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»Dann widerstehe dem Drang nicht«, säuselte ich.
Kaum hatte ich meinen Satz beendet, überbrückte Elijah das letzte Stück und seine Lippen prallten auf meine, als würden sie magnetisch voneinander angezogen werden.
Der Kuss war nicht zärtlich. Er war von Anfang an wild. Hungrig. Als würden alle Emotionen, die wir zurückgehalten hatten, herausbrechen und uns verzehren. Ich keuchte, stöhnte, als seine Hände meinen Körper erkundeten. Überall fühlte ich seine Fingerspitzen, die unendlich sachte meine Haut berührten. Am Rücken, auf meinem Hintern und an den Armen. Gierig küsste er mich, sodass es beinahe schmerzhaft war. Ich spürte seine Zähne, die meine Lippen streiften, und hörte ihn animalisch knurren. Es war wie ein Grollen, das tief aus seiner Kehle aufstieg. Jedoch ängstigte mich das Geräusch nicht. Es stachelte auch mich an, alle Hemmungen fallenzulassen.
Fahrig fuhr ich mit den Händen über seine Muskeln, während seine Zunge fragend über meine Unterlippe strich, bis ich ihm Einlass gewährte. Sofort nahm sein Geschmack mich in Beschlag. Die Mischung aus kühlem Bier, Schokolade und einer Komponente, die ich nicht benennen konnte, machte süchtig. Jedes Härchen auf meinem Körper stellte sich auf. Ich war wie elektrisiert. Ich wollte mehr. Alles. Aber auf keinen Fall wollte ich, dass er mich je wieder losließ.
***
Ironisch, oder nicht? Es war der perfekte Augenblick gewesen. Ich hatte mich nie so wohl gefühlt wie in diesem Moment. Noch nie hatte ich davor meinen Verstand abgeschaltet und meine Existenz einfach genossen. Ich hatte die Frage, was morgen sein würde, mit einem Schulterzucken abgetan und mich von meinen Gefühlen leiten lassen. Und was hatte es mir gebracht? Ich war nie wieder auf eine Party gegangen. Mich hatte auch niemand mehr eingeladen, während Elijah es sich zur Aufgabe gemacht hatte, an jeder Zusammenkunft teilzunehmen und jedes Mal ein anderes Mädchen abzuschleppen. Ich war die Erste gewesen, aber im Grunde eine von vielen. Und danach hatten wir nicht mehr miteinander gelernt, gegessen oder uns auch nur unterhalten. Alles war anders geworden. Elijah hatte mich verraten und ich musste erkennen, dass die Liebe trügerisch war und sie unsere Herzen vergiftete.
»Schade eigentlich, dass es nichts bedeutet hat. Du bist immer so steif, Valla«, sagte Silvania, stibitzte sich die Flasche aus meiner Hand und nahm einen kräftigen Schluck.
Zeitgleich gingen wir auf das große, rote Pentagramm zu, das den Eingang zum Klassenzimmer kennzeichnete. Der fünfzackige Stern war mit Blut von Verbrechern an die Wand gemalt worden und wurde einmal jährlich erneuert, damit er nicht verblasste. Gerade an den ersten Tagen stank es deshalb im ganzen Gebäude nach Eisen, weil die Belüftungssysteme nichts gegen die Aromen tun konnten, die das veraltete Blut verströmte. Doch das letzte Mal musste schon eine Weile her gewesen sein. Ich roch Schwefel, Weihrauch und Myrrhe – der typische Geruch der Hölle.
»Steif? Wie darf ich das verstehen?«
Verwirrt sah ich sie an, während ich mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf die Mitte des Pentagramms drückte und ein Klicken erklang. Kurz darauf rumorte das Gebäude. Die Wand vor uns ächzte und weißer Rauch schien von den Mauern aufzusteigen. Es knarrte. Putz löste sich an der Stelle, an der die Wand mit dem Boden verwachsen war, und zwei parallele Risse, die einen Durchgang markierten, wurden sichtbar. Vor unseren Augen bröckelte die Mauer weg, bis auf dem Marmor ein Haufen Gestein lag und das Loch groß genug war, um ins Klassenzimmer zu gehen. Wir passierten den Eingang und hinter uns wurden die Brocken auf magische Weise angehoben, um wieder eine Wand mit dem Pentagramm darauf zu formen.
