Wenn die Nacht stirbt und dein Herz aufhört zu schlagen

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Dame an, doch ich lies einfach meine Bücher vor Angst fallen. Selbst meine Mutter und ihre Bestrafungen lösten in mir nicht die Panik aus, die das Wesen in mir verursachte. Meine Hände waren in der Zwischenzeit schweißnass geworden und ich bekam eine Gänsehaut, als sie mich ansprach.
»Was wollen Sie hier?«, fragte ich mit einem genervten Ton, um die Furcht zu überspielen.
Die Chooserin zuckte zusammen und kurz hatte ich das Gefühl, dass sie auch nicht gerne hier war. Ich seufzte im Stillen und wünschte mich zurück auf meine alte Matratze.
Das strahlende Lächeln, das sie bis jetzt aufgesetzt hatte, verschwand aus ihrem Gesicht und sie murmelte: »Es tut mir so leid, dass dir das passieren musste«, bevor sie ihre Hand auf mein Schlüsselbein legte und ein stechender Schmerz durch meine Brust fuhr, noch bevor ich ihre Hand von mir stoßen konnte.
Ich hatte das Gefühl, als würde der Schmerz mich auflösen und gleichzeitig wieder zusammensetzen. Er zog sich über meine Haut in mein Blut und dann tief in meine Knochen, wo er noch einmal explodierte. Mein Gesicht verzog sich zu einer Fratze und mein ganzer Körper verkrampfte sich. Das Gefühl, als würde die Zeit stehen bleiben, lies mich fast vergessen zu atmen. Mein Herz klopfte gegen meine Rippen, als würde ich einen Marathon laufen. Ich bekam nicht mit, wie meine Füße unter mir nachgaben und ich auf den kalten Boden fiel oder wie Emma meinen Namen schrie, weil sie nicht wusste, was hier los war. Aber ich wusste es. Mutter hatte uns eingebläut wir sollen weglaufen, wenn wir einen Chooser sahen, weil sie gefährlich, böse und wider die Natur waren. Doch ich hatte ihr immer gesagt, dass es dazu nie kommen würde. Jetzt war es zu spät. Die Chooserin hatte mich als Anwärterin erkannt und mich solange gesucht, bis sie mich in meiner Schule gefunden hatte. Meine Eingeweide zogen sich zusammen und mir wurde eiskalt. Als wäre schon tiefster Winter. Ein Schweißfilm lag auf meiner Haut und mein Körper fühlte sich nicht mehr an wie ein Teil von mir. Das Buch, das mir heruntergefallen war, stach gegen mein Bein, doch ich konnte mich nicht bewegen, weshalb ich nichts dagegen tun konnte. Kurz bevor ich dachte, dass ich nun sterben müsste, verschwand die Qual und lies nur ein Kribbeln auf meinem Dekolleté zurück.
Ich brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, dass auf meinem Schlüsselbein nun ein Brandmal war, das mich wie ein Vieh als Anwärterin kennzeichnete. Ich brauchte auch keine schreiende Emma, die auf und ab sprang, um schlussendlich panisch wegzulaufen. Ich verdrehte meine Augen und starrte in das Gesicht des Mädchens, das mein Leben, wie ich es bis jetzt kannte, zerstört hatte. Ihre Augen waren hell wie der See, an dem ich als Kind immer schwimmen war. Kurz dachte ich daran, dass ich mich wohl nie wieder an den See setzen würde, um meine Füße in den Sand zu stecken und den Wellen beim Fließen zuzusehen.
»Wir erwarten dich im schwarzen Wald«, flüsterte sie mir ins Ohr und küsste meine Wange.
