Nils Holgerssons wunderbare Reise

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Lange Jahre hatte niemand daran gedacht, nach dem Bruderteil zu suchen. Aber unter den gesetzlosen Männern, die nach dem großen Kupferberg kamen, waren mehrere, die größeren Wert auf Abenteuer legten als auf ihr Leben, und sie durchstreiften die Gegend, in der Hoffnung, es zu finden.
Wie es allen den Suchenden erging, das weiß niemand, aber wir haben eine Erzählung von zwei Grubenarbeitern, die eines Abends spät zu ihrem Herrn heimkehrten und erzählten, sie hätten eine große Erzader im Walde gefunden. Sie hatten den Weg dahin bezeichnet, und am nächsten Tage wollten sie ihrem Herrn den Fund zeigen. Aber der nächste Tag war ein Sonntag, und der Herr wollte an dem Tage nicht in den Wald gehen und nach Erz suchen, statt dessen ging er mit seinem ganzen Hausstand zur Kirche. Es war im Winter, und sie gingen über den See Barpan zur Kirche. Auf dem Hinwege ging alles gut, auf dem Heimwege aber fielen die beiden Knechte in eine Wake und ertranken. Da mußten die Leute wieder an die alte Sage von dem Bruderteil denken, und sie sagten, es sei gewiß das, was die Knechte gefunden hatten.
Um die Schwierigkeiten in der Grube zu überwinden, kamen die Bergleute auf den Gedanken, Ausländer, die der Grubenarbeit kundig waren, ins Land zu berufen, und diese ausländischen Meister lehrten sie, Grubenwinden zu bauen, die das Wasser herauspumpten und das Erz heraufwanden. Die Fremden schenkten der Sage von den Riesenweibern keinen rechten Glauben, aber sie fanden es höchst wahrscheinlich, daß sich irgendwo in der Nähe eine mächtige Erzader befand, und sie suchten eifrig danach. Und eines Abends kam ein deutscher Grubenvogt in das Wirtshaus zur Grube und erzählte, er habe das Bruderteil gefunden. Aber der Gedanke an die großen Reichtümer, die ihm jetzt zufallen würden, machte ihn ganz wild und verwirrt. Er veranstaltete noch am selben Abend ein großes Gastmahl, trank und tanzte und würfelte; schließlich geriet er in Streit und Prügelei, und einer seiner Zechgenossen jagte ihm ein Messer in den Leib.
In den großen Kupferberg wurde immer soviel Erz gegraben, daß die Grube für die reichste Kupfergrube in aller Welt Ländern galt. Nicht nur die nächste Umgegend zog Vorteil aus ihren großen Reichtümern, sondern die Schätze, die man dort förderte, wurden in schwerer Zeit zu einer großen Hilfe für das Land Schweden. Die Grube war schuld daran, daß die ganze Stadt Falun gebaut wurde, und man betrachtete die Grube als so merkwürdig und von so hohem Nutzen, daß alle Könige nach Falun reisten, um sie zu sehen, und sie nannten sie Schwedens Glück und die Schatzkammer des Svea-Reiches.
Wenn man bedenkt, wie große Reichtümer die alte Grube ans Tageslicht gefördert hatte, kann man sich nicht wundern, daß diejenigen, die glaubten, daß sich ganz in der Nähe ein doppelt so großer Kupferschatz befinde, sich darüber grämen mußten, daß sie seiner nicht habhaft werden konnten. Viele setzten ihr Leben aufs Spiel, um danach zu suchen, erreichten aber nichts dadurch.
Einer der letzten, die den Schatz sahen, war ein junger Bergmann aus Falun aus guter, reicher Familie. Er verliebte sich in ein schönes Bauermädchen aus Leksand und ging hin, um sie zu freien, aber sie lehnte es ab, ihn zu heiraten, weil sie nicht in Falun wohnen wollte, wo der Rauch aus Röstöfen und Schmelzhütten so schwer drückend über der Stadt lag, daß ihr schon ganz unheimlich zumute wurde, wenn sie nur daran dachte.