»Gefühllos, kalt, hart – such dir eins davon aus. Wir fühlen, Valla. Ja, auch Liebe, obwohl wir Dämonen sind. Finde dich damit ab und kämpfe nicht dagegen an. Denk nur mal an den Teufel. Selbst er hat seine große Liebe in Eva gefunden«, argumentierte Silvania und ging nach hinten ans Ende des Zimmers, um so weit wie möglich von unserem Prüfer, Meister Asmodäus, entfernt zu sein.
Sie ließ sich auf einem Stuhl aus menschlichen Knochen nieder und legte ihre Tasche vor sich auf den Tisch, der ebenfalls aus Überresten der Menschen bestand. Zum Glück hatten wir heute älteres Mobiliar erwischt. An den Neueren waren manchmal noch Fleischrückstände zu finden, weil sich niemand die Mühe gemacht hatte, die Knochen vor dem Zusammenbauen zu säubern, wenn die Leichenteile aus dem Folterkeller der Hölle geliefert wurden. Es schien sich auch niemand über den süßlich-faulen Geruch zu beschweren, wenn das Fleisch zu verrotten anfing. Doch ich hasste es, wenn ich meine Notizen auf den Tisch legte und sie anschließend mit Blutresten besudelt waren.
»Die er aus Gier Adam stahl, um mit ihr Lilith zu zeugen, mit der er dann hunderte Nachkommen fabrizierte«, erwiderte ich und verdrehte die Augen, um Sil zu zeigen, dass ich ihre Argumentation lächerlich fand.
Der Teufel hatte sicher Wichtigeres zu tun, als Liebesverse zu verfassen und Frauen zu umgarnen. Und ich bezweifelte, dass ein Mann, der seit einer Ewigkeit täglich eifersüchtige Mörderinnen, Pädophile, Betrüger und Vergewaltiger bestrafte, sich für die Liebe öffnen könnte. Wenn man die tiefsten Abgründe sah und wusste, was einige unter dem Deckmantel der Liebe bereit waren zu tun, war das abschreckend genug, um nie wieder jemandem seine innersten Gefühle zu offenbaren.
»Aber er hat sie geliebt. Außerdem ist das Jahre her und seit über einem Jahrhundert hat er kein Kind mehr bekommen. Es wird gemunkelt, dass er sich wieder verliebt hätte. So, wie ich Nikolai liebe. Aber du denkst immer nur an die Arbeit.«
Ich zuckte bei Silvanias Worten zusammen und erntete von ihr einen entschuldigenden Blick, der mir zeigte, dass sie sehr wohl wusste, was sie damit in mir auslöste. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen und eine seltsame Leere machte sich in mir breit, die immer Besitz von mir nahm, wenn die Kinder des Teufels zur Sprache kamen. Musste Sil gerade heute auch noch in dieser Wunde bohren? Reichte es nicht, wenn Elijah mir wieder einmal vor Augen geführt hatte, dass er mein Leben zerstört hatte? Ich hatte so eine große Zukunft vor mir gehabt und dann, von einem Tag auf den anderen, hatten alle gehofft, dass der Dämonenstein mir keine Aufgabe zuteilen würde, damit ich von der Bildfläche verschwand. Wenn es nur so gewesen wäre. Na gut, das war übertrieben, immerhin liebte ich es hier und hätte mir nicht vorstellen können, zwischen all den Menschen zu leben, ohne mich an meine Familie zu erinnern. Aber war die Alternative besser? Ich hatte noch den enttäuschten Gesichtsausdruck meines Dads vor Augen, als mir der Stein umgehängt und meine Aufgabe verkündet wurde. Seine Augen waren aus der ersten Reihe starr auf mich gerichtet gewesen, während er aufgestanden war und die Bühne betreten hatte. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst gewesen. Sein Gesicht war rot angelaufen. Zeitgleich hatte ich ihm mit Tränen in den Augen entgegengesehen und gedacht, dass er meine Schmach beenden wollte. Aber ich hatte mich geirrt. Der restliche Saal hatte gelacht.