Danach erhob sie sich und ging einfach den Weg zurück, den sie gekommen war. Es war grausam, die wunderschöne Frau gehen zu sehen. Sie ließ mich allein auf dem kalten Boden zurück und noch nie zuvor in meinem Leben wünschte ich mir so sehr, unsichtbar zu sein, wie vor einer Viertelstunde. Ausnahmslos alle, die nicht weggelaufen waren, sondern sich nur hinter Spinden versteckt hatten, krochen aus ihren Verstecken und starrten mich an. Ihre Blicke trafen mich wie Messerstiche und ich fürchtete mich davor, in ihre Gesichter zu sehen. In den Augen von ihnen war ich wohl jetzt ein Freak, genauso wie Cassandra Middleton damals ein Freak für mich gewesen war, als ich davon gehört hatte, dass die vierfache Klassensprecherin auserwählt wurde. Geholt trifft es wohl eher, denn danach sah man sie nie wieder. Das war das übliche Vorgehen. Jemand wurde gebrandmarkt, an einen geheimen Ort verschleppt und tauchte nie wieder auf. Niemand, der nicht auserwählt wurde, hatte je erfahren, was aus den Kindern wurde. Auch mich würden sie nicht wiedersehen. Alle Schüler waren sich diesem Umstand bewusst.
Im Endeffekt war ihre Meinung auch nicht wichtig und ich wollte mich jetzt nicht mit ihnen beschäftigen. Das
Einzige, das ich wollte, war allein zu sein und mich vor der restlichen Welt zu verstecken.
Nun gab es für mich nur zwei Möglichkeiten und beide fand ich nicht besonders berauschend. In den nächsten Tagen sterben oder dem mysteriösen Mädchen folgen. Ich versuchte, mich zusammenzureißen, sammelte meine Sachen vom Boden auf, erhob mich und rannte, so schnell meine Beine es zuließen, aus der Schule. Die Kapuze meines Hoodies zog ich tief in mein Gesicht, um mich für Passanten unkenntlich zu machen. Wir lebten in einem kleinen Ort und es würde nur wenige Stunden brauchen, bis ausnahmslos alle Bewohner Bescheid wussten. Die aufgeregten Schreie ignorierend, und mein altes Leben hinter mir lassend, sprintete ich über den Rasen des Schulhofs. In mir war immer noch die kleine Hoffnung, dass ich morgen aufwachte und alles nur ein Traum war. Vielleicht hoffte ich auch einfach, dass sich alles regeln würde. Doch wie falsch ich damit lag, sollte ich erst merken, als ich an unserem Gartenzaun ankam. Wie so oft hatte ich auf dem Weg nach Hause zu Gott gebetet, oder wer auch immer mit unserem Leben Schach spielte, dass meine Mutter nicht im Haus war, wenn ich ankam. Doch wie immer wurde ich nicht erhört. Sie stand in der Küche und telefonierte mit Elizabeth Fletscher, der Mutter von einer meiner Mitschülerinnen, die ich natürlich nicht näher kannte. So leise wie möglich kletterte ich die Rosenranke zu meinem Zimmerfenster hinauf und war zum ersten Mal froh, dass meine Erzeugerin mir nicht erlaubt hatte, in den Dachboden einzuziehen.
»Danke für den schnellen Anruf Elizabeth. Das ist ja furchtbar. Wie sich die Eltern wohl fühlen müssen. Stell dir das vor«, erklang die scheinheilige Stimme meiner Mutter von unten und ich bewegte mich noch schneller. Ich stieg durch die kleine Fensteröffnung, die ich immer offen ließ und fühlte wieder festen Boden unter meinen Füßen. Ich nahm meine Weste aus meinem schwarzen Lederrucksack und tauschte sie gegen den Kapuzenpullover, sodass das Mal auf meiner Haut nicht mehr zu sehen war.
»Das arme Mädchen ist bei Gott in Ungnade gefallen. Wir sollten dringend für sie beten. Nicht auszumalen, was nun mit ihrer armen verstümmelten Seele passiert, wo der Teufel für sie Sorge trägt. Ich hoffe, die Eltern sind so besonnen und tun das einzig Richtige mit dem Mädchen«, ertönte erneut Mamas Stimme und obwohl ich nicht wusste was Mrs. Fletscher darauf erwiderte, ließen Mutters nächste Worte das Blut in meinen Adern gefrieren.
Natürlich hatte ich schon damit gerechnet, dass meine Erzeugerin mich nicht mit offenen Armen ohne einen Pfarrer empfangen würde. Immerhin hatte sie mich bei jedem kleinen Fehler eingesperrt, um Buße zu tun. Sie hat auch schon an mir einen Exorzismus durchführen lassen, als ich einmal ohne nachzudenken gesagt hatte, dass Gott ein alter Mann ohne Gewissen sei, der sich nicht mehr um die Menschen kümmere, seit er bemerkt hatte, dass uns die zehn Gebote nicht im mindesten interessierten. Doch mit der Kälte und der Endgültigkeit in ihrer Stimme hatte ich nicht gerechnet.
