Nils Holgerssons wunderbare Reise

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Dann kam ich zu einer Frau in der Norrlandsgata. Dort bekam ich eine elende Kammer, und die Mäuse nahmen meine Mütze und mein Halstuch weg und nagten ein Loch in meinen ledernen Beutel, so daß ich ihn mit einem alten Stiefelschaft sticken mußte, den ich mir verschaffte. Da hatte ich nicht mehr als vierzehn Tage Arbeit, und dann mußte ich mit zwei Talern in der Tasche wieder nach Hause gehen.
Ich ging über Leksand heim und lag ein paar Tage in einem Dorf, das Ronnäs hieß. Ich entsinne mich noch, daß die Leute dort Suppe aus Hafermehl kochten, das sie mit Spreu und Kleie zusammen mahlten. Sie hatten nichts weiter, und das mußte in den Tagen der Hungersnot heruntergleiten.
Ja, das Jahr war gerade nicht zum Prahlen, aber die nächsten Jahre mußte ich noch mehr Widerwärtigkeiten erdulden. Ich war ja gezwungen, wieder von Hause zu gehen, denn sonst hätten die daheim nichts zu leben gehabt. Ich ging zusammen mit zwei Mädchen nach Hudiksvall, und es waren fünfunddreißig Meilen bis dahin. Den ganzen Weg mußten wir mit dem Ledersack auf dem Rücken gehen, denn diesmal hatten wir keinen Wagen, mit dem wir ihn hätten schicken können. Wir hatten gehofft, Gartenarbeit bekommen zu können, aber als wir dahin kamen, lag überall hoher Schnee, so daß keine derartige Arbeit zu finden war. Dann ging ich aufs Land in die Bauerhöfe hinein und bat so eindringlich, man möge mir etwas zu tun geben. Ach, herrjemine, wie hungrig und müde war ich schließlich, bis ich an einen Hof kam, wo ich bleiben und für acht Schilling den Tag Wolle kratzen durfte! Aber späterhin im Frühling bekam ich Arbeit in den Gärten in der Stadt, und da blieb ich bis zum ersten Juli. Dann aber befiel mich ein solches Heimweh, daß ich mich auf den Weg nach Rättvik machte. Ich war ja erst siebzehn Jahre alt, müßt ihr bedenken. Meine Schuhe hatte ich durchgelaufen, so daß ich die fünfunddreißig Meilen auf bloßen Füßen gehen mußte. Und doch war ich von Herzen froh, denn nun hatte ich fünfzehn Reichstaler zusammengespart, und für meine kleinen Geschwister brachte ich einige harte Weizenzwiebacke und eine Tüte mit geschlagenem Zucker mit, den ich aufgespart hatte. Denn wenn mir jemand Kaffee mit zwei Stück Zucker dazu gegeben, hatte ich immer das eine aufgehoben.
Hier sitzet nun ihr, Mädchen, und wißt nicht, wie sehr ihr Gott zu danken habt, daß er uns bessere Zeiten gegeben. Denn damals war es nicht anders, als daß das eine Hungerjahr das andere ablöste. Alle jungen Leute in Dalarna mußten von Hause fort, um Geld zu verdienen. Das nächste Jahr – 1847 – ging ich wieder nach Stockholm und bekam Arbeit in dem großen Hornsbuger Garten. Wir waren mehrere Mädchen aus Dalarna, und nun bekamen wir etwas höheren Tagelohn, aber sparen mußten wir trotzdem. In den Gärten sammelten wir alte Nägel und Knochen und verkauften sie an den Lumpenhändler, und für das Geld kauften wir eine Art steinharten Zwieback, den sie in der Militärbäckerei für die Soldaten buken. Ende Juli ging ich wieder nach Hause, um bei der Ernte zu helfen. Diesmal hatte ich dreißig Taler zusammengespart.
Im nächsten Jahr mußte ich wieder hinaus, um Geld zu verdienen. Da kam ich auf den Stallmeisterhof in der Nähe von Stockholm. In jenem Sommer war Feldmanöver auf dem Lagårdsgärd und der Marketender schickte mich hin, um die Aufwartung in einer Küche zu übernehmen, die er in einem großen Rüstwagen eingerichtet hatte. Und wenn ich hundert Jahre alt werden sollte, so vergesse ich niemals den Tag, als ich da draußen im Lager vor König Oskar dem Ersten auf dem Hirtenhorn blasen mußte. Und er schickte mir einen ganzen Speziestaler als Belohnung.
