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Von Giovannis Honigseim endgültig auf die Schwingen der Sünde gehievt und angestachelt durch die prächtig funktionierende Demütigung Gernots, riss Krupp mit zwei schnellen, kräftigen Handbewegungen seine weiße Robe vom Hals bis zum Saum auf und bot sein Gemächte den geifernd schwülen Blicken der Burschen dar. »Soll ich euch’s beweisen?!«, rief er in die Runde.
Giovanni hatte als erster die Fassung wiedergefunden und jubilierte: »Si, si, Capitano!«
Worauf sich ein allgemeines »Bravo, bravissimo!«-Gegröle in der heißen Luft breitmachte. Und befeuert vom Applaus der aufgedrehten Jünglinge regte und reckte sich ganz allmählich Krupps rosarote Lanze mitten in den Freudentaumel. »Hier Jungs, bitte sehr«, juchzte – unverhohlen von sich selbst begeistert – der Ur-Heber.
»Ecco!«, pflichtete voller Bewunderung sein Adlatus bei.
Und der verschwitzte Teutone stammelte ebenfalls sichtlich beeindruckt: »Stolzgeschwellt! Friedrich Alfred, das nenn’ ich stattlich. Stattlich nenn’ ich das.«
Wobei die letzten zwei, drei Worte im zischenden Paaaf des Blitzlichtpulvers und im Auslöserklackern untergingen. Prompt richtete sich der Fokus des Tumults auf mich. Gradezu beängstigend schnell schien Krupp erneut völlig nüchtern und ließ eine Flut unflätiger Flüche über mich hereinbrechen, die wiederzugeben des Sängers Höflichkeit nun wirklich verbietet. Was denn das jetzt hier zu bedeuten habe?! Also – also das sei doch wohl die Höhe! Sein senkrecht geschwollener Stolz neigte sich zusehends vornüber und büßte a tempo Macht und Größe ein. Krupp japste nach Luft, und seine Stimme überschlug sich. »Was haben Sie hier rumzuknipsen? Es war nur ausgemacht, dass Sie fotografieren, solange wir hier Modell sitzen, die Herren und ich. Von einfach wild draufhalten war nicht die Rede. – Die Platten sind meine, dass wir uns da ganz klar verstehn!«
»Selbstverständlich«, antwortete ich dienstfertig, »ich werde Ihnen umgehend einen Abzug zukommen lassen, Herr Krupp.«
»Keinen Abzug; die Platten! Und zwar sofort.«
»Tut mir aufrichtig leid«, versuchte ich es noch mal auf die servile Art, »aber die Fotoplatten sind und bleiben ...«
»Die Platten her, sonst zieh ich sie eigenhändig aus Eurer Kiste da!«
Und Krupp ballte die Faust, oder besser: das Fäustchen. Trotzdem reichte dieser mäßig martialische Anblick aus, die schlankranken Jünglinge in Berserker der übelsten Sorte zu verwandeln. Von einer Kakophonie aus derbem »Puta de madre!«-, »Che palle!«- und »Mama mia!«-Gezeter begleitet, kamen sie langsam, ganz langsam, leise, ganz leise eine Capri-Schnulze summend, auf mich zu. Scheint’s ohne überhaupt zu bemerken, dass sie einen Tisch voller Flaschen und Gläser umstießen, dass ein Stuhl krachend zu Bruch ging, dass eine der hochgereckten Fäuste sich in einem Gobelin verfangen hatte und diesen aus seiner Verankerung riss. Schließlich standen sie so dicht vor mir, dass meine Nase übelst beleidigt wurde von dieser geballten Mixtur aus Amaretto-, Prosecco-, Grappa-Atem, die mir entgegenschlug. Die Luft vor meinen Augen flimmerte wie eine Fata Morgana. Bevor die aufgebrachten Gesellen einen kurzen Zwischenstopp einlegten, als müssten sie doch noch so was wie einen Rest von Beißhemmung überwinden, um mir endgültig an den Kragen zu gehen.