»Der Tod wäre am gnädigsten.«
Der Satz hallte in meinem Kopf wieder und auch meine letzte Hoffnung, dass alles wieder gut werden würde, zerbröselte. Aber um ehrlich zu sein, hatte sie recht. Der Tod war eine der zwei Möglichkeiten. Doch wäre es wirklich besser, als zu diesen Monstern, die sich von der restlichen Welt abschotteten, in den schwarzen Wald zu gehen? Ehrlich gesagt war ich überrascht, wie schnell sich die Nachricht über mich verbreitet hatte, doch gleichzeitig war ich froh über die Lückenhaftigkeit, denn anscheinend hatte meine Mutter keine Ahnung, dass ihre eigene Tochter das Mädchen war, das sie zum Teufel jagte.
Die fünf kleinen Worte hatten mich aus der Bahn geworfen. Ich sank auf dem Boden zusammen und Tränen liefen mir ungehindert über meine heißen Wangen. Schon wieder weinte ich.
Glaub mir, ich war nie ein gefühlsduseliger Mensch gewesen und zweimal am Tag hatte ich bestimmt noch nie geheult wie ein Schlosshund. Die Angst, dass jederzeit meine Mutter durch die Tür kommen könnte, um mein Leben zu beenden, ließ mich jedoch schon nach wenigen Minuten wieder aufspringen und meine Sachen zusammenpacken. Ich wusste noch nicht wohin ich gehen sollte, doch eins war klar: Ich musste sofort hier weg, solange ich selbst die Entscheidung treffen wollte, was ich nun mit meinem Leben anfing.
Als mein schwarzer Lederrucksack vollgefüllt war, steckte ich noch ein Bild von meinem Bruder und mir in die Hosentasche und stieg aus dem Fenster. Ein letztes Mal wandte ich mich zu meinem alten Zimmer um. Bis auf die löchrige Matratze und die Dutzend Kreuze an der Wand wirkte es kalt und leer.
»Melde dich bei Zeit wieder, Elizabeth«, meinte Mutter gerade und ich erschrak aufgrund des Klangs ihrer Stimme.
Ich rutschte ab und kam auf meinem linken Knöchel auf. Fest biss ich meine Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien. Die Tränen verschleierten immer noch meine Sicht, doch ich durfte nicht stehen bleiben. Das Mal kribbelte auf meinem Schlüsselbein und meine Lippen zitterten. Ich zog die Kapuze meiner Weste über meinen Kopf und atmete tief durch. Die Mittagssonne schien in voller Pracht und als mein Magen anfing zu knurren, bereute ich langsam, nicht gefrühstückt zu haben. Kurz übermannte mich der Schmerz beim Auftreten, doch ich zwang mich, meinen Weg fortzusetzen. Zuerst lief ich die verlassenen Straßen entlang. Vorbei an den Häusern, in denen die Menschen, mit denen ich aufgewachsen war, wohnten. Ich rannte und rannte, ohne mich noch einmal umzudrehen. Die Katze unserer Nachbarn kreuzte meinen Weg und miaute unzufrieden, da ich sonst immer anhielt, um ihr schwarzes Fell zu streicheln. Früher hatte ich mich extra hinausgeschlichen, um mit dem Tier zu spielen, doch nun hatte ich dafür keine Zeit. Das Adrenalin schoss durch meine Blutbahnen und auch wenn ich eine geübte Läuferin mit hartem Training war, ging mir langsam die Puste aus, weshalb ich anhielt, um zu überlegen, wie es weitergehen sollte.
Zurück konnte ich schlecht. Unvorstellbar, was meine Mutter mit mir tun würde, wenn ich zurückkam. Kurz bekam ich ein schlechtes Gewissen wegen meines Bruders und das Knattern des Bildes bei jedem Schritt machte es nicht besser. Doch dieses eine Mal musste ich an mich denken, auch wenn ich ihn damit allein ließ.
