant, ein Caféhaus nach unserem europäischen Geschmack sind hier unbekannt“, schreibt er wenig später. Je länger Polgar in Los Angeles lebt, desto bitterer werden seine Briefe: „Ich fühle mich grenzenlos einsam, völlig beziehungslos zu der neuen Welt, in die mich die alte vertrieben hat“, notiert er 1941 kurz vor seinem ersten Herzinfarkt.
Alfred Polgar kann im Magazin „Esquire“ einige Artikel unterbringen, sein sehnlicher Wunsch, auch im „New Yorker“ veröffentlicht zu werden, erfüllt sich nicht. Der Versuch, gemeinsam mit Friedrich Torberg eine deutschsprachige Ausgabe des „Time“-Magazins herauszugeben, kommt über eine Probenummer nicht hinaus. Torberg und Polgar hatten geplant, das Magazin nach der Niederlage Hitlers auch in Deutschland zwecks Umerziehung des vom Nationalsozialismus benebelten Volkes erscheinen zu lassen.
Zu den Partys in Almas Salon ist Polgar nicht geladen – er hätte eine Einladung wohl auch abgelehnt. In der Ersten Republik war er immer auf der Seite der Linken gestanden, die Freundlichkeiten, die Alma und Franz Werfel nach 1934 mit den austrofaschistischen Machthabern austauschten, hatten auch ihn empört.
Am schmerzlichsten sind die Jahre im kalifornischen Exil aber wohl für Heinrich Mann, den älteren Bruder des gefeierten Thomas. Heinrich Mann war in der Weimarer Republik ein Großer der deutschen Literaturszene gewesen. Sein Roman „Der Untertan“, erschienen unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, rechnete schonungslos mit dem kriecherischen Opportunismus der bürgerlichen Gesellschaft im wilhelminischen Kaiserreich ab. Die narbenübersäten Burschenschafter, die krähenden Kriegshetzer, die dumpfe Bourgeoisie, die rücksichtslosen Ausbeuter – an ihrem Beispiel beschrieb er den Wilhelminismus.
Darin unterschied er sich deutlich von seinem jüngeren Bruder Thomas, der 1914 wie viele Intellektuelle im Krieg etwas Reinigendes, etwas Erhabenes gesehen hatte und erst nach der Katastrophe die Wurzeln des Unheils erkannte.
Heinrich Mann schloss sich schon während des Weltkriegs dem linken Flügel der Sozialdemokraten an. 1932 erwog die SPD, ihn bei der Reichspräsidentenwahl aufzustellen, entschied sich dann aber schweren Herzens, den reaktionären Amtsinhaber Paul von Hindenburg zu unterstützen, um den ebenfalls kandidierenden Adolf Hitler zu verhindern.
Heinrich Mann setzte noch im Februar 1933 – Hitler war seit zwei Wochen Reichskanzler – alles daran, SPD und KPD zu einer Einheitsfront gegen die totale Machtübernahme der Nazis zu überreden. Einen von ihm sowie von dem Physiker Albert Einstein und der Malerin Käthe Kollwitz unterzeichneten Aufruf zur Bildung eines letzten Aufgebots gegen die Nazis ließ die Gruppe mutig auf Plakatwänden in deutschen Städten anbringen. Vergebens: Stalin untersagte den deutschen Kommunisten jede Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten. Diese seien ebenfalls Faschisten, lautete die aus Moskau vorgegebene Parole, „Sozialfaschisten“ eben.
Und jetzt sitzt dieser tapfere Demokrat, wache Geist und gefeierte Autor Heinrich Mann, der bis zuletzt Hitler die Stirn geboten hatte, in einem Hollywood-Studio und niemand interessiert sich für ihn und seine Arbeit. Erst wenige Jahre zuvor, 1930, war sein Roman „Professor Unrat“ in Berlin mit Marlene Dietrich unter dem Titel „Der blaue Engel“ verfilmt worden. Es war erst der zweite deutsche Tonfilm, die Besucher stürmten die Kinos. Aber hier im ihm so fremden Westen der USA muss Heinrich Mann von dem Geld leben, das ihm sein erfolgreicher jüngerer Bruder Thomas ab und an zusteckt.