Der Bergmann liebte sie glühend, und als er heimkehrte, war er tief betrübt. Er hatte sein ganzes Leben in Falun gewohnt, und es war ihm niemals eingefallen, daß es schwer sein könne, dort zu wohnen. Aber als er sich jetzt der Stadt näherte, erschrak er. Aus der großen Grubenöffnung, aus den Hunderten von Röstöfen rings um sie herum stieg der dicke, erstickende Schwefelrauch auf und hüllte die ganze Stadt in Nebel. Der Rauch hinderte die Pflanzen zu gedeihen, so daß die Erde in weitem Umkreis kahl und nackend dalag. Die Schmelzhütten, in denen das Feuer glühte, und die von schwarzen Schlackenhaufen umgeben waren, sah er überall, nicht nur in der Stadt und ihrer nächsten Umgebung, sondern über die ganze Gegend zerstreut. Sie lagen bei Grycksbro, bei Bengtsarc, bei Bjerggaarden, bei Stennässek, bei Kovsnäs, in Vita und ganz weit hin bis Aspeboda. Er sah ein, daß wer gewohnt war, am blanken Siljen, im Sonnenschein und zwischen grünen Bäumen zu leben, hier nicht gedeihen konnte.
Der Anblick der Stadt machte ihm das Herz noch schwerer, als es schon im voraus war. Er hatte keine Lust, gleich nach Hause zu gehen, sondern bog vom Wege ab und ging in den Wald hinein. Da wanderte er den ganzen Tag umher, ohne acht zu geben, wohin er kam.
Als es abend wurde, erblickte er plötzlich einen Berg, der wie Gold schimmerte. Als er genauer zusah, entdeckte er eine mächtige Ader aus Kupfererz. Anfänglich freute er sich über seine Entdeckung, aber dann fiel ihm ein, daß dies vielleicht das Bruderteil sei, das so viele ins Verderben gestürzt hatte, und da wurde er bange. ›Heute bin ich wirklich vom Unglück verfolgt,‹ sagte er. ›Vielleicht wird es mir nun das Leben kosten, daß ich diesen Reichtum gefunden habe.‹ Er kehrte sofort um und begab sich auf den Heimweg. Als er eine Strecke gegangen war, begegnete ihm eine große, starke Frau. Sie glich einer gebieterischen Bergmannsgattin, aber er konnte sich nicht entsinnen, sie je zuvor gesehen zu hüben.
›Ich möchte wohl wissen, was du im Walde gemacht hast!‹ sagte die Frau. ›Ich habe dich den ganzen Tag hier umherstreifen sehen.‹ – ›Ich habe mich nach einem Bauplatz umgesehen,‹ sagte der Bergmann,›denn das Mädchen, das ich lieb habe, will nicht in Falun wohnen.‹ – ›Ist es nicht deine Absicht, Erz in dem Kupferberg zu brechen, den du vorhin gefunden hast?‹ fragte sie weiter. ›Nein,‹ sagte der Bergmann, ›ich bin gezwungen, den Bergbau aufzugeben, sonst kann ich die nicht bekommen, die ich lieb habe.‹ – ›Ja, bleibe du nur dabei,‹ sagte die Frau, ›dann wird dir kein Leid geschehen.‹
Mit diesen Worten verließ sie ihn. Er aber beeilte sich, das zur Wahrheit zu machen, was er notgedrungen gesagt hatte. Er gab den Bergbau auf und baute sich einen Hof weit von Falun entfernt. Und dann hatte die, die er lieb hatte, nichts dagegen, zu ihm zu ziehen.«
Hiermit endete der Rabe seine Geschichte. Der Junge hatte sich wirklich die ganze Zeit wachgehalten, aber er hatte das Werkzeug nicht sonderlich fleißig gebraucht.
»Und wie ging es denn später?« fragte er, als der Rabe zu sprechen aufhörte. »Ja, seit der Zeit ging es mit dem Kupferwerk zurück. Die Stadt Falun ist ja noch da, aber alle die alten Schmelzofen sind weg. Die ganze Gegend ist übersät mit alten Bergmannshüten, aber die Bewohner sind gezwungen, Landleute oder Waldbesitzer zu werden. In der Grube Falun ist fast kein Erz mehr. Es ist wirklich dringender denn je nötig, daß man das Bruderteil findet.«
»Ich möchte wohl wissen, ob jener Bergmann der letzte war, der es gesehen hat,« sagte der Junge.
»Sobald du ein Loch in die Wand gehauen und mich hinausgelassen hast, will ich dir erzählen, wer es zuletzt gesehen hat,« sagte Bataki.