Meine Großmutter wäre eine Option, immerhin redeten Mama und sie kaum noch miteinander, seit Vater uns verlassen hatte. Sie würde Mama aber verraten, dass ich bei ihr war, wenn meine Mutter sie anrufen und gespielt weinen würde. Das war häufig passiert, wenn ich wieder einmal bei Großmutter untergekommen war, weil ich einen Fehler gemacht oder schlechte Noten geschrieben hatte. Jedes Mal hatte es für mich in Schlägen und einer Woche Zimmerarrest geendet. Mehr Verwandte hatte ich nicht. Genauso schlecht sah es mit Freunden aus.
Um mich besser konzentrieren zu können, spazierte ich durch die fremden Straßen, bis ich eine kleine Pension fand. Ich hatte von zuhause genug Geld für mehrere Nächte mitgehen lassen, weshalb nichts dagegensprach. Ich checkte ein.
Der Herr am Empfang interessierte sich nicht dafür, woher ich das Geld hatte und gab mir ein Zimmer, das ich im Voraus für eine Nacht bezahlen musste. Vermutlich wollte er sicher gehen, dass ich mir das Zimmer leisten konnte, doch mich kümmerte das nicht. Ich war unglaublich müde vom Laufen und meine Beine schmerzten. Wahrscheinlich hatte ich jetzt große Blasen an den Füßen, aber darauf konnte ich zum jetzigen Zeitpunkt keine Rücksicht nehmen. Mehr humpelnd als gehend suchte ich mein Zimmer mit der Nummer 13. Passend oder nicht?
Als würde ich noch mehr Anzeichen dafür brauchen, dass ich verflucht war. Die Pension war nicht besonders modern, doch dafür war alles sauber. Gegen die Farbe Blau hatte ich nichts, aber es erschien alles ein wenig eintönig. Die Tapete war dunkelblau, die Vorhänge hellblau, die Kommoden waren kobaltblau glasiert worden und sogar die Türen waren eisblau gefärbt.
An meinem Zimmer angekommen, steckte ich den Schlüssel ins Loch und drehte ihn nach links. Die Holztür schwang nach innen auf und gab den Blick auf ein kleines Zimmer frei. Auch hier war alles blau und nur die Bettwäsche war weiß. Die Fensterbank war mit Blumen verziert und ein Spiegel hing neben dem Fenster. Im Zimmer standen ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen und ein richtiges Bett. Ich ließ meinen Rucksack in die nächstgelegene Ecke und mich mit dem Rücken voran auf die Matratze aus Daunenfedern fallen. Zu lange war es her, seit ich das letzte Mal in einem Bett gelegen hatte. Meine Augenlider waren schwer wie Blei und ich hatte nicht mehr die Kraft, um mir die Schuhe auszuziehen, bevor ich in einen tiefen Schlaf fiel.
Es war kühl und ich spürte kleine Wassertropfen auf meiner Haut. Vor mir erstreckte sich eine lange, gerade Straße, doch durch den Nebel konnte ich nicht erkennen, wohin sie führte. Nicht einmal meine eigene Hand vor meinen Augen konnte ich sehen. Ein Schauer lief mir über den Rücken und ich zuckte zusammen, als ich das laute Miauen einer Katze hörte. Erschrocken versuchte ich, in der Ferne etwas zu erkennen, doch es war alles still. Nirgendwo war etwas zu sehen. Ich begann, die Straße hinunterzulaufen. Vorbei an den grauen Häusern und weg von dem Nebel, der mich einhüllte, doch er schien immer dichter zu werden. Der Wind wehte und bewegte das Seidenkleid, das sich an meine Haut schmiegte, hin und her. Meine dunklen Haare flogen mir immer wieder ins Gesicht. Das Blut rauschte in meinem Kopf und ich versuchte, schneller zu laufen, um von der leergefegten Straße wegzukommen, aber der Weg schien endlos zu sein. Je weiter ich ging, desto dunkler wurde meine Umgebung, bis ich fast nichts mehr sah.
Im nächsten Augenblick blieb ich stehen, da sich der Boden unter meinen nackten Füßen veränderte. Mit meinem auf wundersame Weise geheilten Bein tastete ich den Boden ab.