Daheim hatte man Friedrich Alfred Krupp das Label »Kanonenkönig« verpasst, genau wie seinem Vater. Friedrich Alfred galt – keineswegs zu Unrecht – als einer der Hauptmatadoren der aggressiv-militaristischen Politik des Kaiser-Wilhelm-Reichs. Auf Capri hingegen hatte er in dieser Einsiedlerhöhle hoch überm Meer sein Refugium für jene Fantasien installiert, die so gar nicht zu dem nach außen getragenen Bild des stahlharten Fabrikanten passten. Hier tauchte er ein und ab in kindlich romantische Sphären. Sodass für uns Heutige sogar höchst zweifelhaft erscheinen mag, ob die andere von ihm an den Tag gelegte, allerdings ausgesprochen gesellschaftsfähige Obsession, seine Tätigkeit als Forscher der Meeresfauna nämlich, aus echtem zoologischen Interesse herrührte oder nur dazu diente, seiner eigentlichen Leidenschaft einen Deckmantel umzulegen. Dass er indes ein ausgeprägtes Doppelleben führte – zu Hause eingebunden in ein knallhartes System äußerer Zwänge, auf Capri dagegen verschwimmend in den sonneglitzernden Weiten des tyrrhenischen Meers –, das steht außer Frage.
Quasi als Memento des reichsdeutschen Alltagslebens brachte er neben seinem, sagen wir: artverwandten Ingenieur auch diesen von Julius Fahrenhorst ›Teutone‹ getauften Christian Wilhelm Allers mit nach Capri. Drei Jahre jünger als Krupp, also Mitte vierzig und ein damals im ganzen Reich äußerst populärer Zeichner, der sich vor allem durch seine Bismarck-Porträts einen Namen gemacht hatte. Und eben dieser Virtuose der Tuschefeder würde wenige Wochen nach jener letzten Spektakelparty in der gotisch gestylten Grotte zum Sündenbock gekürt werden. Doch folgen wir der Chronologie des Fahrenhorstschen Reports.
Gut, du hast mich als jungen Mann nicht gekannt, aber ich darf wohl sagen, dass meine Muskel-, gut, vielleicht nicht -berge, aber doch -hügel ähnlich straff waren wie deine heute. Und so wehrte ich mich nach Kräften und drosch mit der bleischweren Fotokamera auf die wild gewordene Rotte der Kruppschen Lustkomplizen ein. Dass im Zuge des einen oder andern wohl platzierten Streichs eine Mandoline saitensprengend zu Bruch ging und ein Satz wertvoller Porzellanvasen von der Anrichte gefegt wurde – na ja nun, auf gewisse Verluste konnte ich angesichts der angespannten Situation keine Rücksicht nehmen. Als Quittung für meinen einsamen und, wie du mir glauben magst, mit Schmiss und Hingabe vorgetragnen Kampf erntete ich einen bunten Strauß Faustschläge, der dem auf mich herabregnenden Wolkenbruch aus fauchenden Flüchen in wenig nachstand. Mit der am ausgefahrenen Stativ geschwungenen Kamera aber verfügte ich über eine verdammt wirksame Distanzwaffe, die mir jeden Bengel, dem es gelungen war, sich bis auf Tuchfühlung an mich ranzuarbeiten, wieder vom Leib schaffte. Und im Schwung meiner Rundumschläge posaunte ich, ein jeder solle, verflucht noch eins, bleiben, wo er sei und der Pfeffer wachse. »Sonst tanzt der Hammer. – Zurück, ihr Schweine, oder euch fliegt das Ding hier um die Ohren!«
Offensichtlich war ich nicht der Einzige, der davon beeindruckt war, welch streitbare Figur ich hier abgab. Um die aufgeputschte Stimmung aufrechtzuerhalten und seine Jungs nur ja davon abzubringen, den Schwanz einzuziehn und den Rückzug anzutreten, brüllte Krupp: »Voran! Schickt diesen Hanswurst in die Pampa!« Und er hängte noch eine Girlande unaussprechlicher Kraftausdrücke hintendran, die ich deiner unverdorbenen Seele nicht zuzumuten gedenke. Aber es half irgendwie alles nichts, Krupps Gezeter kam einfach nicht mehr als furioser Furor rüber. Sein anfänglich bassdröhnender Befehlston brach ihm unversehens auf halber Strecke weg. Und übrig blieb nur ein spitzes Fiepsfispelstimmchen. Der Pfeffersack schnappte mit asthmatischem Röcheln nach Luft und sein linkes Augenlid führte zitternd und zuckend einen wirren Tanz unter seiner Braue auf.