Dann war ich mehrere Sommer hintereinander Fährmädchen auf Brunsviken und ruderte zwischen Albano und Haga. Das war meine beste Zeit. Wir hatten ein Hirtenhorn im Boot, und manchmal nahmen die Fahrgäste selbst die Ruder, damit wir ihnen etwas vorblasen konnten. Wenn dann im Herbst das Rudern aufhörte, ging ich durch Uppland hinauf und half auf den Bauerhöfen beim Dreschen. Gegen Weihnacht pflegte ich mit hundert Reichstalern nach Hause zu kommen. Und dann hatte ich Saat beim Dreschen verdient, die holte Vater, sobald Schlittenbahn war. Er, seht ihr, wenn ich und meine Schwestern nicht mit unserem Geld gekommen wären, so hätten die zu Hause nichts zu leben gehabt. Denn das Korn, das wir selbst bauten, war meistens verbraucht, wenn ich nach Hause kam, und Kartoffeln bauten die Leute damals nur wenig. So mußten sie denn Korn beim Kaufmann kaufen, und wenn der Roggen die Tonne vierzig Reichstaler kostete und der Hafer vierundzwanzig, so sollte man wohl sparen! Ich entsinne mich noch, daß wir mehrmals eine Kuh für eine Tonne Hafer hergaben. In jenen Zeiten buken wir Haferbrot mit feingehacktem Stroh zwischen dem Mehl. Es war nicht leicht, solch Strohbrot herunterzubekommen, das könnt ihr mir glauben. Man mußte zwischen dem Bissen Wasser trinken, damit es nur glitt.
So fuhr ich fort, hin und her zu gehen bis zu dem Jahr, als ich heiratete, und das war 1856. Seht, Jon und ich waren in Stockholm gute Freunde geworden. Und jedes Jahr, wenn ich heimzog, war ich gleichsam ein wenig bedrückt, daß die Stockholmer Mädchen seine Gedanken von mir wenden könnten. Sie nannten ihn ›den schönen Jon vom Moor‹, ›den schönen Dalekarlier‹, das wußte ich. Aber es war kein Falsch in seinem Herzen, und als er Geld genug zusammengespart hatte, machten wir Hochzeit.
Dann war da einige Jahre lang eitel Freude und keine Sorge. Aber das währte nicht lange. 1863 starb Jon, und ich stand allein da mit fünf kleinen Kindern. Aber es ging uns eigentlich nicht schlecht, denn jetzt waren bessere Zeiten in Dalarna. Da waren reichlich Kartoffeln, und da war reichlich Korn. Es war ein großer Unterschied gegen früher. Ich bestellte selbst das bißchen Land, das ich geerbt hatte, und ich hatte mein eigenes Haus. So verging ein Jahr nach dem anderen, und die Kinder wuchsen heran. Sie sind gut gestellt, alle die von ihnen am Leben sind. Gott sei dank! Sie können sich keinen rechten Begriff davon machen, wie knapp es die Leute in Dalarna hatten, als ihre Mutter jung war.«
Die Alte schwieg. Während sie erzählte, war das Feuer heruntergebrannt, und alle erhoben sich und sagten, es sei an der Zeit, nach Hause zu gehen. Der Junge kehrte auf das Eis zurück, um nach seinen Reisegefährten zu suchen, aber wie er so allein in der Finsternis dahinlief, klang ihm ein Vers in den Ohren, den er vor kurzem auf der Brücke hatte singen hören: »In Dalarna wohnte, in Dalarna wohnt bei Armut auch Treue und Ehre...« Dann kam etwas, dessen er sich nicht mehr zu entsinnen vermochte, aber den Schluß des Liedes wußte er noch: »Sie mischten mit Rinde nicht selten ihr Brot, doch mächtigen Herren ward Hilfe in Not bei den armen Männern in Dalom.«
Der Junge hatte nicht alles vergessen, was er von den Stures und von Gustav Wasa gehört hatte, er hatte nie begreifen können, warum die gerade Hilfe bei den Daletarliern suchten, aber jetzt verstand er es. Denn in einem Land, wo es solche Frauen gab, wie die Alte da oben am Feuer, mußten die Männer ja ganz unbezwinglich sein.