Statt des rauen Asphalts fühlte ich nun Grashalme zwischen meinen Zehen. Langsam kamen auch die Farben wieder zurück und der Nebel verflüchtigte sich. Jetzt konnte ich den Vollmond am Himmel leuchten sehen, wodurch meine Umgebung heller wurde. Mein Blutdruck beruhigte sich und eine angenehme Stille trat ein. Ich konnte den Geruch von Laub, der sich mit Kiefernnadeln mischte, riechen und schloss genießerisch die Augen. Die Zweige zerbrachen unter meinem Gewicht und ich konnte Tiere herannahen hören. Besorgt schluckte ich und versuchte, mich unauffällig zu verhalten. Ich wusste nicht, wo ich war, aber seltsamerweise gefiel es mir und ein warmes Gefühl breitete sich in meiner Brust aus. Bäume sammelten sich vor mir und versperrten mir den Weg. Die Äste zerkratzten meine Unterarme, mit denen ich mein Gesicht zu schützen versuchte, und ich blieb mit dem knielangen Kleid an den Sträuchern des Waldes hängen. Es war so eng, dass ich das Gefühl hatte, ersticken zu müssen.
Wieder miaute eine Katze und ich fiel vor Schreck auf die feuchte Erde. Genervt stöhnte ich auf, als ich versuchte aufzustehen, da ich auf dem nassen Boden ausrutschte. Blätter klebten auf meinen geröteten Handflächen und meine nackten Beine lagen mitten im Matsch. Es schüttelte mich vor Ekel und ich sprang schnell auf. Ich lief weiter über den Waldboden, bis das Dickicht sich auflöste und eine kleine Lichtung sich vor mir erstreckte. Der Weg war mit weißen Blumen, die mich an die Schneeglöckchen im Garten meiner Großmutter erinnerten, von der Wiese abgegrenzt. Um den Platz versammelten sich die Tiere. Eine einsame schwarze Katze saß auf einem gigantischen Steinbrunnen, aus dem klares Wasser floss, das in den Farben des Regenbogens schimmerte. Doch das alles war mir einerlei. Es wirkte unbedeutend neben der eineinhalb Meter großen Frau, die vor dem Brunnen stand.
Sie wirkte zierlich und gleichzeitig machtvoll. Ihr silbernes Haar hing über ihre Schulter. Auf ihrem Haupt war eine Krone aus Blättern, die perfekt zu ihrem bodenlangen Kleid in sattem Grün passte. Sie war in meinen Augen wunderschön, doch je näher ich ihr kam, dest mehr ängstigte sie mich. Mitten in ihrem Gesicht befand sich eine gezackte Narbe und auf ihrer Stirn prangte das rote Brandmal der Auserwählten, ein dreizehnzackiger Stern. In ihrer durchsichtigen Iris spiegelte sich der Mond und ein tiefes Lächeln zierte ihre Lippen.
»Willkommen zurück Read.«
»Zurück?«, murmelte ich fragend.
Wenn ich schon einmal an einem Ort wie diesen gewesen wäre, könnte ich mich daran erinnern. Ich zuckte zusammen und sah mich verwirrt in der Gegend um. Ich atmete tief durch und versuchte, meinen Herzschlag zu beruhigen.
»Alles ist gut, hab keine Angst«, hörte ich die geflüsterte Stimme wieder.
Doch es war niemand, der geredet haben könnte, da. Die Lippen der Frau hatten sich keinen Millimeter bewegt. Es ist nur ein Traum. Nichts von alledem ist echt, versuchte ich mir einzureden.
»Es ist zwar ein Traum, doch es ist trotzdem real«, meinte die Stimme geheimnisvoll.
Ich schnaubte unzufrieden. Die Frau musterte mich und das Lächeln verschwand. Sie begann mit ihrer rechten Hand die schwarze Katze hinter ihr zu streicheln und setzte sich auf den Rand des Brunnens. Ein Zipfel ihres Kleides hing ins Wasser, doch die Frau schien sich nicht daran zu stören.
»Setz dich zu mir«, hörte ich die helle Stimme wieder in meinem Kopf, aber ich dachte nicht einmal daran, mich von der Stelle zu bewegen. Ich verstand nicht, warum ich hier war und was sie von mir wollte. Verdammt, ich wusste noch nicht einmal, wo »hier« genau war.