Angesichts dieser Situation dürfte es auch in deinen Augen entschuldbar sein, dass mir – angestachelt von Krupps zerbröselnder Stimme und dem Damoklesschwert meiner kreisenden Kamera – der Gedanke durch den Kopf schoss, da müsst’ sich verdammt ’n bisschen mehr draus machen lassen als bloß das Salär von Krupps Margarethe. Während ich im Zeichen der angespannten Lage die von Krupp vor wenigen Stunden versprochene Fotografengage ja wohl abhaken konnte. Ersatz musste her! Ersatz aus anderen, wenn auch verwandten Quellen.
Aber von den Penunzen mal ganz abgesehn, ich meine, irgendwie sollte die Sache mir ja schließlich auch Spaß machen. Ich begeistere mich nun mal für Geschichten, die was von einem Labyrinth haben, mehrere Ausgänge und mehrere Eingänge; und so wie sich die Sachlage hier darstellte, konnte ich ruhig den ein oder andern Knoten noch knüpfen, ohne dass mir das Ganze übern Kopf wuchs. Ich meine, immer nur der kleine brave Detektiv, der verschollenen Ehemännern hinterherfahndet! Warum sollte ich mich derart unter Preis verkaufen?! Bloß Informationen über die Untaten andrer Leute liefern, statt das Flämmchen auch selbst ein bisschen zu schüren! Wär doch zu schade, findest du nicht? Zu schade, wenn die Capri-Chose mit meiner Heimkehr ihr Bewenden gehabt hätte. Nein, war doch wohl nahe liegend, da noch ordentlich ein paar Schütten Kohle ins Feuer zu schippen. Bis es nach allen Regeln der Kunst sprudeln, sieden, kochen würde.
Wir haben es, wie gesagt, bei diesen Geschichten, nach allem, was bekannt ist, mit einem Mixtum Compositum aus historisch überlieferten und dazuerfundenen Episoden zu tun. Gleiches gilt hinsichtlich des Personals. Dies sei hier nicht nur angeführt, um der Wahrheit die Ehre zu geben, sondern auch um vorauseilend schon mal eine eindringliche Warnung abzusetzen: Es könnte durchaus sein, dass die geneigte Leserschaft den Eindruck gewinnen möchte, sie werde hinters Licht geführt! Und das nicht ganz zu Unrecht. Wer nämlich dem weiteren Fortgang der Geschichte folgt, wird der Gefahr kaum entgehen, nicht mehr zwischen Dichtung und Wahrheit unterscheiden zu können und sich im Reich wilder Spekulationen zu verlieren.
Schließlich war mein Großvater, als er mit dieser Story rausrückte, beileibe nicht mehr der Jüngste. Er hat sie zurückgehalten, bis ich genau das Alter erreicht hatte wie er damals: 25. 1967, die Studentenrevolte kam allmählich in Gang, was er mit Wohlwollen zur Kenntnis nahm, als Neunzigjähriger also nahm er mich zur Seite und erzählte mir brühwarm diese hanebüchene Geschichte, die sich in seinem fünfundzwanzigsten Jahr zutrug. Und die er in den sechseinhalb Jahrzehnten seither eifrig ausgeschmückt haben mochte.
Werfen wir, um das schillernde Verhältnis zwischen Facts und Fiction in den mitunter etwas grob gewirkten Vernetzungen seines Berichts zu verdeutlichen, einen abgeklärten Blick aus der zeitlichen Distanz auf die Rollen und ihre Darsteller: Großvater Fahrenhorst hat ganz fraglos den Reigen der real existierenden Protagonisten – nach dem Motto: üppige Szenerie belebt das Geschäft – angereichert um etliche seiner Fantasie entsprungene Figuren. Versteht sich von selbst, dass auch bei diesen – fast – frei erfundenen Akteuren Ähnlichkeiten mit damals lebenden Größen weder unbeabsichtigt noch vermeidbar sind. Andere Herrschaften dagegen sind tatsächlich ganz realiter in Erscheinung getreten. Sämtliche hier und später auftretenden Krupps zum Beispiel. Ebenfalls der Zeichner Allers, wie gesagt. Und, versteht sich, seine Majestät Wilhelm II., Deutscher Kaiser und König von Preußen, von dem an späterer Stelle noch die Rede sein wird.
