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Ich jedenfalls war einstweilen aus dem Kreuzfeuer! Hatten sich die Burschen grade noch in stämmigem Muskelspiel ergangen, so heulten sie jetzt wild durcheinander: »Giovanni, Giovanni«, »Dio mio!« Wie Schuljungs ließen sie den Tränen freien Lauf. Und selbst die teutsche Stimmungskanone war endgültig zur Jammergestalt verkümmert. »Donnerkeil, sieht gar nicht gut aus! Was ist denn bloß los heute?«, wimmerte er und wand und krümmte seinen ausladenden Leib, als würde er von grimmigsten Koliken gepeinigt. Der Erste, der die Fassung wiedergewann, war, wer hätte das gedacht, Capitano Krupp.
»Raus!«, raunte er, »bringt ihn möglichst weit weg, irgendwo in die Macchia. Dass man ihn nicht mit meiner Grotte in Verbindung bringt.«
Die Jungs schienen ihren Zeremonienmeister einigermaßen verstanden zu haben, schleiften die Leiche des tragisch verblichenen Giovanni unter jaulendem Wehklagen Richtung Höhlenausgang, wo sie der wohl kräftigste Bursche zwar schwungvoll auf die Schulter hievte, dann aber wie eine Salzsäule stehn blieb, ohne einen Schritt in die laue Nacht zu tun. Denn vor ihm stand ich wie eine – vielleicht etwas wankende – Eiche und rief, während ich nach wie vor mit dem Haken in meinem Hals beschäftigt war, mit schmerzverzerrter Stimme: »Krupp, Sie müssen wen zur Polizei schicken. Das ist Mord! Hier können Sie jetzt mal ausnahmsweise nicht einfach zur Tagesordnung übergehn!«
Was immerhin mit einem vereinzelten »Carabinieri«-Ruf aus den Reihen der Amore-Brüder bedacht wurde, von Seiten Krupps aber mit der entsprechend unwirsch vorgetragenen Warnung: »Dass mir keiner was nach außen dringen lässt!! Kein Wort. Kein Sterbenswörtchen. Sonst seid ihr alle dran! Und die Grotte ist dicht, für ewig und alle Zeiten.«
»Verdammt noch mal, einer hier ist ein Mörder!«, ging ich noch mal dazwischen. Was mir aber womöglich nicht mit dem nötigen Nachdruck über die Lippen kam. Denn in diesem Augenblick war es mir endlich gelungen, Krupps Angelhaken aus meinem Hals zu porkeln.
»Sie unterliegen in der Aufregung einer Sinnestäuschung, Herr Fotograf«, konterte Krupp kühl.
Auch die Krokodilstränen der Caprikerle versiegten recht zügig. Und selbst der ach so sensible Dicke wusste mit weichen Worten abzuwiegeln: »Ist zwar unschön, wirklich hässlich, das hier, aber was muss, das muss.« Dann, von einer plötzlichen Eingebung getragen, bewegte er seinen üppigen Körper Richtung Ausgang, wo der Kerl mit der Leiche auf den Schultern – flankiert inzwischen von zwei, drei Kumpanen – immer noch unschlüssig rumstand. »Vielleicht könnt ihr ihn ja zu einem von euern zahllosen Wegkreuzen bringen!«, begeisterte sich der Fettberg, »das wär doch noch angemessen, angemessen wär das, wenn er da sitzen würde. Unterm Kreuz und schön weit weg, weit weg von hier.«
Der zerfahrene Trauerzug kam wieder in Bewegung, während ich eilends mit meinem Fotoapparat draußen vorm Höhleneingang Stellung bezog. Ohne dass ich wirklich gewusst hätte, wofür ich das Foto jemals würde verwenden können, war ich fest entschlossen, diesen Leichenzug aus der Grotte raus in die wunderbar sommerliche Septembernacht auf Platte zu bannen, hantierte also wie ein Blöder an meinen Gerätschaften herum, versuchte, das Stativ auf seine ewig ungleichen Giraffenbeine zu stellen, mehr oder weniger gleichzeitig eine neue Fotoplatte einzuschieben und ein weiteres Magnesiumlicht klarzukriegen, als – als ich plötzlich – ja, halt dich fest! – als ganz langsam, aber ganz sicher unter meinen Füßen der Boden in Bewegung geriet. Zur Hölle mit diesem klapprigen Stativ – das, das – verdammt – die Füße, butterweich, da war absolut nichts mehr – nichts mehr ...
Während sich das Entsorgungskomitee auf den Weg machte, seinen unrühmlichen Auftrag hinter sich zu bringen, war ich so richtig ins Straucheln gekommen, noch bevor ich das Leichenzugfoto hatte schießen können. Ohne dass irgendjemand davon Notiz genommen hätte – die wein- und rührselige Männergesellschaft war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt –, bröselte unter meinen fahrig scharrenden Füßen die knochentrockne Erde weg wie Paniermehl. Und dann paddelten meine Beine auch schon durch die Luft.