»Du wirst in Zukunft lernen müssen, dass vieles, was dir unverständlich scheint, doch klarer ist, als du zu Anfang dachtest. Aber ich bin nicht hier um dir das mitzuteilen, Read.«
Ich wartete, dass die Dame ihre Worte erklären würde, doch sie ließ den Satz einfach offen. Auch erklärte sie nicht, woher sie verdammt nochmal meinen Namen kannte. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, ob ich sie von früher kannte, doch ich hätte schwören können, diese Frau noch nie gesehen zu haben.
»Du kennst mich nicht, aber ich kenne dich. Ich war dabei, als du laufen und essen gelernt hast. Auch war ich anwesend, als du ängstlich an deinem ersten Schultag in deine Klasse gewandert bist. Selbst als du dein erstes Zeugnis bekommen hast, war ich bei dir. Du jedoch kennst mich nicht. Wer ich bin ist auch nicht wichtig. Viel wichtiger ist, wer du bist.«
Am liebsten hätte ich mir mit der Hand auf die Stirn geschlagen. Ich wusste, wer ich war. Ich war Read Silverton, 18 Jahre alt und Schülerin der Santa Guerra Hochschule.
Doch noch während ich nachdachte, merkte ich, dass es nicht mehr stimmte. Ich war nicht mehr die Tochter meiner Mutter, die Schulfreundin von Emma oder Schülerin an einer der besten Schulen dieses Landes. Ich war eine Ausreißerin auf der Flucht, ohne gute Perspektiven für die Zukunft.
»Warum sind sie hier? Was wollen Sie von mir?«, schrie ich der Frau entgegen, die einfach ruhig mit der Katze auf dem Schoß am Brunnen saß und wieder begann mich anzulächeln.
»Mein Name ist Diana. Zumindest nannte mich die Menschheit früher so. Ich bin hier, um dich zu erinnern, dass du in die falsche Richtung läufst.«
Zum ersten Mal bewegte die Dame ihre Lippen, wodurch ihre Stimme noch wärmer klang. In ihren Augen glitzerte etwas Wissendes und auf einmal wirkte sie wahnsinnig alt auf mich, auch wenn sie höchstens dreißig Jahre alt sein konnte.
»Der schwarze Wald befindet sich in der anderen Richtung.« Das Lächeln auf meinem Gesicht verschwand. Der schwarze Wald, der Ort für all die Unglückseligen, die von den Choosern, den Dienern des Bösen, auserwählt worden sind. Zugegeben, diese Erklärung stammte von Mama, aber es würde schon etwas Wahres dran sein.
»Was soll ich dort?«, fragte ich aufgebracht.
Ich war aufgewühlt und spürte innerlich große Wut in mir. Wut auf die Chooserin, die mich in diese Lage gebracht hatte. Wut auf mich, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte und Wut auf Diana, die nur in unverständlichen Rätseln sprach.
»Dein Schicksal erfüllen«, erwiderte die Frau und verzog ihr Gesicht mitleidig.
»Nein, danke für das Angebot«, gab ich ohne nachzudenken von mir und setzte ein gespieltes Grinsen auf.
Ich wollte bloß nicht zeigen, dass meine Beine vor Angst zitterten, deshalb hob ich zusätzlich das Kinn und erwiderte den starren Blick der Göttin. Mein Gegenüber schüttelte traurig den Kopf.
»Dir wird aber nichts anderes übrigbleiben. Fatum viam invenit.«
Sie betonte jedes Wort und ich wollte sie nur anschreien, denn nach all den Jahren wusste ich endlich, ohne eine Antwort darauf bekommen zu haben, was diese beschissene Phrase bedeutete. Das Schicksal findet seinen Weg. In diesem Moment hasste ich diesen Satz und alles, wofür er stand. Ich hätte schreien können vor Hass, doch ich schrie nicht. Ich tat gar nichts. Dabei wollte ich nichts lieber als ihr verständlich zu machen, dass ich ein normaler Mensch war. Ich blieb einfach nur wie erstarrt stehen, als sie aufstand und auf mich zukam.