Ob es aber stimmt, dass, wie mein Großvater beteuerte, er selbst der Dreh- und Angelpunkt dieser unsäglichen Geschichte war, der Mittelpunkt des Spinnennetzes, wo alle Fäden zusammenliefen, oder ob das möglicherweise nur seiner blühenden Fantasie entsprungen sein mag, ist keineswegs eine ausgemachte Sache.
Mitten in diesem ausgewachsnen Höhlentohuwabohu schrie ich Krupp nach Leibeskräften an, wenn er seine Bluthunde nicht augenblicks zurückpfeife, dann werde er aus diesem Possendrama hier nicht mit heiler Haut rauskommen. »Dafür werde ich sorgen, so wahr ich hier stehe!«
Wodurch sich Allers veranlasst fühlte, mit weichweinerlicher Stimme zu sülzen, man solle doch um Gottes Willen nicht derart grob zueinander sein, der Abend habe doch so herrlich einvernehmlich angefangen. »Und nun das!« Aber diese Harmonie- und Freudebeschwörung verhallte genau wie meine Warnung an Krupps Adresse ungehört im Gebrüll der Capreser Kerle, unter denen sich besonders Giovanni mit schrillen »Avanti avanti!«-Rufen hervortat. Ich setzte also noch mal nach und schrie mit der ganzen Stimmkraft eines Todgeweihten: »Überlegen Sie sich das gut, Krupp, wenn Sie mich hier abservieren, das überleben Sie nicht!«
»Ihr wollt dem größten Stahlbaron Europas drohen! Dass ich nicht lache. Geht mir aus der rosa Sonne Capris, Knipser, schmieriger!«, versetzte Krupp. Er hatte sich offenbar von seiner asthmatischen Schwächeattacke erholt, trug seine Offensive jedenfalls einigermaßen überzeugend vor.
Man musste schon ziemlich mit Blindheit geschlagen sein, um nicht zu merken, dass inzwischen auch der allerletzte Rest der schwülamüsanten Atmosphäre verflogen und ausuferndes Schwadronieren keineswegs mehr angezeigt war, trotzdem ließ Allers sich nicht davon abhalten, mit seinem Toast auf die Knabenbelustigung fortzufahren: »Hach, Leute, wir werden uns doch nicht Lust und Laune und Lust verderben lassen! Die Orgie hat schließlich grad erst angefangen. Angefangen erst. Ihr werdet doch nicht auf halber Strecke schlappmachen. Ohne Gomorrha, Leute, ist das schönste Sodom nichts, rein gar nichts!«
Krupp aber kochte! »Ich geb mich doch nicht her, hier Pose zu sitzen vor diesem albernen Apparat, wenn der Meisterfotograf anschließend wie verrückt um sich schießt mit seiner Kamera und die Fotos meistbietend an die geifernde Presse verhökert. Jungs, zieht ihm die Platte aus der Kiste und schmeißt ihn raus, aber achtkantig!«
»Dass nickt mehr weiß, wo Glocken eiern!«, war Giovanni zur Stelle und schob seinem Sätzchen kurzerhand selbst ein ausgiebiges Lachen hinterher. Als keiner so recht in sein Ziegenbockkichern einstimmen wollte, zog er die Augenbraue hoch und gab seinen Kumpanen einen Wink, die nächste Angriffswelle gegen mich anrollen zu lassen.
Die Jungs drückten den Rücken durch, ballten die sehnigen Fäuste, summten als Schlachtmusik wieder diese unsägliche Schnulze und machten ein, zwei Schritte auf mich zu. Eiligst, bevor der Kreis zu eng zu werden drohte und ich mit der Kamerakeule nicht mehr hätte gescheit Schwung holen können, ließ ich das Gerät mit seinen staksigen Beinen einen respektheischend ausladenden Kreis vollführen. Einen der Fischerknaben, der sich von hinten angeschlichen hatte und mir, wie ich jetzt erst bemerkte, reichlich nah gekommen war, traf die schwere Kiste volle Breitseite irgendwo zwischen Nieren und Becken. Er krümmte sich und hauchte »Merda«, während einige seiner Kollegen sich um ihn scharten und mich mit zorngeröteten Augen anblitzten.