XXXI. Bei den Kirchen
Sonntag, 1. Mai.
Als der Junge am nächsten Morgen erwachte und sich auf das Eis hinabgleiten ließ, konnte er sich eines Lachens nicht erwehren. In der Nacht war eine Menge Schnee gefallen, und es schneite noch immer weiter. Die ganze Luft war voll weißer Flocken, die so groß waren, daß man, ehe sie fielen, gut hätte glauben können, es seien die Flügel erfrorener Schmetterlinge. Auf dem See lag der Schnee mehr als zollhoch, die Ufer waren weiß, und die Wildgänse waren so beschneit, daß sie aussahen wie kleine Schneewehen.
Von Zeit zu Zeit bewegten sich Akka oder Yksi oder Kaksi ein wenig, aber wenn sie sahen, daß es noch immer schneite, steckten sie schnell den Kopf wieder unter die Flügel. Sie fanden wohl, daß sie in einem solchen Wetter nichts Besseres tun konnten als schlafen, und darin mußte der Junge ihnen recht geben.
Einige Stunden später erwachte er von dem Läuten der Rättviker Kirchenglocken. Jetzt hatte das Schneewetter aufgehört, aber es wehte scharf aus Norden, und draußen auf dem See war es schneidend kalt. Er freute sich, als die Wildgänse endlich den Schnee abschüttelten und dem Lande zuflogen, um sich Fressen zu verschaffen.
An jenem Tage war Konfirmation in der Rättviker Kirche, und die Konfirmanden, die rechtzeitig gekommen waren, standen in kleinen Gruppen vor der Kirche und sprachen miteinander. Sie trugen alle die Tracht der Gegend, und ihre Kleider waren so neu und bunt, daß sie förmlich schimmerten. »Liebe Mutter Akka, fliege hier ein wenig langsamer,« sagte der Junge, als die Wildgänse geflogen kamen, »damit ich die jungen Leute sehen kann!« Die Führergans fand scheinbar, daß das ein billiges Verlangen war, denn sie ließ sich so tief hinab, wie sie nur konnte, und flog dreimal um die Kirche herum. Es ist nicht leicht zu sagen, wie es sich in Wirklichkeit verhielt, aber als Niels Holgersen die Knaben und die Mädchen von da oben erblickte, meinte er, nie eine Schar prächtigerer junger Menschenkinder gesehen zu haben. »Ich glaube nicht, daß es feinere Prinzen und Prinzessinnen im Schloß des Königs gibt,« sagte er zu sich selbst.
Es war ziemlich viel Schnee gefallen. In Rättvik bedeckte er alle Felder, und Akka war nicht imstande, auch nur eine Stelle zu entdecken, wo sie sich niederlassen konnte. Da besann sie sich nicht lange, sondern flog südwärts, nach Leksand hinab.
In Leksand waren, wie gewöhnlich im Frühling, die meisten der jungen Leute fortgegangen, um Arbeit zu suchen. Es waren kaum andere daheim im Dorf als die Alten, und als die Wildgänse geflogen kamen, wanderte eine lange Reihe alter Frauen durch die stattliche Birkenallee, die zur Kirche hinauf führt. Sie kamen dahergegangen auf der weißen Erde zwischen den weißstämmigen Birken in schneeweißen Schaffelljacken, weißen Pelzkleidern, gelben oder schwarz und weiß gestreiften Schürzen und mit weißen Mützen, die das weiße Haar fest umschlossen.
»Liebe Mutter Akka,« sagte der Junge, »fliege hier ein wenig langsamer, damit ich mir die alten Leute ansehen kann!« Die Führergans fand scheinbar, daß das ein billiges Verlangen war, denn sie ließ sich so tief hinab, wie sie es nur wagen konnte, und flog dreimal über der Birkenallee hin und her. Es ist nicht leicht zu sagen, wie es sich in Wirklichkeit verhielt, aber der Junge meinte, nie alte Frauen gesehen zu haben, die so klug und milde aussahen. »Diese alten Frauen sehen so aus, als wenn sie Könige zu Söhnen und Königinnen zu Töchtern hätten,« sagte der Junge zu sich selbst.