Dazu kommen seine privaten Sorgen.
Heinrich Mann war vor der Flucht aus Deutschland gerne durch die Berliner Bars gezogen. So hatte er 1929 die Animierdame Nelly Kröger kennengelernt. Sie war die Tochter eines holsteinischen Fischers und politisch ebenfalls von linker Gesinnung. Das gefiel Heinrich. Bald waren die beiden ein Paar. Nelly war 30, Heinrich Mann nahezu 60. 1933 flohen sie wenige Tage nach Hitlers Machtergreifung gemeinsam nach Frankreich. In der südfranzösischen Künstlerkolonie Sanary-sur-Mer mieteten sie eine Wohnung, die bodenständige Nelly war in dem Städtchen überaus beliebt. Besonderen Anklang fanden die groben Seemannslieder, die Nelly gemeinsam mit dem aus seinem dänischen Exil zu Besuch angereisten Bertolt Brecht in großer Runde zum Besten gab.
Nach Hitlers Frankreich-Feldzug flohen Heinrich und Nelly im Spätsommer 1940 nach Spanien. Die junge Frau schleppte den fast 70-Jährigen über die steile Buschlandschaft der Pyrenäen. Von Spanien ging es nach Lissabon, von dort nach New York und bald darauf mit all den anderen nach Hollywood, wo nun auch der alte Heinrich Mann diesen demütigenden Dienst im Filmstudio ableisten musste.
Thomas Mann, er lebt mit seiner Frau Katia ganz in der Nähe, in Pacific Palisades im Norden von Los Angeles, lehnte Nelly von Beginn an ab: Eine Fischerstochter aus Holstein – so eine passte seiner Ansicht nach gar nicht in eine Familie, die von Lübecker Kaufleuten und Senatoren abstammt. Außerdem hatte sie es gewagt, ihn, den Nobelpreisträger für Literatur, bei Tisch zu unterbrechen. Einmal, so wird erzählt, habe sie zu einer Party geladene Gäste betrunken und splitternackt empfangen. Thomas Mann bezeichnet seine Schwägerin manchmal als „die schreckliche Trulle“ oder „die arge Hur“. Seine Frau Katia nennt sie nur „das Stück“.
Weil das Geld knapp ist, nimmt Nelly einen Job als Nachtschwester in einem Krankenhaus in Los Angeles an. Und sie trinkt. Sie trinkt sogar viel und wird immer wieder bei Verkehrskontrollen angehalten, das knappe Familienbudget wird durch das Bußgeld noch mehr belastet. Nach einem im Suff verursachten Unfall unternimmt sie im Jänner 1944 einen Selbstmordversuch. Aus der psychiatrischen Klinik, in die man sie einliefert, schreibt Nelly an ihren Mann: „Ich kann nicht denken an das, was ich die letzten zwei Jahre gelitten habe, und nur weil ich in meiner tiefsten Demütigung ein Glas Wein zu viel getrunken habe und oft betrunken war, habe ich nicht ganz meinen Verstand verloren. Nun will ich leben!“
Aber der Entzug misslingt. Nelly gibt auf. Im Dezember 1944 stirbt sie nach Einnahme einer Überdosis Schlaftabletten. Heinrich Mann ist verzweifelt. Zum Trost gibt ihm sein Bruder Thomas Geld, damit er wenigstens seine Möbel aus dem Pfandhaus holen kann. „Sie hat ihm viel Schaden getan. Er ist in Tränen um eine ruinöse Gefährtin“, schreibt Thomas Mann am Tag der Beerdigung Nellys in sein Tagebuch.
Auch Nellys Sangesfreund aus den Tagen in Südfrankreich ist in Los Angeles eingetroffen – und das auf höchst abenteuerlichen Wegen: Bertolt Brecht kam nicht über den Atlantik, wie die anderen Geflüchteten, sondern über den Pazifik. Mit seiner Frau, der Wiener Schauspielerin Helene Weigel, und den beiden Kindern war er nach Hitlers Machtübernahme zuerst aus Deutschland in sein Haus im dänischen Svendborg geflohen und nach der Besetzung Dänemarks durch die Wehrmacht über Schweden und Finnland in die Sowjetunion. Die Brechts durchquerten das Land mit der Transsibirischen Eisenbahn, in Wladiwostok schifften sie sich nach Kalifornien ein. Die Nazis verfolgten die beiden aus unterschiedlichen Gründen: Brecht ist Kommunist, Helene Weigel Jüdin.