»Das hat sie verdient«, »Tja das war es mit der Familienehre« und »Ich wusste gar nicht, dass man für nichts gut genug sein konnte«, waren noch die netteren Beleidigungen, die im Raum ertönt waren.
Doch die Stimmen verklangen erst, als mein Dad bei mir ankam, den Stein von meinem Hals riss und mit seiner freien Hand zuschlug. Ich hörte das Klatschen, bevor ein Kribbeln meine Wange durchzog und der Schmerz einsetzte. Trotz des Brennens meiner linken Gesichtshälfte hatte ich noch einige Augenblicke gebraucht, um zu realisieren, dass mein Dad mich nach siebzehn Jahren meines Lebens zum ersten Mal geschlagen hatte. Davor war ich immer seine Kleine gewesen.
Doch seit diesem Tag war jedes nette Wort, das er an mich richtete, eine Besonderheit. Konnte Silvania nicht verstehen, dass ich deshalb so hart arbeiten musste? Mit etwas Glück würden sie mir doch noch eine andere Aufgabe zuteilen, um meine Talente nicht zu vergeuden, wenn ich als Jahrgangsbeste abschloss. Sonst war das mein Schicksal. Ich würde die Beschützerin vom letzten Sohn des Teufels sein, den es gar nicht gab, und würde für die körperliche Unversehrtheit von jemandem zuständig sein, der nicht existierte. Ich durfte zwar in der Hölle bleiben, hatte aber keinen Nutzen.
»Dafür gibt es uns auch«, murmelte ich und versuchte, die Erinnerungen an diesen Tag abzuschütteln. Es reichte, wenn alle anderen mir immer wieder vor Augen führten, dass ich eine Schande war, da musste ich mich nicht auch noch selbst geißeln.
»Wenn nur das unser Lebensinhalt ist, kann mir die Ewigkeit gestohlen bleiben«, sagte Sil ernst und griff nach meiner Hand, damit ich sie ansah.
Die Atmosphäre schlug um. Bis jetzt war es nur ein Gespräch zwischen Freundinnen gewesen. Spontan, leicht, wenn auch nicht immer schmerzfrei. Doch plötzlich schien es viel mehr zu sein. Der Ausdruck auf Silvanias Gesicht passte nicht zu ihrem fröhlichen Wesen. Sie wirkte bedrückt, als würde sie etwas beschäftigen, und sie schaute mich mit tränengefüllten Augen an. Ob sie sich Sorgen um mich machte?
»Wir sollten uns auf die bevorstehende Prüfung konzentrieren«, murmelte ich, entzog ihr meine Hand und blickte starr geradeaus, um sie nicht ansehen zu müssen. Sil und ich sprachen immer über unsere Probleme, aber noch nie zuvor hatte ich den Verdacht, dass sie etwas zurückhielt, um mich mit ihren Worten nicht zu verletzen. Hatte ich mich so stark verändert, dass es besorgniserregend war? Sicher, ich hatte mich in den letzten Monaten zu einer Stubenhockerin entwickelt, die ihre Zeit in der Bibliothek oder ihrem Zimmer verbrachte. Aber ich dachte nicht, dass sich mein Charakter ebenfalls von früher unterschied.
Nachdenklich senkte ich den Kopf und betrachtete meine Hände, die auf der Tischplatte lagen. Vielleicht hatte Sil Recht und ich musste wirklich wieder mehr auf mich achten. Meine Haut war durch die Hitze in der Hölle ausgetrocknet, weil ich sie nicht mehr pflegte, und meine Fingernägel waren so weit abgekaut, dass ich stellenweise Blut sah. Sie waren nicht lackiert, während Sil richtige Muster auf ihren Nägeln hatte. Ihre blauen Haare fielen ihr geglättet über die Schultern und eine Spange, auf der eine schwarze Rose angebracht war, hielt ihre Stirnfransen aus ihrem Gesicht. Meine Haare hingen wirr und zerzaust an mir herunter. Ich hatte sie gestern gewaschen, doch seitdem war keine Bürste mehr in ihre Nähe gekommen. Ich seufzte deprimiert. Mir sollte es nichts ausmachen, keinen Schönheitswettbewerb gewinnen zu können, aber leider tat es das doch.