Aber in Leksand war es nicht besser als in Rättvik. Überall lag hoher Schnee, und Akka sah keinen anderen Ausweg, als die Reise südwärts bis nach Gagnef fortzusetzen.
In Gagaef hatte an jenem Tage vor dem Gottesdienst eine Beerdigung stattgefunden. Der Leichenzug war spät zur Kirche gekommen, und hinterher war das Begräbnis in die Länge gezogen. Als die Wildgänse geflogen kamen, waren noch nicht alle in die Kirche gegangen; verschiedene Frauen gingen noch auf dem Kirchhof herum und sahen nach ihren Gräbern. Sie hatten grüne Taillen an mit roten Ärmeln, und auf dem Kopf hatten sie bunte Tücher mit farbigen Fransen.
»Liebe Mutter Akka, fliege hier ein wenig langsamer,« sagte der Junge, und die Wildgans fand scheinbar, daß das ein billiges Verlangen war, denn sie ließ sich so tief nieder, wie sie es nur wagen konnte, und flog dreimal über den Kirchhof hin und her. Es ist schwer zu sagen, wie es sich in Wirklichkeit verhielt, aber als der Junge die Frauen von dort oben durch die Bäume des Kirchhofes sah, fand er, daß sie den schönsten Blumen glichen. »Sie sehen alle zusammen so aus, als wären sie auf einem Beet in des Königs eigenem Garten gewachsen,« dachte er.
Aber auch in Gagnef war nicht ein einziger Fleck, der frei von Schnee war, und die Wildgänse wußten keinen besseren Rat, als weiter gen Süden nach Floda zu fliegen.
In Floda saßen die Leute in der Kirche, als die Wildgänse geflogen kamen, aber es sollte an dem Tage eine Hochzeit stattfinden, sobald der Gottesdienst beendet war, und die Hochzeitsgesellschaft stand draußen auf dem Kirchenhügel aufgestellt. Die Braut trug eine Goldkrone über dem ausgekämmten Haar und war so mit Schmucksachen und Blumen und bunten Bändern behängt, daß einem die Augen förmlich weh taten, wenn man sie ansah. Der Bräutigam ging in einem langen, blauen Rock, in Kniehosen und roter Mütze umher. Die Bauermädchen hatten Kleider an, die an der Taille wie auch rings um den Rock mit Rosen und Tulpen bestickt waren. Die Eltern und Nachbarn folgten im Zuge in ihren bunten Trachten.
»Liebe Mutter Akka, fliege hier ein wenig langsamer,« bat der Junge, und die Führergans ließ sich so tief hinab, wie sie es nur wagen konnte, und flog dreimal über dem Kirchenhügel hin und her. Es ist schwer zu sagen, wie es sich in Wirklichkeit verhielt, aber so wie der Junge sie von hier oben sah, meinte er, eine so liebliche Braut und einen so stolzen Bräutigam und ein so prächtiges Brautgefolge könne es nirgends anders geben. »Ich möchte wohl wissen, ob der König und die Königin in ihrem hohen Schloß feiner sind,« dachte er bei sich selbst.
Aber hier in Floda fanden die Wildgänse endlich schneefreie Felder, so daß sie nicht weiter zu fliegen brauchten, um Futter zu suchen.
XXXII. Die Überschwemmung
1.-4. Mai.
Mehrere Tage lang raste ein fürchterliches Wetter in der Gegend nördlich von dem Mälarsee. Der Himmel war ganz bedeckt, der Wind heulte, und der Regen strömte herab. Menschen wie auch Tiere wußten, daß das mit dazu gehört, wenn es Frühling werden soll, aber trotzdem fanden sie, daß es kaum zu ertragen sei.
Als es einen Tag geregnet hatte, fingen die Schneemassen im Tannenwalde allen Ernstes an zu schmelzen, und in die Frühlingsbäche kam Fahrt. Alle Wasserlachen auf den Höfen, das stillstehende Wasser in den Gräben, das Wasser, das zwischen den Grasbüscheln im Moor und Sumpf hervorquoll, geriet alles in Bewegung und suchte einen Weg nach den Bächen hinauszufinden, um mit ins Meer hinausgenommen zu werden.