In Santa Monica trifft Bertolt Brecht bald auf alte Bekannte aus Berlin und ist entsetzt: „Döblin und Mann hier zu sehen, ist anstrengend. Sie sind mehr als erfolglos. Heinrich Mann hat nicht das Geld, sich einen Arzt zu rufen, und sein Herz ist verbraucht. Sein Bruder, mit einem Haus, 4 bis 5 Autos, läßt ihn buchstäblich hungern“, schreibt Brecht in sein „Arbeitsjournal“, wie er sein literarisches Tagebuch nennt.
Aber auch er kann nicht wirklich Fuß fassen, Kalifornien bleibt ihm fremd, er findet sogar sein Exil in Dänemark interessanter: „Die geistige Isolierung hier ist ungeheuer, im Vergleich zu Hollywood war Svendborg ein Weltzentrum.“ Immerhin verfasst Brecht 1943 gemeinsam mit dem aus Wien stammenden Regisseur Fritz Lang das Drehbuch zum Film „Hangmen Also Die!“. Es basiert lose auf Ereignissen in Prag ein Jahr zuvor. Dort hatten Widerstandskämpfer den SS-Statthalter Reinhard Heydrich ermordet, das hatte blutige Vergeltungsmaßnahmen der Nazis zur Folge. Die Filmmusik stammt vom Wiener Hanns Eisler, wie Bertolt Brecht und Fritz Lang ein Flüchtling. Auch die meisten Schauspieler sind Emigranten.
Aber das ist es auch schon für Brecht, zu Hollywood passt er nicht. Er hat allerdings vor der Flucht mit seiner „Dreigroschenoper“ so prächtig verdient, dass sich die Familie in ein schmuckes kalifornisches Holzhaus mit vier Schlafzimmern und einem großen Arbeitsraum einmieten kann.
Zu den Partys bei den Werfels ist natürlich auch Brecht nicht eingeladen, der „Kommunist“, wie ihn die anderen hinter vorgehaltener Hand nennen.
Er trägt es wohl mit Fassung. Thomas Mann, den Dauergast bei Alma, kann er ohnehin nicht ausstehen. Brecht verabscheut die von Mann vertretene Kollektivschuld-These. Als Mann einmal schreibt, die Alliierten sollten „Deutschland zehn oder zwanzig Jahre lang züchtigen“, und gar meint, „eine halbe Million muss getötet werden in Deutschland“, nennt ihn Brecht in seinem „Arbeitsjournal“ ein „Reptil“ und fügt ironisch hinzu, das deutsche Volk müsse sich vor allem dafür rechtfertigen, „daß es nicht nur die Untaten des Hitlerregimes, sondern auch die Romane des Herrn Mann geduldet hat – die letzteren ohne 20 bis 30 SS-Divisionen über sich.“
Thomas Mann hält von Brecht politisch ebenso wenig wie der von ihm, er gibt jedoch zu: „Das Scheusal hat Talent.“
Einer der Stammgäste in Almas Salon hat Brecht ins Visier genommen: Friedrich Torberg. Er trifft ihn öfter, ist von seiner Intelligenz fasziniert und „erschrocken von seiner raffinierten Art des Diskutierens“. Torberg, geboren in der Wiener Porzellangasse, ist entschlossener Antikommunist. Das hat auch das FBI mitbekommen, das sich ständig in Emigrantenkreisen umhört. 1943 bekommt Torberg den Auftrag, ein Dossier über Brechts politische Ausrichtung anzufertigen. Torberg liefert.
Die Feste bei Alma Mahler-Werfel werden nun seltener: Franz Werfel hat schwere gesundheitliche Probleme. Am 13. September 1943, wenige Tage nach seinem 53. Geburtstag, erleidet er einen Herzinfarkt, den er knapp überlebt. Im Frühjahr 1944 zieht auch noch sein Freund Torberg nach New York.