»Es ist schon ziemlich spät. Vielleicht hat er die Prüfung vergessen«, sagte Silvania und erlöste mich damit von meinen elendigen, sinnlosen Gedanken. Ich würde mich nicht schminken oder früher aufstehen, um mich aufzutakeln. Das war das Einzige, das mir an meinem neuen Leben gefiel.
»Eigenartig. Ich könnte mich nicht erinnern, dass Meister Asmodäus jemals zu spät gekommen wäre«, erwiderte ich und starrte auf das Gestell aus abgetrennten menschlichen Fingern, das eine Uhr darstellen sollte. Unpünktlichkeit passte nicht zu ihm. Ganz und gar nicht. Selbst nach dem Angriff der Engel hatte er am nächsten Tag zur normalen Zeit den Unterricht gestartet und dabei war seine Frau während des Kampfes ums Leben gekommen. Er war sogar so streng gewesen, dass er trotz der Katastrophe Schüler von der Lerneinheit ausgeschlossen hatte, weil sie nicht rechtzeitig gekommen waren oder angefangen hatten zu weinen. Und nun kam er an einem Tag wie jedem anderen zu spät?
»Ist er auch nicht«, stimmte Sil mir zu und folgte meinem Blick zur Uhr. Irritiert fuhr sie sich über das Gesicht, bevor sie den Kopf aufmerksam in die Richtung des Nebentisches drehte, an dem sich zwei Schüler unterhielten.
»Wisst ihr, wo der Meister bleibt?«, fragte Sil freundlich und unterbrach damit das Gespräch der beiden.
Sie musterten erst meine Freundin und sahen daraufhin mich abschätzig an, was ich gekonnt ignorierte. Dennoch traf mich der Hass in ihren Augen und die Arroganz, mit der sie über mich urteilten. Ich wagte zu bezweifeln, dass sie selbst am Tag des Angriffs gekämpft hatten. Aber es war leichter, über mich zu richten, als sich selbst einzugestehen, dass man auch nichts beigetragen hatte, um den Schaden abzuwenden.
»Nein, aber in den anderen Klassen hat der Unterricht auch noch nicht begonnen. Niemand hat jemanden vom Lehrpersonal gesehen«, antwortete eine der beiden, nachdem ich ihr Starren unkommentiert ließ und mich auch auf kein Starr-Duell einließ. Doch ihre Worte waren unbedeutend, weil in diesem Moment die Wand krachte und zu bröckeln begann. Im Eingang erschien Meister Asmodäus, der stehen blieb, seinen Blick über die Schüler schweifen ließ und laut verkündete:
»Die Prüfung fällt heute aus. Der restliche Unterricht ebenfalls. Packen Sie zusammen und verlassen Sie umgehend das Schulgelände.«
Dann machte er kehrt, lief den Gang entlang und verschwand hinter der nächsten Ecke. Verwirrtes Gemurmel brach unter den Schülern aus und auch ich schüttelte irritiert den Kopf. Was zum Teufel war das? Abgesehen davon, dass ich mir umsonst die Nacht um die Ohren geschlagen hatte, um zu lernen, war sofort klar, dass irgendetwas geschehen war. Meister Asmodäus war ein hochgewachsener Mann, der auf sein Aussehen wert legte. Er trug jeden Tag einen Anzug, die grau melierten Haare waren mittels Gel perfekt nach hinten gekämmt und schwarze Lackschuhe rundeten das Outfit ab. Doch heute standen seine Strähnen wirr in alle Richtungen ab. Sein Hemd war zerknittert und anstatt der Anzugshose hatte er eine Jogginghose an, die auf dem Schenkel einen Fleck aufwies. Es sah aus, als wäre er gerade aus dem Bett gefallen. Außerdem waren tiefe Sorgenfalten in seinem Gesicht zu erkennen, die ihn zehn Jahre älter wirken ließen. Er war blass, wodurch die Augenringe noch mehr hervorstachen.
»Was ist denn los? Weißt du, was passiert ist?«, fragte Silvania mich beunruhigt und sah immer noch auf die Stelle, wo Asmodäus verschwunden war.
In der Zwischenzeit hatte sich die Wand wieder aufgebaut, aber dahinter waren deutlich Stimmen zu hören. Andere Schüler, die wie wir spekulierten. Allem Anschein nach wurde das gesamte Gebäude geräumt.