Die Bäche liefen, so schnell sie konnten, nach den Mälarflüssen hinab, und die Flüsse taten ihr bestes, um dem Mälar Wassermassen zuzuführen. Aber dann warfen alle die kleinen Seen in Uppland und im Bergwerkdistrikt an einem Tage die Eisdecke ab, so daß die Flüsse sich mit Eisschollen anfüllten und plötzlich bis an ihre Ufer stiegen. Und so groß wie die Flüsse nun geworden waren, stürzten sie sich in den Mälarsee, und es währte nicht lange, bis soviel Wasser dahinein gelaufen war, daß er auf keine Weise mehr aufnehmen konnte. Der Strom unten am Auslauf wurde stark, aber der Nörrström ist ein enges Fahrwasser, und er konnte das Wasser nicht so schnell, wie es nötig war, hindurchlassen. Obendrein raste ein östlicher Sturm, so daß die Wellen des Meeres in starker Brandung gegen das Land getrieben wurden und sich gegen den Strom stemmten, der süßes Wasser in die Ostsee führen wollte. Da nun die Flüsse dem Mälar unaufhörlich neues Wasser zuführten, und der Strom nicht imstande war, es fortzuführen, blieb dem großen See nichts weiter übrig, als über seine Ufer zu treten.
Er stieg sehr langsam, ganz als sei er unwillig, seinen schönen Ufern Schaden zuzufügen. Da diese aber fast überall niedrig sind und schwach abfallen, währte es nicht lange, bis das Wasser viele Ellen weit ins Land hineingelangt war, und mehr gehörte nicht dazu, um die größte Verwirrung anzurichten.
Der Mälar ist etwas ganz für sich. Er besteht aus lauter engen Föhrden, Buchten und Sunden; nirgends breitet er sich zu großen, sturmgepeitschten Flächen aus, es ist, als sei er nur zu Vergnügungsreisen und Luftfahrten und fröhlichen Fischzügen geschaffen. Und er hat so viele schöne, bewaldete Inseln, Werder und Landzungen: nirgends zeigt er uns kahle, nackte, windzerzauste Ufer; es ist, als habe er sich nie gedacht, daß sie etwas anderes tragen sollten als Lustschlösser, Landhäuser, Herrenhöfe und Vergnügungsorte. Aber vielleicht gerade weil er sich in der Regel so sanft und freundlich zeigt, entsteht so ein Spektakel, wenn er hin und wieder einmal im Frühling sein lächelndes Gesicht ablegt und zeigt, daß er allen Ernstes gefährlich sein kann.
Da es nun so schien, als wolle er eine Überschwemmung veranstalten, wurden alle Boote und Prähme, die den Winter über an Land gezogen waren, in größter Eile gedichtet und geteert, um so schnell wie möglich in den See gesetzt zu werden. Die Waschbrücken wurden an Land gezogen, und die Brücken auf der Landstraße wurden ausgebessert. Die Bahnwärter, die die Aufsicht über die Eisenbahnstrecken am See entlang hatten, gingen ununterbrochen auf den Schienen hin und her und wagten weder Tag noch Nacht zu schlafen.
Bauern, die Heu oder dürres Laub auf den flachen Werdern in Scheunen aufbewahrt halten, beeilten sich, es an Land zu schaffen. Die Fischer nahmen ihre Reusen und Netze herein, damit sie nicht von der Überschwemmung weggespült werden sollten. An den Fährstellen wimmelte es von Reisenden: alle, die ausreisen oder nach Hause wollten, beeilten sich, solange sie noch sicher sein konnten, daß die Überfahrt nicht unterbrochen war.
In der Nähe von Stockholm, wo am Ufer ein Landhaus neben dem anderen liegt, war die Geschäftigkeit am größten. Die meisten Villen lagen freilich so hoch oben an Land, daß für sie keine Gefahr vorhanden war, aber bei jeder Villa war ja eine Badebrücke und ein Badehaus, und die mußten in Sicherheit gebracht werden.