Aber Alma und Franz Werfel streiten jetzt weniger, sie ist eine fürsorgliche Übermutter mit entsprechenden Reflexen: „Trotz der Herzschwäche blüht jetzt seine Sexualität wieder auf“, schreibt sie im Herbst 1944 in ihr Tagebuch. „Da ich Angst um ihn habe und vor allem vor den großen Schmerzen, die er seit Jahren nach einer Liebesfreude bekommt, such’ ich ihn abzulenken, was ihn aber irritiert. Seit zwei Tagen sagt er fortwährend: ‚Ich geh in ein Puff, um mich zu reizen!‘. Seine Augen hängen an jeder Weibsgestalt mit unstillbarer Gier.“ Er sei eigentlich schon immer so gewesen, meint Alma, „darum ist er heute so fertig“.
Sie führt Werfels Herzleiden also auf Triebhaftigkeit zurück.
Ausgerechnet Alma!
Beim Komponisten Alexander Zemlinsky hatte sie in den 1890er-Jahren als sehr junge Frau nicht nur Musikstunden genommen und danach den um fast 30 Jahre älteren Direktor der Wiener Hofoper Gustav Mahler geheiratet. Noch zu Lebzeiten Mahlers begann sie ein Verhältnis mit dem Berliner Architekten Walter Gropius, ging dann aber eine leidenschaftliche Beziehung mit dem jungen Maler Oskar Kokoschka ein („Wir haben uns aneinander wund gerieben“). Kokoschka war ihr völlig verfallen, dennoch heiratete sie 1915 Walter Gropius. Gropius war noch in den Schützengräben an der Frankreich-Front, als Alma den um elf Jahre jüngeren Franz Werfel kennenlernte. Sie ließ sich von Gropius scheiden und heiratete Werfel. 1932, da war sie 54, lernte sie den um 16 Jahre jüngeren Priester Johannes Hollnsteiner kennen, den Beichtvater und Vertrauten von Justizminister Kurt Schuschnigg, dem späteren Bundeskanzler. Alma mietete für die Treffen mit dem Geistlichen eine kleine Wohnung, wo sie ihn mit Champagner und Kaviar bewirtete.
Almas Tochter Anna aus der Ehe mit Gustav Mahler erinnerte sich später: „Sie hat ihn gefragt, wie das nun also ist mit der Keuschheit. Da hat er ihr erklärt, das mit der Keuschheit, das ist immer nur, während man das (den Talar; Anm.) anhat. Sonst ist es gar nicht notwendig.“
Aber jetzt stößt sich Alma an der „Triebhaftigkeit“ des schwer kranken Franz Werfel und führt sogar sein Herzleiden darauf zurück.
Zur Jahreswende 1944/45 hat sich Franz Werfels Zustand so weit gebessert, dass er Zeit in seinem Schreibquartier in Santa Barbara zubringen kann. Alma ist anstrengend, im Haus an der Küste ist er ungestört.
Dann kommt der Frühling und der Krieg in Europa ist zu Ende.
New York/Wien 1945/46
DREI FLÜCHTLINGE HABEN HEIMWEH
Karl Farkas, Hermann Leopoldi und Robert Stolz, große Unterhaltungsstars der Zwischenkriegszeit, sind mit knapper Not dem Tod entronnen. Jetzt planen sie die Rückkehr nach Wien, haben aber Bedenken.
Am Tag, an dem Adolf Hitler in seinem Führerbunker Selbstmord begeht, am 30. April 1945, feiert Karl Farkas seinen größten Triumph: Er tritt in der berühmten New Yorker Carnegie Hall auf. „Vienna at Night“ heißt die Operette, deren Libretto er zur Musik von Johann Strauß geschrieben hat. Er spielt selbst mit.
Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet der Spaßmacher aus dem Wiener Kabarett „Simpl“ in den USA einschlägt? Man hätte nicht einmal hoch darauf gewettet, dass es Farkas überhaupt nach New York schafft. Es war ja tatsächlich knapp, die Gestapo war hinter ihm her.