»Keine Ahnung, aber irgendwas stimmt hier nicht und Meister Asmodäus’ Abgang ist kein gutes Omen, wenn du mich fragst.«
Auf Silvanias Züge legte sich ein hinterhältiges Grinsen und sie blickte mich verschwörerisch an, als hätte sie vor eine Dummheit zu begehen. Und dumm war noch untertrieben. Wahnsinnig, geisteskrank, todesmutig.
»Also bleiben wir und versuchen herauszufinden, was hier gespielt wird?«, wollte sie mit gesengter Stimme wissen, während ich meine Sachen zusammenpackte, aufstand und meine Tasche schulterte. Sil tat es mir gleich, blieb aber demonstrativ stehen, anstatt wie die anderen den Raum zu verlassen. »Komm, ich weiß, dass es dich genauso interessiert wie mich.«
Das entsprach der Wahrheit. Natürlich war ich neugierig. Wer würde das in so einer Situation nicht sein? Doch ich konnte es nicht riskieren, wieder negativ aufzufallen. Es gab sogar bei den Meistern einige wenige, die trotz meiner Leistungen kaum mit mir sprachen und mich bei jedem Fehltritt absichtlich zu hart bestraften, um ein Zeichen zu setzen. Für sie wäre es die perfekte Gelegenheit, mich doch noch von der Akademie zu schmeißen.
»Nein. Bist du verrückt? Wir stehen kurz vor unserem Abschluss. Ich habe keine Lust, mir noch Ärger einzuhandeln«, meinte ich und bereute, dass meine Stimme so harsch klang.
Sil war meine Freundin. Sie hatte es nicht verdient, dass ich sie anschnauzte. Aber ich konnte nicht anders. Verstand sie nicht, dass uns das in Teufels Küche bringen könnte? Was wäre, wenn das Gebäude drohte einzustürzen und wir wären noch drinnen, weil wir nicht auf den Meister gehört hatten?
»Schön, wie du meinst. Du kannst ja verschwinden. Ich will erst sichergehen, dass alle anderen Klassen auch Bescheid wissen. Nicht, dass diejenigen, die gerade eine Freistunde haben, nicht informiert werden«, sagte Sil bestimmt und ging erhobenen Hauptes auf den Ausgang zu, ohne auf mich zu warten.
Eigentlich war ihre Idee nicht schlecht, obwohl ich bezweifelte, dass die Meister diese Klassen vergessen würden. Dennoch war an der Sache etwas faul. Silvania war nett zu allen, die ihr auf den Schulgängen begegneten, auch wenn sie ihr unbekannt waren. Aber extra loszuziehen, um Fremde über die Schließung der Schule zu informieren? Das klang gar nicht nach Sil.
»Halt! Du bist nicht so pflichtbewusst. Welche Klasse hat gerade keinen Unterricht?«, wollte ich vorwurfsvoll wissen und eilte ihr hinterher.
»Ist das wichtig? Wir sollten uns nicht mit solchen irrelevanten Details aufhalten, oder?«, erwiderte sie, drehte sich aber nicht zu mir um. Somit konnte ich ihr Gesicht nicht sehen. Doch ich hörte das unterdrückte Lachen in ihrer Stimme. Ich hatte also Recht.
»Es ist Nikolais, richtig? Von keiner anderen der knapp dreißig Klassen kennst du die Stundenpläne auswendig. Sil, bitte! Vergiss den Typen endlich«, stöhnte ich genervt und legte ihr eine Hand auf die Schulter, damit sie stehenblieb. »Du bist zu gut für ihn. Jemand wie er hat dich nicht verdient. Du brauchst einen Mann, dem du nicht wie ein räudiger Köter nachlaufen musst. Wenn du dich für immer auf Nikolai versteifst, wirst du allein bleiben, bis du alt und vertrocknet bist.«
Ich wusste zwar nicht, was daran so schlimm sein sollte, sein Leben allein zu meistern und nur sich selbst Rechenschaft ablegen zu müssen, aber Silvania schien es Angst zu machen. Wie die menschlichen Mädchen jagte sie der Illusion eines perfekten Gegenstücks hinterher und wurde nur enttäuscht.