Das versetzte dem Jungen einen Anstoß und sofort ging er eifriger an die Arbeit. Es war ihm, als habe Bataki es in einem wunderlichen, bedeutungsvollen Ton gesagt. Es klang fast, als wenn er dem Jungen zu verstehen geben wollte, daß er, der Rabe, den großen Kupferberg gesehen habe. Sollte es eine Bedeutung haben, daß er ihm die Geschichte erzählt hatte?
»Du bist gewiß viel hier in der Gegend umhergereist,« sagte der Junge, um Klarheit über die Sache zu erlangen. »Du hast sicher allerlei gefunden, wenn du hier so über die Wälder und Berge dahingeschwebt bist.«
»Ja, ich könnte dir merkwürdige Dinge zeigen, sobald du mit deiner Arbeit fertig bist,« antwortete der Rabe.
Der Junge begann so eifrig zu hauen, daß die Späne um ihn herumflogen. Jetzt war er ganz sicher, daß der Rabe das Bruderteil gefunden hatte. »Es ist wirklich ein Jammer, daß ein Rabe wie du keine Freude von dem Reichtum haben kann, den du gefunden hast,« sagte er.
»Ich will nicht mehr über die Sache reden, bis ich sehe, daß du ein Loch in die Wand hauen und mir hinaus helfen kannst,« sagte der Rabe.
Der Junge arbeitete, so daß das Eisen brennend heiß wurde. Batakis Worte waren nicht mißzuverstehen. Der Rabe konnte ja nicht selbst Erz brechen, und daher war es gewiß seine Absicht, Niels Holgersen die Entdeckung zu überlassen. Das war ja das Wahrscheinlichste wie auch das Vernünftigste. Aber wenn er nun das Geheimnis erfuhr, so wollte er, sobald er wieder Mensch wurde, hierher zurückkehren und den großen Schatz heben. Und wenn er Geld genug verdient hatte, wollte er ganz Vestre Vemmenhöy kaufen und dort ein Schloß, so groß wie Vittskövle erbauen, und dann wollte er eines Tages dem Häusler Holger Nielsen und seiner Frau eine Einladung senden, zu kommen, und das Schloß zu besehen. Und wenn sie dann dahergegangen kamen, wollte er auf der Treppe stehen und sagen: »Bitte schön! Tretet näher und tut, als wenn ihr zu Hause seid!« Und sie erkannten ihn natürlich nicht und wunderten sich, was für ein feiner Herr das sein könne, der sie eingeladen hatte. »Möchtet ihr nicht gern in so einem Hause wohnen?« wollte er dann sagen. – »Ja, natürlich, aber das ist nichts für uns,« würden sie antworten. »Freilich ist es etwas für euch; ihr sollt ja dies Gute haben als Zahlung für den weißen Gänserich, der euch im vergangenen Jahr weggeflogen ist,« würde er dann sagen. – Der Junge gebrauchte das Eisen schneller und schneller. Das nächste, wozu er sein Geld gebrauchen würde, war, ein neues Haus auf der Heide in Sunnerbo für das Gänsemädchen Aase und den kleinen Mads zu bauen. Viel schöner und größer als das alte, natürlich. Und dann würde er den ganzen Tåkern kaufen und ihn den Enten geben, und dann...
»Jetzt muß ich sagen, daß es dir schnell von der Hand geht,« sagte der Rabe. »Ich glaube, das Loch ist schon groß genug.«
Es gelang dem Raben wirklich, sich hindurchzuklemmen. Der Junge folgte ihm und sah Bataki in einer Entfernung von wenigen Schritten auf einem Stein sitzen.
»Nun will ich mein Versprechen dir gegenüber einlösen, Däumling,« sagte Bataki sehr feierlich, »indem ich dir erzähle, daß ich das Bruderteil gesehen habe. Aber ich will dir nicht raten, danach zu suchen, denn es hat mir jahrelange Arbeit gekostet, ehe ich es entdeckte.«
»Ich glaubte, du wolltest mir erzählen, wo es ist, als Lohn dafür, daß ich dich aus der Gefangenschaft befreit habe,« sagte der Junge.