Aber Giovanni schien der Schreck in die weingetränkten Glieder gefahren zu sein. Er hatte offenbar endlich begriffen, dass dieses Spielchen hier verdammt bitterer Ernst war. »Capitano, der nix will nach draußen«, wisperte er.
Und auch der dicke Teutone jammerte: »Jetzt lasst ihn doch! Lasst ihn. Das ist doch überhaupt gar nicht schön, was ihr da macht. Komm, Fritz, dein bunter bunter Abend geht munter weiter!« Worauf er, offensichtlich immer noch beseelt von der Hoffnung, das Ruder rumreißen zu können, flugs noch ein schmalztriefendes Jubilato anschloss: »Deine herrliche Feier war doch grade auf dem Höhepunkt, wenn ich mal so sagen darf, haha Höhepunkt ja. Da muss noch mehr Lust in die Luft, Genuss in den Fluss, Kerle, hebt die Becher, dass das Zeug nur so gluckert, das Zeug, Kerle, tanzt die Tarantella! Musike!! Lasst uns den hellen Mond begießen und genießen!«
Zumindest die Mandolinen in ihrer Felsnische dahinten schienen sich angesprochen zu fühlen und nahmen die Arbeit wieder auf. Was nun allerdings wiederum Krupp missfiel: »He hallo, Ruhe da! Allers, die Musik zahle immer noch ich. Und wenn ich sage, die Musik schweigt, schweigt die Musik.« Und die Mandolinen verstummten. Die Spieler gönnten ihnen nicht mal ein kurzes Nachklingen, drückten die Saiten wenig zartfühlend mit dem Daumen überm Schallloch ab. »Dionysos lässt sich nicht in die Suppe spucken«, knurrte Krupp. Und wie erlöst brüllten die Sündenspielkameraden endlich wieder ihr »Bravo, bravissimo capitano!« Worauf Krupp ein »Schon gar nicht von so einer hergelaufenen Dunkelkammerassel!« nachschob.
Da das geneigte Lesepublikum sich scheinbar immer noch nicht von der Lektüre hat abbringen lassen, wollen wir an dieser Stelle noch einmal – allerdings nun letztmalig – die obige Warnung wiederholen, dass es hier und später kaum möglich sein wird, die historische Wahrheit herauszudestillieren aus diesen Hirngespinsten eines, als er sie zum Besten gab, hochbetagten, als er sie erlebte, greenhornjungen Mannes. – Also bitte sehr! Und sagen Sie nachher nicht, man hätte Sie auf die im weiteren Verlauf des Traktats unumgängliche Irritation nicht nachdrücklich hingewiesen!
Was indes fraglos richtig, also historisch verbrieft ist, das ist diese bemerkenswerte Mutation Krupps, diese zwei Seelen ach in seiner Brust, um nicht zu sagen: seine Janusköpfigkeit! Auf der einen Seite gab er in seinem exquisiten Kaninchenbau mit großer Geste den Zampano. Auf der anderen Seite bekam er nüchtern die Zähne nicht auseinander. Hätte man nicht gewusst, welches Geld, welche Macht er besaß, man hätte ihn angesichts seines zurückhaltenden Auftretens im Essener Alltag für ein verschüchtertes Bürschchen halten können. Keinesfalls jedoch hätte man diesem in seiner Asthmaanfälligkeit eher gebrechlichen Hasenfuß, diesem untersetzten, kurzsichtigen Mann mit der spitzen abwärts weisenden Nase, dem geschwungenen Schnäuzer und der rosa durchscheinenden Haut zugetraut, ein derart riesiges Industrieimperium zu steuern. Was Friedrich Alfred unwillig zwar, aber, wie wir aus den historischen Quellen wissen, ausgesprochen souverän, gradezu mit links absolvierte. Und bei aller Zurückhaltung mit durchweg professioneller Contenance.
Eher aus preußisch staatsloyalem und familiärem Pflichtethos denn aus innerer Überzeugung heraus war Friedrich Alfred 1887 in die Fußstapfen des Vaters getreten und hatte als 33-Jähriger die Leitung des Konzerns übernommen. Doch erst der Tod des übermächtigen Vaters gab ihm die Chance, seine unbestreitbaren Managementfähigkeiten zur Entfaltung zu bringen.