Doch nicht nur die Menschen wurden unruhig, wenn der Mälar anfing, über seine Ufer zu treten. Die Enten, die ihre Eier zwischen das Gesträuch am Strande gelegt hatten, die Wasserratten und die Spitzmäuse, die am Ufer wohnten und kleine hilflose Junge im Nest hatten, waren in großer Not. Selbst die stolzen Schwäne wurden ängstlich, daß ihre Nester und Eier zerstört werden könnten.
Und das waren keine unnötigen Sorgen, denn mit jeder Stunde, die verging, stieg der Mälar.
Den Weiden und Erlen, die am Uferrande wuchsen, ging das Wasser schon hoch an den Stämmen hinauf. In die Gärten war das Wasser eingedrungen und wühlte in den Gemüsebeeten auf seine eigene Weise herum, und auf den Roggenfeldern, die so lagen, daß es dahinzugelangen konnte, richtete es großen Schaden an.
Mehrere Tage lang fuhr der See fort zu steigen. Die flachen Wiesen rings um Gripsholm standen unter Wasser, so daß das große Schloß nicht nur durch einen schmalen Graben, sondern durch breite Sunde vom Lande getrennt war. In Strängnäs wurde die schöne Strandpromenade in einen brausenden Fluß verwandelt, und in Vestnås bereitete man sich darauf vor, in Booten durch die Straßen zu fahren. Ein paar Elchen, die auf einem Werder im Mälar überwintert hatten, war ihr Wohnort unter Wasser gesetzt, und sie kamen an Land geschwommen. Ganze Holzlager, Unmengen von Planken und Brettern, eine Masse Braukübel und Wassertonnen waren ins Treiben geraten, und überall waren Leute auf ihren Booten aus um zu bergen.
In dieser beschwerlichen Zeit schlich Reineke Fuchs eines Tages in einem Birkenhain herum, der eine Strecke nördlich vom Mälar lag. Wie gewöhnlich dachte er an die Wildgänse und an Däumling und sann darüber nach, wie er es anstellen sollte, sie zu finden, denn er hatte ihre Spur ganz verloren.
Als er so recht mutlos war, erblickte er die Sendtaube Agar, die auf einem Birkenzweig saß. »Gut, daß ich dich treffe,« sagte Reineke. »Du kannst mir vielleicht sagen, wo Akka von Kebnekajse und ihre Schar sich augenblicklich aufhalten.« – »Es ist ja nicht unmöglich, daß ich weiß, wo sie sind,« erwiderte Agar, »aber ich habe durchaus nicht die Absicht, es dir zu sagen.« – »Es ist auch schließlich einerlei,« entgegnete Reineke, »wenn du ihnen nur einen Gruß überbringen willst, den ich für sie habe. Du weißt, wie schlimm es in diesen Tagen am Mälar aussieht. Da ist eine große Überschwemmung, und das große Schwanenvolk, das in Hjälstaviken wohnt, ist in größter Gefahr, daß seine Nester und Eier zerstört werden. Aber der Schwanenkönig Tagklar hat von dem Männlein gehört, das mit den Wildgänsen reist und das für alles Rat weiß, und er hat mich hierher gesandt, um Akka zu fragen, ob sie nicht mit Däumling hierher nach Hjälstaviken kommen will.«
»Den Gruß kann ich ja überbringen,« sagte Agar. »Aber ich begreife freilich nicht, wie der kleine Knirps den Schwänen sollte helfen können.« – »Das weiß ich auch nicht,« sagte Reineke, »aber er übernimmt ja alles mögliche.« – »Es wundert mich auch, daß Tagklar seinen Gruß an die Gänse durch einen Fuchs entsendet,« wandte Agar ein. – »Du hast ganz recht, wir sind ja sonst Feinde,« sagte Reineke mit sanfter Stimme. »Aber wenn die Not so groß ist, muß man einander helfen. Trotzdem ist es wohl besser, wenn du Akka nicht erzählst, daß du den Gruß durch einen Fuchs erhalten hast, denn sie ist mir gegenüber ein wenig mißtrauisch.«
Die Schwäne in Hjälstaviken
Die sicherste Zufluchtsstätte für Schwimmvögel am ganzen Mälar ist Hjälstaviken, der innerste Teil der Ekolsundbucht, die wiederum eine Erweiterung des Norra Björkofjords ist, der nächstgrößten von den langen Fären, die der Mälar nach Uppland hinein sendet.