»Du schaffst das. Dafür wurdest du geboren, Tochter der
Nacht. Dein gesamtes Leben wird sich ändern.«
Mein Leben war kein Zuckerschlecken gewesen, doch Veränderungen bedeuteten nie etwas Gutes. Die Frau sah die zwanzig Zentimeter zu mir auf, bevor sie ihre Hand ausstreckte und mein Schlüsselbein entlangfuhr. Meine Lippen bebten und mein Herz schlug gegen meine Brust. Mein Atem ging stoßweise. Fest biss ich die Zähne zusammen und unterdrückte den Drang, ihre Hand wegzuschlagen.
»Vergiss nicht, du bist nicht allein. Du wirst nie wieder allein sein.«
Ich war gut im Alleinsein, wollte ich sagen, doch wieder blieb ich stumm. Mein Brustkorb begann zu kribbeln und dann wurde alles schwarz.
Ich schreckte aus dem Schlaf, als ich ein Klopfen an der Tür hörte.
»Einen Moment!«, rief ich und sprang aus dem Bett. Ich öffnete die Tür, doch auf dem Gang war niemand zu sehen. Als ich mit meinem verletzten Fuß auftrat, spürte ich einen schmerzhaften Stich und seufzte frustriert. Das würde eine Weile weh tun. Ich schmiss die Tür wieder zu, in dem Glauben, es mir eingebildet zu haben, und ging in das kleine Badezimmer neben dem Fenster. Es sah sauber aus und ich beschloss, mir den Angstschweiß dieser Nacht abzuwaschen. Ich fühlte mich klebrig, weshalb ich froh war, dass ich mein Duschgel von zuhause eingepackt hatte. Während warmes Wasser aus dem Duschkopf floss, zog ich mir die enganliegende Hose aus und schälte mich aus meinem Tanktop.
Gerade als ich meine Unterwäsche auf den geschlossenen Toilettensitz legte, klopfte es wieder an der Tür. Verärgert schnappte ich mir ein Handtuch und wickelte meinen Körper darin ein. Ich humpelte zum Eingang und riss die Tür mit Schwung auf, doch wieder war niemand zu sehen. Ich atmete tief durch und schloss die Tür wieder mit einem lauten Knall.
Kurz darauf stand ich unter der Dusche. Der Dampf fühlte sich sanft auf meiner Haut an und das Wasser entspannte meine Muskeln. Genießerisch schloss ich die Augen und ließ mich von der Wärme einlullen. Wie aus weiter Ferne hörte ich wieder ein Klopfen, doch diesmal ignorierte ich es. Ich lehnte meinen Kopf gegen die Fliesen der Badezimmerwand, die sich kühl an meinem erhitzten Körper anfühlten. Langsam fiel der Schockzustand von mir ab und ich konnte endlich tief durchatmen, ohne dass mir die Angst die Kehle zuschnürte. In meinen Wimpern schimmerten Wassertropfen und meine nassen Haare klebten an meinem Rücken. Es klopfte wieder und ich begann, meinen Kopf gegen die Wand zu schlagen, bis ich Kopfschmerzen bekam. Ich rollte genervt mit den Augen, weil die angenehme Atmosphäre der Glückseligkeit wieder verschwunden war. Das Duschgel stand griffbereit und ich seifte mich Zentimeter für Zentimeter ein. Das Klopfgeräusch wurde lauter. Ich duschte mich ab, um den dreckigen Schaum abzuspülen, und auch Minuten später, als der Seifenschaum schon verschwunden war, ließ ich das Wasser noch über meinen Körper fließen. Danach nahm ich das Handtuch und rubbelte meine Haut trocken. Als ich an meinem Dekolleté ankam, erstarrte ich. Mein Schlüsselbein zierten weinrote Verschnörkelungen, die wie Blätter aussahen. In der Mitte der Verzierungen befand sich das Brandmal der Anwärter, doch es sah für mich fast so aus wie ein Gemälde, denn das Mal war nicht mehr nur ein dünner Umriss, sondern es war ein ausgefüllter Stern, der sich von innen nach außen zu bewegen schien. Mit dem Finger zog ich gebannt die Konturen des Zeichens nach, bis ich realisierte, dass es für immer auf meiner Haut bleiben würde.