Sein irdisches Elysium indes war und blieb Capri, jenes »vom Himmel gefallene Stück Erde«, wie er sich ausdrückte. Dort war die Firma weit weg und der hässliche, rauch- und rußgeschwängerte Herbstregen. Dort drehte er auf, schwor jedem Triebverzicht ab, schlug, umgeben von seinen Gespielen, über alle Stränge und Strenge und genoss es in vollen Zügen! »Wobei er die ganze Insel in Aufregung versetzt und huldvoll Brosamen aus dem Schatz seiner Millionen unter den Ärmsten der Armen verstreut«, schrieb die italienische Wochenzeitung Il Pungolo im Mai 1901.
Selbstredend wird niemand davon ausgehen wollen, dass Krupp sich bloß deshalb jedes Jahr einige Monate auf Capri aufhielt, damit er hier als mildtätiger Freund und Förderer des insularen Verkehrswegenetzes in die Geschichte eingehen würde. Zuvörderst war die Mittelmeerinsel für ihn, wie erwähnt, ein Rückzugsraum. War es für den Vater Alfred noch die Essener Villa Hügel mit ihren weitläufigen Garten- und Parkanlagen, wo er sich im »Comfort der kleinen Häuslichkeit« von den Strapazen des Fabrikantenalltags erholen und entspannen konnte, so musste Krupp junior schon allemal siebzehnhundert Kilometer zurücklegen, um der schwarzgrauen Kruppstahlwelt mitsamt der altautoritären Dynastie der verblichenen Patriarchen zu entkommen. Raus aus dem – bei allem Pomp und Luxus – öden Alltag eines Industriemagnaten samt Honigseimgesülze beim Kaiser und seiner Hofkamarilla, rein ins fließendweiche Reich des Ozeanischen, in azurblaue, unbegrenzte Welten.
In seiner Capreser Felshöhle bacchantischer Entgrenzung und Grenzenlosigkeit zu frönen, war praktisch seine einzige Möglichkeit, sich auszuleben. Die despotischen Anwandlungen indes, die hin und wieder seine Feierlaune durchkreuzten, hatte er offenbar von seinem Vater Alfred geerbt. Wiewohl dieser seine Selbstherrlichkeit keineswegs mit den weichen Zügen mediterraner Ausgelassenheit paarte. Im Gegenteil. Mit gnadenloser Zuchtmeisterstrenge malträtierte der alte Krupp Friedrich Alfred, sein einziges Kind. Er versuchte, den Sohn mit harter Hand einzunorden, und knebelte ihn umso drastischer, je deutlicher sich zeigte, dass der Sprössling aus der Art schlug, lieber Gedanken und Träume schaukeln ließ und den Fischen im Teich bei ihrem schlängelnden Spiel zusah, als sich den Anforderungen des kapitalistischen Alltags zu stellen. Schon als Kind war Friedrich Alfred eher in sich gekehrt, nachdenklich, verschlossen und prügelte sich nicht mit seinesgleichen. Und so war dieser dritte und letzte Krupp offenbar stets hin- und hergerissen zwischen seinen weichen, selbstverliebten Zügen und den Imperator-Attitüden des Vaters. Nicht Fleisch noch Fisch, weder gestrenger Unternehmer noch androgyner Menschenfreund, weder drakonischer Haudegen noch durchweg larmoyanter Schwächling. Jemand, der es verstand, einerseits den Kaiser und die tonangebenden Militärs scharfzumachen und so für seine Firma fürstliche Rüstungsaufträge an Land zu ziehen, der aber andererseits auf behagliche Geselligkeit bedacht war.