»Für immer«, hauchte sie mit melancholischer Stimme und drehte sich zu mir um, sodass ich das Zucken ihrer Mundwinkel sah, die ein Lächeln andeuteten. »Das will ich. Aber ich erwarte nicht, dass du das verstehst.«
Sie machte eine kurze Pause, doch es kam mir vor, als würde sie noch viel mehr sagen wollen. Ihr Mund öffnete und schloss sich wieder. Sie verzog die Lippen zu einem dünnen Strich.
»Kommst du mit oder nicht? Mehr will ich nicht wissen. Wenn nicht, suche ich ohne dich. Doch ich werde nicht einfach gehen, ohne zu wissen, wo er ist.«
»Ehrlich, was findest du an ihm?«
Verzweifelt sah ich sie an, doch sie reagierte nicht auf meine Frage, was mich seufzen ließ. Es war auch niemand mehr da, um mir zu helfen, sie zu Vernunft zu bringen. Was sollte ich tun? Einfach gehen? Das stand nicht zur Debatte. Sil würde mich auch nicht allein lassen, wenn ich drohte, in mein Verderben zu laufen, und ich war mir sicher, dass es nicht gut für sie enden würde. Im schlimmsten Fall wäre Nikolai schon mit seinen Freunden draußen und wir würden umsonst alle Räume absuchen. Im besten Fall würden wir ihn finden und er würde Sil auslachen, weil sie ihn gesucht hatte.
»Wenn wir jemandem in die Arme laufen, wälze ich die Schuld auf dich ab«, entschied ich und hoffte, dass die Meister verstehen würden, dass ich es als sicherer empfunden hatte, mit Silvania zu gehen, statt sie allein durch die Akademie streifen zu lassen.
»Danke«, sagte sie und ihr Gesicht erhellte sich. Sie strahlte mich an, als hätte ich ihr erzählt, dass sie zum Teufel persönlich eingeladen wurde, legte ihre Arme um mich und drückte mich fest an sich. Die Umarmung war für mich so ungewohnt, dass ich wie angewurzelt dastand, statt meine Arme um sie zu legen. Wann war es das letzte Mal vorgekommen, dass ich jemand anderem so nah gewesen war? Sofort konnte ich nichts anderes mehr riechen als ihr süßliches Parfüm, das ihren gesamten Eigengeruch überlagerte und mich husten ließ. Ihr Griff war so fest, dass ich Angst hatte zu ersticken, doch die Geste löste in mir ein Gefühl der Wärme aus, obwohl mir gar nicht klar war, dass sich in mir die Kälte eingenistet hatte.
Es dauerte nur wenige Atemzüge, bis sie mich wieder losließ und in Richtung Cafeteria rannte, doch die Sekunden zogen sich ins Unendliche. Langsam folgte ich ihr durch die gespenstige Leere. Niemals war es hier so still gewesen. Das Gebäude war wie ausgestorben. Meine Schritte hallten von den Wänden wider und als die Fackeln an den Mauern, die für Licht sorgten, nach der Reihe erloschen, beschlich mich das Gefühl, dass es doch besser gewesen wäre, nach draußen zu gehen.
»Silvania!«, rief ich, bekam aber keine Antwort. Ich setzte einen Fuß vor den anderen und tapste durch die Dunkelheit, während ich meine Hand zur Orientierung ausstreckte und mit den Fingern an der Wand entlangfuhr. Die Mauer fühlte sich rau unter meiner Haut an und stellenweise löste sich durch meine Berührung der Putz. Sie blätterte ab und bröselte zu Boden.
»Sil! Wo bist du?«
Wieder keine Antwort, doch vor mir wurde es heller, als hätte jemand vergessen, ein paar Fackeln auszumachen. Schnell lief ich auf die Lichtquelle zu, jedoch war Silvania auch hier nicht zu sehen. Ich war wieder im Gebäudetrakt angekommen, an dem die Wände weiß waren, und trotz der dämmrigen Beleuchtung war mir klar, dass etwas anders war als sonst. Irgendetwas stimmte hier nicht. Meine Fingerspitzen fühlten sich feucht an. Schmierig. Irritiert zog ich die Hand ein und besah sie genauer. Meine Fingerkuppen waren rot verfärbt. Die Flüssigkeit war warm. Auch an den Mauern klebten rote Spritzer. Blut. Mit angehaltenem Atem sah ich auf die Kleckse, die unregelmäßig verteilt waren und dennoch wie ein Kunstwerk aussahen. Was war hier passiert? Ein ungutes Gefühl beschlich mich. Wir sollten von hier verschwinden. Sofort!