Hjälstaviken hat flache Ufer, niedriges Wasser und eine Menge Röhricht, ganz so wie der Tåkere. Die Bucht ist lange nicht so groß wie der berühmte Vogelsee, aber trotzdem ist sie eine gute Heimstätte für Vögel, weil sie seit vielen Jahren für unverletzlich gilt. Sie ist nämlich der Aufenthaltsort für ein großes Schwanenvolk, und der Besitzer der alten Königsburg Ekolsund, die in der Nähe liegt, hat alle Jagd auf der Bucht verboten, damit die Schwäne nicht gestört und geängstigt werden.
Sobald Akka Nachricht erhalten hatte, daß das Schwanenvolk ihrer Hilfe bedürfe, eilte sie nach Hjälstaviken. Sie langte mit ihrer Schar eines Abends dort an und sah sofort, daß ein großes Unglück geschehen war. Die großen Schwanennester waren losgerissen und trieben in dem starken Sturm auf der Bucht. Einige waren schon auseinandergefallen, ein paar waren umgestürzt, und die Eier, die darin gewesen waren, lagen auf dem Grunde des Sees und schimmerten durch das Wasser.
Als sich Akka in der Bucht niederließ, waren alle Vögel, die dort wohnten, am östlichen Ufer versammelt, wo sie im besten gegen den Wind geschützt waren. Obwohl sie sehr durch die Überschwemmung gelitten hatten, waren sie viel zu stolz, um ihre Betrübnis zu zeigen. »Es hat keinen Zweck zu trauern,« sagten sie. »Hier sind reichlich Röhrichtfasern und Stengel. Wir können uns bald neue Nester bauen.« Keins von ihnen hatte es sich träumen lassen, Fremde um Hilfe zu rufen, auch hatte niemand eine Ahnung davon, daß Reineke nach den Wildgänsen geschickt hatte.
Da waren mehrere hundert Schwäne, und sie hatten sich nach Rang und Stellung hingelegt; die jüngsten und unerfahrensten zu äußerst im Kreise, die alten und klugen mehr in der Mitte. Ganz im Innersten lagen Tagklar, der Schwanenkönig und Schneefried, die Schwanenkönigin, die älter waren als alle die anderen, so daß die meisten von dem Schwanenvolk ihre Kinder und Kindeskinder waren.
Tagklar und Schneefried konnten von den Tagen erzählen, wo Schwäne ihres Stammes nicht irgendwo in Schweden wild lebten, sondern nur in zahmem Zustand auf Schloßgräben und Teichen gefunden wurden. Aber dann waren ein Paar Schwäne der Gefangenschaft entronnen und hatten sich in Hjälstaviken niedergelassen, und von den beiden stammten alle die Schwäne ab, die dort wohnten. Jetzt nisteten in vielen der Mälarbuchten wilde Schwane ebenso wie auf dem Tåkern und dem Hornbörgasee. Alle diese Ansiedler waren von Hjälstaviken gekommen, und die Schwäne, die dort wohnten, waren sehr stolz darauf, daß ihr Geschlecht sich so von See zu See ausbreitete.
Die Wildgänse hatten sich zufällig an dem westlichen Ufer niedergelassen; als Akka aber sah, wo die Schwäne lagen, schwamm sie sogleich auf sie zu. Sie war selbst sehr erstaunt, daß sie nach ihr geschickt hatten, aber sie betrachtete es als eine Ehre und wollte keinen Augenblick vergeuden, wenn es sich darum handelte, ihnen zu helfen.
Als Akka in die Nähe der Schwäne kam, hielt sie mit dem Schwimmen inne, um zu sehen, ob die Gänse, die ihr folgten, in gerader Linie und mit gleich großen Zwischenräumen hinter ihr drein schwammen. »Schwimmt jetzt schnell und hübsch!« sagte sie. »Starrt die Schwäne nicht an, als wenn ihr nie etwas Schönes gesehen hättet, und kümmert euch nicht darum, was sie zu euch sagen!«