Genau in dem Moment, wo ich mit dem Kameraklotz die Klippen runter, da bin ich, als hätt’s nichts Wichtigers gegeben in dem Augenblick, wo’s abging nach unten, bin ich mit dem Blick hängen geblieben an dieser Inschrift vorm Höhleneingang: »Parva domus, magna quies« – Ich weiß nicht, kannst du Latein? – »Klein das Haus, groß die Ruhe.« Ich tat einen mörderischen Schrei und sah im Sturz noch, wie sich allmählich ein feistes Teutonengesicht über die Abrisskante schob und mit bestürzter Miene meinen Abgang verfolgte. Nützte mir zwar auch nichts mehr, aber immerhin. Wenigstens einer befand meinen Abschied von dieser Welt eines Blickes würdig.
Da wir die Überlieferung Großvater Fahrenhorsts, wie vereinbart, für bare Münze nehmen wollen, dürfen wir davon ausgehen, dass der Maler Allers die Klippen hinabsinnierend gemurmelt haben mag, wie schade es doch um die wunderbare Anmut dieses Künstlerkörpers sei, der sich da gerade anschicke, knapp vor Sonnenaufgang die Steilküste Capris im Sturzflug hinter sich zu lassen. Während asthma-attackiert Friedrich Alfred Krupp hinzugetreten sein mag, in einem fort seinen Schnauzbart zwirbelnd: Wo denn eigentlich der Knipser geblieben sei, ob der sich etwa aus dem Staub gemacht habe. Worauf Allers, ohne wirklich zu antworten, wohl wieder ins Schwärmen geriet und ihm der überquellende Geifer in die Mundwinkel trat. Was hätte er darum gegeben, dieses wunderbar weiche, vor Schreck geradezu ins Konturlose verschwimmende Gesicht zu zeichnen, die Ästhetik dieses Moments ungeschminkter Panik zwischen Bleistift und Papier zu nehmen, auf dass sie den Tod überdauere, den Tod!
Wiewohl der Besungene selbst auf seiner holprigen Reise abwärts von dieser speicheltriefenden Laudatio, versteht sich, kein Sterbenswörtchen mitbekommen haben kann. Ein Produkt nachgeschalteten Zusammenreimens also.
2
Das Laub im Park rund um die Villa Hügel hatte sich vom allmählich Einzug haltenden Herbst bereits beeindrucken lassen und trug seinen Teil zur Farbenpracht bei, bevor es in absehbarer Frist unterm rußgetränkten Ruhrdauerregen Kieswege und Rasen mit einem zähen, morbiden Matsch überziehen würde.
Zukunftsaussichten, die allerdings jenem in goldrotes Licht getauchten Oktoberabend des Jahres 1902, an dem mein Großvater seiner Arbeitgeberin erste Resultate vorweisen sollte, ebenso wenig anhaben konnten wie dem mondänen Auftreten Margarethe Krupps. Vornehm gekleidet wie immer und mit generalstabsmäßig zackigem, einer Dame von Chic und Elegance recht eigentlich wenig angemessenem Schritt.
Wenn du mich fragst, Krupps Grethe war wahrlich keine Schönheit. Wird sie wahrscheinlich nie gewesen sein. Bisschen vorquellende Augen, dann diese schwammige, nicht grade zierliche, nun ja, vielleicht nicht ganz Knollennase, aber sagen wir: Rundnase, die ihr Gesicht jedenfalls irgendwie zu weit vorpreschen lässt. Also alles, was recht ist, schön ist anders.
Die feinen, ganz feinen Fältchen der leicht, ganz leicht gekräuselten Haut zwischen ihrer Oberlippe und der Nasenwurzel zitterten wie die Falten vom Balg der Quetschkommode einer nervösen Bergmannskapelle, als sie mit spitzer Stimme fragte: »Haben Sie wenigstens die Fotoplatten retten können?«
»Einen besseren Anker als meine Kamera kann man sich kaum wünschen«, sagte ich, »hat sich mitten im Sturz mit ihrem staksigen Stativ irgendwie im Macchiagestrüpp verkeilt. Und ich hänge dran wie ein Klammeraffe. Und, ja, die Platte, die noch im Apparat steckte, grade frisch belichtet, hat den Sturz auch heil überstanden.«
Solltest du jetzt erwartet haben, dass Krupps Frau sich nach meinem Wohlbefinden in dieser ja nun wahrhaftig brenzligen Situation erkundigen würde, nach Verletzungen, Schrunden und Wunden – Fehlanzeige! Nicht der leiseste Hauch eines Mitgefühls. Immerhin war es bei dem von ihr selbst in Lohn und Brot gestellten Schnüffler in Capri um Leben und Tod gegangen, verdammt.