Mit dem letzten Zug war er im März 1938 aus Wien in die Tschechoslowakei entkommen, sein Freund und kongenialer „Simpl“-Partner Fritz Grünbaum schaffte es nicht mehr über die Grenze. Er versteckte sich noch einige Wochen in Wien, dann wurde er an die Gestapo verraten. „Den Grünbaum haben wir!“, jubelte die Wiener Nazi-Presse.
Farkas und Grünbaum waren Hassobjekte der braunen Machthaber: „Sie setzten die neuen Einrichtungen des nationalsozialistischen Deutschlands in der perfidesten Art herunter. In ihren krampfhaften und geistlosen Witzen machten sie selbst vor den führenden Männern des neuen Deutschlands nicht halt“, höhnte der „Völkische Beobachter“, nachdem Farkas geflohen und Grünbaum ins KZ verschleppt worden war.
Als sich die Nazis anschickten, auch die Tschechoslowakei zu besetzen, flüchtete Farkas nach Paris. Seine Frau Anny und sein zehnjähriger Sohn Robert („Bobby“) kamen nach. Aber bald zeichnete sich ab, dass Nazi-Deutschland in absehbarer Zeit auch über Frankreich herfallen würde. Nun blieb ihnen nur noch die Flucht nach Übersee. Doch auch dieser Weg war versperrt: Das amerikanische Konsulat in Paris teilte der Familie Farkas ohne Umschweife mit, dass sie keine Visa bekommen würde. Robert hatte als Kleinkind eine Gehirnhautentzündung und war seither geistig behindert – und an Behinderte und Kranke wurden keine US-Visa ausgegeben. Schweren Herzens fuhren Anny und Robert zurück nach Wien und dann nach Bresnitz, ein kleines Dorf in Südböhmen, in dem Annys Eltern lebten.
Karl Farkas schlug sich mit Auftritten in Pariser Cafés durch. Als die Wehrmacht im September 1939 über Polen herfiel und das mit Polen verbündete Frankreich damit formal im Kriegszustand mit Deutschland war, wurde Farkas wie alle deutschen und österreichischen Flüchtlinge im wehrfähigen Alter in ein französisches Internierungslager gesteckt. Auch im Lager spielte er Kabarett.
Wenige Monate später marschierte die Wehrmacht in Belgien, den Niederlanden und Frankreich ein. Die meisten der in Lagern Internierten wurden vor der Ankunft der SS-Fahnder freigelassen und flohen ins noch unbesetzte Südfrankreich. In der Christnacht des Jahres 1940 überstieg Farkas die Pyrenäen Richtung Spanien und fuhr dann mit der Bahn nach Portugal. Er war jetzt 47.
Im Zielort Lissabon angekommen, spielte er wieder Kabarett. Da die Transatlantik-Schiffe New York wegen der U-Boot-Gefahr nicht mehr anliefen, ging es im Jänner 1941 auf einem der letzten Kähne, die sich noch auf den Atlantik wagten, zuerst nach Kuba und von dort entlang der US-Küste nach Norden.
Karl Farkas war auf hoher See, als sein Freund und Partner Fritz Grünbaum nach langen Qualen am 14. Jänner 1941 im Konzentrationslager Dachau starb. Nach dem Krieg wird man das Farkas nachtragen und nicht den Nazis. Er habe sich nicht um ihn gekümmert, heißt es im Mundfunk.
Auf Ellis Island im Hafen von New York wurde Karl Farkas sofort interniert: Er hatte ja kein Affidavit, also keine Garantieerklärung von amerikanischen Gastgebern, die sich bereit erklärten, im Notfall für seinen Lebensunterhalt aufzukommen. Die US-Grenzbehörden drohten, ihn mit dem nächsten Schiff zurück nach Europa zu schicken. Bereits in die USA geflohene Freunde, eilig zusammengetrommelt vom Autor Alexander Roda-Roda – er war auf demselben Schiff wie Farkas nach New York gekommen –, erlegten 5000 Dollar Kaution (nach heutiger Kaufkraft etwa 85.000 Euro) und bekamen ihn frei.
Farkas machte sofort wieder, was er an seinen früheren Fluchtorten gemacht hatte: Er spielte in kleinen Cafés und Theatern Kabarett, um auf eigenen Beinen stehen zu können.