»Sil!«, versuchte ich es noch einmal und konnte die Panik in meiner Stimme nicht unterdrücken. Wo war sie? Wieso antwortete sie nicht. War das Blut von ihr?
»Valla! Hilfe! Valla!«, hörte ich Silvania kreischen und rannte, ohne nachzudenken, dem Klang ihrer Stimme hinterher, die mich wieder in die Dunkelheit führte.
Ich spürte, wie mein Herz raste. Adrenalin pumpte durch meine Adern und ich schwitzte, obwohl mir eiskalt war. Hastig sog ich Sauerstoff in meine Lungen und ließ die Luft wieder entweichen. Dennoch hatte ich das Gefühl, zu ersticken. Meine Kehle war wie zugeschnürt. In meiner Seite stach es, doch ich beschleunigte meine Schritte und flehte stumm zum Teufel, dass es Sil gut ging. Ich lief weiter und weiter, ohne stehenzubleiben, obwohl meine Beine nach kurzer Zeit schmerzhaft brannten und ich komplett orientierungslos war. Ich war mir nicht sicher, ob ich diesen Teil des Gebäudes kannte, aber selbst wenn, war er kaum wiederzuerkennen. Es war einfach zu dunkel und die sporadischen Feuer an der Wand trugen nur dazu bei, dass sich meine Augen nicht an die Schwärze gewöhnen konnten.
Nachdem ich Silvania endlich erreichte, atmete ich, als würde ich eine Sauerstoffflasche benötigen. Mehr Cardio-Training zu machen, wäre nicht schlecht gewesen. Das sollte ich dringend ändern. Schmerzhaft keuchend stemmte ich die Hände in die Hüften und bemühte mich, meinen Herzschlag zu beruhigen. Sil schien es gut zu gehen. Sie stand mit dem Rücken zu mir und starrte auf den Boden. Über ihr brannte eine Fackel, sodass ich eine perfekte Sicht auf ihre Kehrseite hatte. Stocksteif stand sie da und ... Schluchzte sie etwa?
»Sil?«
Keine Reaktion.
»Silvania?«
Ein Wimmern.
»Ist alles in Ordnung?«
Kräftig schüttelte sie den Kopf und bedeckte mit den Fingern ihr Gesicht, während ich nähertrat und meine Hand auf ihren Oberarm legte. Doch ich hatte nicht das Gefühl, dass sie meine Berührung wahrnahm. Ihr Blick blieb starr gesenkt.
»Beim unheiligen Teufel, wer tut so etwas Schreckliches?«, fragte sie und schniefte, sodass ich ihren Schmerz beinahe fühlen konnte. Es tat mir weh, sie so leiden zu sehen und nicht zu wissen, was ich tun konnte, um das zu ändern.
»Sil? Was ist los?«, flüsterte ich, um sie nicht zu verschrecken. Ich erreichte jedoch nur, dass sie die Arme sinken ließ und sich zu mir drehte. Tränen liefen über ihre Wangen und legten einen feuchten Glanz über ihr bleiches Gesicht. Wortlos zeigte sie nach vorne und forderte mich mit einem Nicken auf, hinzusehen. Ich kniff die Augen zusammen, um den Fleck, auf den ihr Finger deutete, besser betrachten zu können. Der Boden schien sich vor uns zu wölben und Wasser breitete sich über dem Flur aus. Kälte ging von den Buckeln aus und schien von der Umgebung aufgenommen zu werden, sodass ich fröstelte. In der Hölle war es warm. Immer. Deshalb war ich kühle Temperaturen nicht gewohnt. Eigentlich war dies niemand, der noch die Akademie besuchte. Eine Gänsehaut überzog meinen Körper und ich rieb mir die Unterarme. Ich trat einen Schritt nach vorne, um besser sehen zu können. Und stolperte prompt rückwärts.