»Du mußt sehr schläfrig gewesen sein, wahrend ich von dem Bruderteil erzählte,« sagte Bataki. »Sonst hättest du dir keine solche Hoffnungen machen können. Hast du denn nicht beachtet, daß alle, die etwas darüber aussagten, wo das Bruderteil zu finden sei, ins Unglück gerieten? Nein, mein Freund, Bataki hat lange genug auf der Erde gelebt, um zu lernen, daß man seinen Mund halten muß.«
Damit erhob er die Flügel und flog davon.
Akka stand dicht bei der Schwefelsiederei auf dem Felde, aber es währte ziemlich lange, bis der Junge rief, daß sie kommen und ihn holen solle. Er war mißmutig und niedergeschlagen, weil er um die großen Reichtümer betrogen war. Er fand, er habe gar keinen Grund, fröhlich zu sein. »Ich glaube, die Geschichte mit den Riesenweibern ist nicht wahr,« sagte er zu sich selbst, »und ich glaube auch nicht an die Wölfe und an die Waken, aber ich glaube, wenn arme Grubenarbeiter die große Erzader mitten in dem wilden Walde fanden, so wurden sie so verwirrt vor Freude, daß sie sie hinterher nicht wiederfinden konnten. Und ich glaube, die Enttäuschung ist so schwer für sie gewesen, daß sie das Leben nicht zu ertragen vermochten. So, glaube ich, verhält sich die Sache.«
XXX. Der Walpurgisabend
Es gibt einen Tag im Jahre, auf den sich alle Kinder in Dalarna fast ebensosehr freuen als auf den Weihnachtsabend, und das ist die Walpurgisnacht, wo sie Feuer im Freien abbrennen dürfen.
Viele Wochen vorher denken Knaben und Mädchen an nichts weiter, als Feuerung für die Walpurgisfeuer zu sammeln. Sie gehen in den Wald hinaus und suchen trockne Reiser und Tannenzapfen, sie sammeln bei dem Tischler Späne und bei dem Holzhauer Holzstückchen und Baumrinde und Holzknorren. Sie gehen jeden Tag zum Kaufmann und betteln um alte Kisten, und ist einer unter ihnen so glücklich gewesen, eine leere Teertonne zu ergattern, so versteckt er sie wie seinen größten Schatz und wagt nicht eher damit zum Vorschein zu kommen, als im letzten Augenblick, kurz ehe die Feuer angezündet werden sollen. Die dünnen Reiser, die man als Stütze für Erbsen und Bohnen benutzt, sind sehr begehrt, ebenso alle alten, umgewehten Zaunpfähle, alle zerbrochenen Gerätschaften und alle Heureiter, die draußen auf dem Felde vergessen sind.
Wenn der große Abend kommt, haben die Kinder in jedem Dorf einen großen Haufen Zweige und Reiser und alle möglichen brennbaren Gegenstände bereitgelegt, entweder auf einem Hügel oder auch unten am User eines Sees. In einzelnen Dörfern ist nicht zu einem einzelnen Reisigfeuer zusammengetragen, sondern es erheben sich zwei, ja oft drei große Holzhaufen. Es kann ja vorkommen, daß sich die Knaben und Mädchen nicht beim Reisigsammeln haben einen können, oder auch die Kinder, die in dem südlichen Ende des Dorfes wohnen, wollen das Feuer bei sich haben, und darauf können die, die am nördlichen Ende wohnen, nicht eingehen, und dann müssen sie jedes ihr eigenes Feuer haben.
Die Holzstöße sind in der Regel schon rechtzeitig am Nachmittag fertig, und dann gehen alle Kinder mit Streichhölzern in der Tasche herum und warten darauf, daß es dunkel werden soll. Es ist um diese Jahreszeit so schrecklich lange hell in Dalarna. Um acht Uhr fängt es kaum an zu schummern. Es ist kalt und ungemütlich, draußen herumzugehen und zu warten, denn es ist noch halbwegs Winter. Auf allen Rodeäckern und offenen Feldern ist der Schnee getaut, und mitten am Tage, wenn die Sonne hoch am Himmel steht, fühlt er sich ganz warm an, aber im Walde liegen noch große Schneeschanzen, das Eis bedeckt die Seen und des Nachts sind oft viele Grad Kälte. Daher kann es auch geschehen, daß hier und da ein Feuer angezündet wird, ehe es richtig dunkel ist. Aber nur die kleinsten und ungeduldigsten Kinder übereilen sich so. Die Großen warten, bis es so dunkel ist, daß sich die Feuer ordentlich ausnehmen können.