Ein Jahr nach seiner Ankunft in den USA bekam er eine kleine Rolle in einem Emigrantentheater: In „Die letzten Tage der Menschheit“ gab Karl Farkas einen Reporter. Dann trat er im „Zigeunerbaron“ auf und als „Frosch“ in der „Fledermaus“.
Es lief gut für den Flüchtling Farkas, es gab ja Publikum. In Yorkville rund um Manhattans 86. Straße war ein deutschsprachiger Stadtteil gewachsen. Hier lebten Zuwanderer aus Deutschland und Österreich, die bald nach der Jahrhundertwende gekommen waren. Vor den Nazis geflohene Neuankömmlinge fanden das Stadtviertel als Ersatzheimat und siedelten sich ebenfalls hier an.
Der aus Wien vertriebene Komponist Emmerich Kálmán schrieb 1944 in New York eine Operette mit dem Titel „Marinka“, in der es um Kronprinz Rudolf und dessen Ende in Mayerling ging. Karl Farkas arbeitete am Libretto mit. Das Stück lief 32 Wochen lang am berühmten „Winter Garden“-Theater am Broadway.
Und nun, Ende April 1945, also der Auftritt in der Carnegie Hall.
Farkas ist einer der wenigen, die es in den USA geschafft haben, aber er leidet, weil er seit fünf Jahren keinen Kontakt mit seiner Familie hat. In Paris hatten Anny und Karl Farkas 1940 vor der Trennung einen damals beliebten Schlager von Tino Rossi ins Herz geschlossen: „J’attendrai“ („Ich werde warten“):
„J‘attendrai
Le jour et la nuit
J‘attendrai, toujours
Ton retour.“
Sie hatten zwei Platten gekauft und jeder der beiden spielte die seine in diesen fünf Jahren der Trennung wohl Hunderte Male.
Ende August 1945 erreicht Karl endlich der erste Brief seiner Frau. Sie erzählt ihm von den harten Kriegsjahren im südböhmischen Dorf und von Sohn Bobby, der jetzt 17 ist: „Er ist größer geworden, größer als Du. Er ist ein Kind, lieblich und gut gewachsen. Er ist mehr aktiv geworden, aber das ist für ihn und seine Umgebung nicht günstig. Manchmal lacht er grundlos. Er spricht, aber meist nur Dummheiten. Und immer dieselbe Sache.“
Beide Schwestern Karls wurden ermordet, schreibt Anny. Aus der Familie Farkas hat nur eine nach London geflüchtete Nichte den Terror der Nazis überlebt. Die letzte Zeile des Briefs lautet: „Deine Anny, die sehr müde ist.“
Karl Farkas will nicht zurück nach Wien, in die Stadt, aus der man seine Familie und seine Freunde in Vernichtungslager verschleppt hat, um sie dort umzubringen, nicht in dieses Trümmerfeld. Er will, dass Anny und Bobby nach New York kommen, hier hat er Erfolg, hier werden sie gut leben.
Aber der Plan zerschlägt sich rasch. Bobby hat mit seiner Behinderung auch nach dem Krieg keine Chance, die strengen Gesundheits-Checks auf Ellis Island im Hafen von New York zu bestehen. Und in einem Heim wollen die Eltern ihren Sohn nicht zurücklassen. Karl Farkas entschließt sich schweren Herzens zur Rückkehr nach Wien. An Anny schreibt er: „Ich weiß, es ist eine Dummheit New York gegen Wien einzutauschen, ich weiß, daß ich nie mehr im Leben solche Angebote und soviel Geld haben werde.“ Und noch etwas anderes quält ihn: „Glaubst Du, daß ich in Wien arbeiten könnte? Wie ist die Einstellung gegenüber den Juden und den Flüchtlingen?“
Die Frage kommt nicht von ungefähr. Karl Farkas weiß, dass die Nazi-Presse eine üble und absurde Kampagne gegen ihn und andere bekannte Emigranten geführt hat.