Im Eifer der aus dem Ruder gelaufenen Festivität war Krupp für seine Verhältnisse ordentlich in Fahrt gekommen. »Skandalknipser, der!«, brüllte er durch die heiligen Hallen seiner Grotte, »werft ihn raus, das ist keiner von uns. Ein eingeschleuster Schnüffler, der Kerl!! Raus mit ihm!« Und ohne dass die Jungs vermutlich auch nur die Hälfte von Krupps kurzer, aber munterer Philippika verstanden hätten, war sie trotzdem bestens geeignet, das wutbrodelnde Handgemenge erneut in Schwung zu bringen. Giovanni tat ein Übriges, indem er mit »Spia, spia!«- und »Traditore, che traditore!«-Ausrufen ein neues Kampfgebrüll anstimmte. Worauf die Reihen sich wieder schlossen und die Horde mit geballter Macht gegen mich vorrückte, als Krupp – entfesselt wie er war – den Tumult noch überbrüllte: »Da drüben, nehmt meine Angel, Leute, da müsste noch der Dreierhaken dran sein!«
Gesagt, getan. Froh, plötzlich und unerwartet – wie ich mit meiner Kamera – ebenfalls über eine Distanzwaffe zu verfügen, griffen die Kerls danach, und schon sirrte die Angelrute durch die Tabaknebel. Die Schnur schnarrte durch die Rolle, und fitsch – war mir der verdammte Haken in den Hals gefahren! Machst dir keinen Begriff, was für ein beißender Schmerz mir in die Glieder schoss. Und als ich nach dem Eindringling griff, spürte ich das Blut nur so hervorquellen. Mein »Ihr verdammten Schweine, ihr« ging völlig unter im »Bravo!«-Gebrüll der Capreser Liebeskadetten. All meine Bemühungen, den Dreizack so schnell wie möglich wieder loszuwerden, schlugen fehl. Im Gegenteil. Je mehr ich daran rupfte, zupfte, zerrte, desto tiefer trieb ich mir die Widerhaken unter die Haut. Saß verdammt gut, das Höllending.
»Hach, nicht!«, wimmerte der umfangreiche Allers, »wie das spritzt! Und spritzt. Ihr habt ihm ja den halben Hals aufgeschlitzt.«
Während ich mit unbeholfenen Fingern am Angelhaken rumfriemelte, hielt meine andre Hand krampfhaft die Kamera umschlungen, als wolle sie sich mitsamt meinem verbleibenden Schicksal an diesen bleischweren Strohhalm klammern. Da fiel mir plötzlich ein, dass ich ja noch eine weitere Blitzlichtlampe startklar gemacht, aber noch nicht zum Einsatz gebracht hatte. Und eh die naiven Fischerburschen wussten, wie ihnen geschah, hatte sich ein Schuss aus meiner Kamera gelöst. Das, was da knallte, war natürlich nichts als das harmlose Gemisch aus Kaliumchlorat, Schwefelantimon und Magnesiumpulver, und das, was ihnen da entgegenschlug, nichts als das grellhelle Licht seiner Entzündung. Trotzdem, der Schreck saß und ließ sie verdattert zurückweichen. So bescherte mir dieses ziellos in die Gegend geschossene Foto die Möglichkeit, mich etwas weniger hektisch dem Haken in meinem Hals zu widmen.
Doch die Atempause war nicht von langer Dauer. Von irgendwoher wehte ein entsetzt gehauchtes »Per amor di Dio!« rüber. Und noch während der Rauch des Blitzlichts zur Decke – senkrecht natürlich – emporstieg, um sich da oben mit dem Tabakrauch zusammenzutun und in Form ausschweifender Schwaden die Grotte zu durchwabern, ging Giovannis Raunen in einen gurgelnd erstickten Schrei über, der mir und, wie’s aussah, nicht nur mir einen Schauder über den Rücken jagte.
Genialer Handstreich! Während ich an der Angel zappelte, trug sich Krupps Capreser Lover – zack – mit einem Messer rum, das ihm bis zum Schaft im Brustkorb saß. Wahrhaftig kein schlecht gewählter Zeitpunkt für eine meuchelmörderische Attacke, muss man neidlos anerkennen. Als es in der Grotte brodelte wie im Suppentopf des Satans, stemmte jemand dem quirligen Italiener einen Schlitz zwischen die Rippen! Und zwar ohne dass es irgendwer aus der illustren Gesellschaft mitbekommen hätte. Dass indes nicht Giovanni selbst als Ausführungsorgan in Frage kam, stand außer Zweifel. Hätte es doch in krassem Widerspruch gestanden zu seiner lebenslustigen Art einerseits und zum Verlauf des Abends andererseits. Denn wie ich dir erzählt hab, hatte er ja just einen Triumph nach dem andern gefeiert und sich in der Gunst des reichen Gönners aus Germania endlich auf Platz eins gespielt.