Dann kommt endlich der rechte Augenblick. Jeder, der auch nur an einzelnes kleines Reis zu dem Holzstoß beigetragen hat, ist zur Stelle, und der älteste von den Knaben zündet ein Bündel Stroh an und schiebt es unter den Reiserhaufen. Sofort fängt das Feuer an zu arbeiten; es knittert und sprüht in dem Holz, die dünnsten Zweige werden feuerrot, der Rauch kommt wogend daher, schwarz und drohend. Und schließlich schlägt die Flamme aus der Spitze des Reisighaufens empor, hoch und klar, hebt sich plötzlich viele Ellen hoch in die Höhe, so daß man sie in der ganzen Gegend sehen kann.
Wenn die Feuer eine Weile gebrannt haben, kommen die Erwachsenen und die Alten, um sie sich anzusehen. Aber die Feuer sind nicht nur schön und strahlend, sie verbreiten auch eine lebhafte Wärme, und es lockt sie, sich auf Steine und Grasbüschel ringsumher zu setzen. Da sitzen sie und starren in die Flammen hinein, bis es jemand von ihnen einfällt, daß man doch jetzt, wo man ein so herrliches Feuer hat, ein wenig Kaffee kochen kann. Während der Kaffeekessel singt, kann es wohl geschehen, daß der eine oder der andere eine Geschichte zu erzählen beginnt, und wenn der erste fertig ist, setzt gleich ein anderer fort.
Die Erwachsenen denken hauptsächlich an den Kaffee und die Geschichten, die Kinder denken daran, das Feuer zu hellem Brennen zu bringen und es lange zu unterhalten. Es ist dem Frühling schrecklich schwer geworden, das Eis aufzubrechen und den Schnee zu schmelzen. Es wäre schön, wenn sie ihm ein wenig mit ihrem Feuer helfen könnten. Sonst kann der Frühling unmöglich rechtzeitig den Frost aus der Erde entfernen und das Knospentreiben der Bäume fördern.
***
Die Wildgänse hatten sich auf das Eis des Siljan gestellt, um zu schlafen, und da es von Norden her arg zog, sah sich der Junge gezwungen, unter den Flügel des weißen Gänserichs zu kriechen. Aber er hatte noch nicht lange dagelegen, als er durch den Knall eines Büchsenschusses geweckt wurde. Sofort ließ er sich auf die Erde gleiten und sah sich erschreckt um.
Draußen auf dem Eise, da, wo die Gänse lagen, war es ganz still. Wieviel er auch guckte und spähte, konnte er keinen Jäger sehen. Als er aber nach dem Lande hinübersah, erblickte er etwas so Merkwürdiges, daß er glaubte, es sei eine Art Spuk, den er sah, etwas Ähnliches wie Vineta oder der Gespenstergarten bei Stora Djulö.
Am Nachmittag waren die Wildgänse mehrmals über den großen See hin und her geflogen, ehe sie sich entschließen konnten, wo sie sich niederlassen wollten. Und im Fluge hatten sie ihm die großen Kirchen und Dörfer gezeigt, die am Ufer lagen. Er hatte Leksand, Rättvik, Mora, die Söllerö gesehen. Die Kirchdörfer waren so groß wie kleine Städte, und er hatte sich darüber gewundert, daß es hier im Norden so stark bebaut war. Er fand die ganze Gegend viel heller und freundlicher, als er es sich vorgestellt hatte, und er hatte nichts Unheimliches oder Gefahrdrohendes gesehen.
Aber nun, in der dunklen Nacht, flammte an diesen kleinen Ufern ein großer Kranz von hohen Feuern auf. Er sah sie in Mora, an dem nördlichen Ende des Sees leuchten und auf dem Gipfel des Söllerö, in Vikarbyen, auf den Bergen oberhalb Sjurberg, auf der Kirchlandzunge bei Nättvik und weiter auf Odder und Höje, ganz nach Leksand hinab. Er konnte über hundert Feuer zählen, und es war ihm ganz unmöglich, zu begreifen, wo die hergekommen waren, wenn da nicht Zauberei oder Spuk mit im Spiel war.