Gleich nach seiner Flucht hatte die Wiener Ausgabe des „Völkischen Beobachters“ geschrieben: „Im Stadttheater konnte man vom Schnürboden aus die widerlichsten Szenen beobachten, zu denen Farkas Girls und arme Schauspielschülerinnen zwang. Wer sich seinen Wünschen entgegenstellte, flog unweigerlich aus dem Vertrag.“ 1941 „jiddelte“ das Nazi-Blatt sogar, um Farkas zu diskreditieren: „Die Neuyorker können stolz darauf sein, was ihnen ihr jüdischer Präsident Roosevelt für einen jüdischen Misthaufen mitten in Neuyork aufgeschichtet hat: Hermann Leopoldi, die Comedian Harmonists und – endlach ist er bei saine Lait – der ‚geistvolle‘ Karl Farkas, das jüdische Brechmittel.“ Immer wieder erinnert der „Völkische Beobachter“ an „die widerliche Grimasse Karl Farkas“.
Farkas will nun also durchaus zu Recht wissen, wie die Einstellung der Österreicher zu Juden und zu ihm selbst ist. Annys Antwort ist nicht ermutigend: „Du fragst mich, ob Du noch ein Publikum hättest? Ich glaube, daß sich alles sehr verändert hat. Die Dichter und Denker wurden getötet oder vertrieben. Und die anderen? Ich glaube nicht mehr an das goldene Wienerherz. Sie waren so böse und ich habe Angst, daß sich ihre Meinung nicht geändert hat.“
Karl Farkas hat in New York mit einem anderen, in Friedenszeiten noch berühmteren Österreicher eng zusammengearbeitet, mit dem Komponisten und Dirigenten Robert Stolz.
Stolz, ein gebürtiger Grazer, ist bei Kriegsende 65. In Deutschland und Österreich war er vor seiner dramatischen Flucht ein großer Star. An jeder Straßenecke wurden seine Schlager gesungen: „Adieu, mein kleiner Gardeoffizier“, „Zwei Herzen im Dreivierteltakt“ und natürlich „Im Prater blüh’n wieder die Bäume“. Stolz schrieb das Lied 1916, als er mit den „Deutschmeistern“ im Biergarten „Schweizerhaus“ im Wiener Prater aufspielte.
Als Hitler 1933 die Macht in Deutschland übernahm, arbeitete Robert Stolz gerade in Berlin an der Musik zu Tonfilmen, eine aufregende Neuerung, die ihn fesselte. Er war kein Jude, hatte nichts zu befürchten. Im Gegenteil: Das NS-Regime hätte sich gern mit ihm, dem beliebten Komponisten und Dirigenten, geschmückt. Aber Robert Stolz verachtete die Nazis und ihre Führer.
In den folgenden Jahren brachte er immer wieder jüdische Freunde aus Deutschland über die Grenze nach Österreich. Stolz versteckte sie unter den Rücksitzen seiner Gräf & Stift-Limousine. Seinen Chauffeur ließ er zur Tarnung ein Hakenkreuz-Fähnchen am Kotflügel aufstecken.
Die Grenzposten kontrollierten den Promi nicht, sie salutierten.
Im März 1938 floh Robert Stolz wie viele seiner Freunde von Wien nach Paris. Nach Kriegsbeginn im September 1939 wurde auch er interniert – in einem Fußballstadion nahe der Hauptstadt.
Der Komponist, er war jetzt 59, hatte kurz zuvor eine ebenfalls aus Wien geflohene polnische Jüdin namens Yvonne Louise Ulrich kennengelernt. Sie war 24 und betreute Emigranten. Joseph Roth brachte sie Rotwein, der ebenfalls von ihr umsorgte Operettenkomponist Paul Abraham nannte sie „Einzi“, die Einzige, die sich um die Flüchtlinge aus Wien kümmert.
Robert Stolz wurde von Einzi das Leben gerettet. Durch ihre guten Beziehungen gelang es ihr, den an einer Lungenentzündung Erkrankten im November 1939 aus dem Stadion freizubekommen. Die Rettungsaktion mündete in eine Lebensliebe. Im März 1940 verließen Robert Stolz und Einzi auf einem von Genua auslaufenden Transatlantik-Schiff Europa.