Die Wildgänse waren auch bei dem Schuß erwacht, aber sobald Akka einen Blick auf das Ufer geworfen hatte, sagte sie: »Das sind die Menschenkinder, die spielen.« Und sofort steckten sie und die anderen Gänse den Kopf unter den Flügel und schliefen wieder ein.
Aber der Junge stand da und sah die Feuer an, die das Ufer gleich einer langen Reihe goldener Kleinodien schmückten. Licht und Wärme lockten ihn ebenso stark, wie sie eine kleine Mücke anziehen, und er hatte die größte Lust, näher heranzugehen, aber er wußte nicht, ob er es wagen könne, die Gänse zu verlassen. Er hörte einen Schuß nach dem anderen, und da er nun begriffen hatte, daß keine Gefahr im Anzug war, lockte ihn auch das. Es schien, als wären sie so munter dort bei den Feuern, daß es für sie nicht genug war, zu lachen und zu rufen, sie mußten auch noch die Flinten zu Hilfe nehmen und schießen. Und dort bei einem Feuer, das auf einem Berge brannte, schossen sie Raketen ab. Sie hatten da ein großes Feuer, und es lag hoch oben, aber das genügte ihnen nicht. Es sollte noch schöner sein. Bis ganz hinauf in den Wolken des Himmels sollte es zu sehen sein, wie fröhlich sie waren.
Der Junge näherte sich ganz langsam dem Ufer, aber da drang Gesang bis zu ihm hinaus. Jetzt begann er auf das Land zu zu laufen. Er mußte wirklich mit dabei sein!
Ganz am Ende der Rättviker Bucht geht eine ungeheuer lange Dampferbrücke in das Wasser hinaus, und an der äußersten Spitze dieser Brücke stand eine Schar Sänger und sang in der späten Nachtstunde über den See hinaus. Es war, als glaubten sie, daß der Frühling so wie die wilden Gänse draußen auf dem Eis des Siljans schlafe, und als wollten sie ihn wecken.
Die Sänger begannen mit: »Ich weiß ein Land im hohen Norden«, und dann folgte: »Gar schön ist der Lenz, wenn die Erde sich freut!« darauf: »Nach Tuna geht der Marsch«, »Mannheit, Mut und freie Männer«, und schließlich: »In Dalarna wohnten, in Dalarna wohnt«. Es waren alles Lieder, die von Dalarna handelten. Auf der Dampferbrücke brannte kein Feuer, und die Sänger konnten sich nicht weit umsehen. Aber mit den Tönen stieg das Bild ihres Landes vor ihnen und vor allen, die sie hörten, klarer und schöner auf, als wenn es heller, lichter Tag gewesen wäre. Es war gleichsam, als wollten sie den Frühling rühren: »Sieh doch nur, welch schönes Land da liegt und auf dich wartet! Willst du uns denn nicht zu Hilfe kommen? Willst du den Winter wirklich noch lange seinen Druck auf diese schönen Gegenden legen lassen?«
So lange der Gesang währte, stand Niels Holgersen da und lauschte, als er aber verstummte, eilte er an Land. Ganz am Ende der Bucht war das Eis aufgetaut, aber da waren viele Sandbänke, so daß er doch glücklich nach einem Feuer hinüber gelangte, das am Ufer selbst lag. Mit großer Vorsicht schlich er so nahe heran, daß er die Menschen sehen konnte, die um das Feuer saßen und standen; er konnte sogar hören, was sie sagten. Und wieder mußte er sich verwundern, was es wohl sein könne, das er sah, und er fragte sich, ob es wohl etwas anderes sei als eine Vision. Nie zuvor hatte er Menschen so gekleidet gesehen. Die Frauen hatten schwarze spitze Mützen auf dem Kopf, sie trugen kleine, weiße Pelzjacken, rosa Tücher um den Hals, grünseidene Taillen und schwarze Röcke, deren Vorderbahn mit weißen, roten, grünen und schwarzen Streifen quer durchzogen war. Die Männer hatten runde, niedrige Hüte, blaue Röcke mit rotumrandeten Säumen, gelbe Lederhosen, die bis an die Knie reichten und mittels roter, mit Quasten verzierter Strumpfbänder befestigt waren. Er wußte nicht, ob die Kleidung allein schuld daran war, aber er fand, die Leute hier sahen ganz anders aus als anderswo, viel vornehmer und stattlicher. Er hörte, daß sie miteinander sprachen, aber lange konnte er nichts verstehen. Er mußte an die seinen Trachten denken, die seine Mutter in ihrer Truhe hatte, und die niemand seit undenklichen Zeiten mehr hatte tragen wollen, und ihm kam der Gedanke, ob dies nicht etwa Leute aus der Vergangenheit seien, die in den letzten hundert Jahren nicht lebend auf der Erde gewandelt waren. Aber das war nur so ein Gedanke, der ihm durch den Kopf flog und gleich wieder weghuschte, denn er sah sehr wohl, daß es lebende Menschen waren, die er hier vor sich hatte. Die Sache war die, daß die Bevölkerung um den Siljansee in Sprache und Kleidung und im Wesen mehr von entschwundenen Zeiten bewahrt haben, als die Bewohner anderer Gegenden. Daher war er auf solche Gedanken gekommen.
Der Junge bemerkte sofort, daß die Leute, die um das Feuer saßen, von alten Zeiten redeten. Sie erzählten, wie es ihnen in ihren jungen Jahren ergangen war, als sie lange Wege nach anderen Landschaften wandern mußten, um denen daheim durch ihre Arbeit Brot zu verschaffen. Er hörte mehrere Erzählungen, aber am besten entsann er sich später dessen, was eine alte Frau erlebt hatte.
Moor-Kirstens Geschichte.
»Vater und Mutter hatten einen kleinen Hof in Ostbürka, aber wir waren viele Geschwister, und die Zeiten waren schwer, so sah ich mich denn mit sechzehn Jahren genötigt, von Hause fortzugehen. Wir zogen von dannen, zwanzig junge Leute aus Rättvik. Es war im Jahre 1845, am 16. April, als ich zum ersten Mal nach Stockholm ging. In meinem Beutel hatte ich einige Brote, ein Kalbsvorderblatt und ein wenig Käse. Die ganze Reisekasse betrug vierundzwanzig Schilling. Die anderen Vorräte, die ich mitbekommen, hatte ich in den ledernen Sack gelegt, den ich mit einem Arbeitsanzug auf einem Bauernwagen vorausgeschickt hatte.
So gingen wir denn alle zwanzig den Weg nach Falun. Wir pflegten fünf, sechs Meilen am Tage zurückzulegen, und wir erreichten Stockholm nach sieben Tagen. Das war etwas anderes, als sich in den Zug zu setzen, wie es die Mädchen heutzutage tun, und in acht, neun Stunden so überaus bequem dahinzufahren.
Als wir in Stockholm einzogen, riefen die Leute einander zu: ›Seht, da kommt das Dal-Regiment.‹ Es klang auch so, als käme ein ganzes Regiment dahermarschiert, wenn wir auf unseren Schuhen mit den hohen Absätzen, in die der Schuster nicht weniger als fünfzehn große Nägel hineingeschlagen hatte, die Straße entlang gingen. Es geschah nicht selten, daß mehrere von uns strauchelten und fielen, weil wir nicht daran gewöhnt waren, auf den spitzen Pflastersteinen zu gehen.
Wir zogen in das Dal-Wirtshaus, ›das weiße Roß,‹ das auch ›Södermalen‹ in der Stora Badstugata lag. Die Leute aus Mora wohnten in derselben Straße in einem Wirtshaus, das ›Store Krone‹ hieß. Nun handelte es sich ja darum, schleunigst Arbeit zu bekommen, denn von den vierundzwanzig Schillingen, die ich von Hause mitgenommen hatte, waren nicht mehr als achtzehn übrig. Eins von den anderen Mädchen sagte, ich solle zu einem Rittmeister gehen, der bei Hornstutt wohne, und nach Arbeit fragen. Dort blieb ich vier Tage; ich sollte in seinem Garten graben und pflanzen. Vierundzwanzig Schilling erhielt ich als Tagelohn; für Essen mußte ich selbst sorgen. Ich bekam nicht viel zu essen, aber die kleinen Mädchen meiner Herrschaft, die sahen, wie ärmlich es mit mir bestellt war, liefen in die Küche und baten um Essen für mich, so daß ich mich doch satt essen konnte.