Indes ein Dragoner im eigentlichen Sinne war sie wohl nicht. Eher: durch und durch die pragmatische Geschäftsfrau. Solange sie ein klares Ziel vor Augen hatte, legte sie eine konsequente, starke, eine höchst sichere Persönlichkeit an den Tag. Und selbst wenn nicht alles zum Besten stand, so gelang es ihr doch irgendwie immer, aus dem verzwirbelten Knäuel noch der widrigsten Umstände ein Packende herauszuwinden. Ohne Frage jedenfalls war sie alles andere als eins jener einfältigen oder für einfältig gehaltenen Weibchen, mit denen sich ansonsten die Tycoons des Kaiserreiches umgaben, um sich nach Patriarchenmanier bräsig in der Sicherheit zu wiegen, dass einem die Gnädigste nicht in die Geschäfte guckte und spuckte und man sich unangefochten von weiblicher Gefühlsduselei auf dem Parkett der großen Politik tummeln konnte.
Zack – war die Krupp stehn geblieben, griff mir in den Arm und stieß hervor: »Und? Fahrenhorst, spannen Sie mich nicht auf die Folter! Was ist drauf zu sehn, auf Ihrer Platte?«
»Also, ich, ehm ...« – Ich weiß auch nicht, eigentlich war Stammeln nicht meine Art, aber hier, aber jetzt ...
»Wollen Sie mehr Geld?«
»Nein nein, gnädigste Frau Krupp, weit gefehlt«, brachte ich mit mehr schlecht als recht gespielter Bestimmtheit raus. »Es ist bloß – also, ich bin noch nicht in die Dunkelkammer gekommen, bin ja man grad erst aus Capri zurück.«
»Aber Sie werden sich doch daran erinnern, was Sie da auf Platte gebannt haben!«, hakte sie ohne Erbarmen nach, und die Oberlippenfältchen zitterten ihr einen aus dem Takt geratenen Preußen-Marsch ins Gesicht.
»Also, ehm, ich glaube, wenn ich mich recht entsinne, dürfte das Foto, also ehm, Ihren werten Herrn Gatten zeigen mit der Angelrute in der Hand beim Sonnenunter...«
»Sie brauchen mich nicht zu schonen, Fahrenhorst«, ging sie mit eilends wieder restaurierter Bestimmtheit dazwischen. »Ich bin im Bilde.«
»Wie bitte – wie meinen Sie das?« Es gelang mir nicht im mindesten, die Verwirrung zu verbergen, die dieser Satz in meinem geplagten Schädel anrichtete, der noch keinen Augenblick zur Ruhe gekommen war nach dieser Reise, die an – im wahren Sinne des Wortes – sich überschlagenden Ereignissen ja nun nicht arm gewesen war.
»Keine Angst« – also das musst du dir auf der Zunge zergehn lassen, wie die mich hier zerpflückte –, »ich nehme es Ihnen nicht übel, dass Sie immer den Kern der Wahrheit ausgespart haben.«
»Ich, ehm ... Ich hab noch ein zweites Foto geschossen von Ihrem Mann, als er grade in fröhlicher Gesellschaft war mit einer illustren Schar von Fischerburschen«, stammelte ich und hoffte, damit fürs erste aus der Bredouille zu kommen.
»Das stand nämlich alles in zwei Briefen an mich«, vernichtete sie meine Hoffnung im Handumdrehn, »die ganze unsittliche Betriebsamkeit meines Mannes auf Capri haarklein beschrieben! In zwei anonymen Briefen. – Fahrenhorst, haben Sie eine Ahnung, wer der Absender sein könnte?«
»Werd ich umgehend rausfinden«, war ich einigermaßen flott zur Stelle. Unter meinem Schädeldach aber schlugen die Gedanken Kapriolen. Wie in drei Teufels Namen war hier eine auch nur halbwegs schlüssige Logik in den Gang der Ereignisse zu bringen?! Mal zurück zu Gernot, ich meine, kannst du dir einen Reim auf dessen Naivität machen? Als systematisch denkendem Ingenieur hätte ihm doch nun wirklich von vornerein klar sein müssen, dass Fritze Krupp mit Kampagnen gegen den Paragraphen 175 nichts würde zu schaffen haben wollen, auf den Tod nicht. Hätt’ er sich ja offenbaren müssen. Und das bei seiner kruppstahlharten Gesetzestreue! Jede Wette, dass der sich sowieso mit Gewissensbissen der übelsten Sorte rumschlug. Da kam er doch überhaupt nicht drumrum, dem Gernot den Tritt der Tritte zu verpassen. Klar, dass der Herr leitende Ingenieur daraufhin am Boden zerstört war; schließlich war ihm da – schnack – die Beziehung zu einem stinkreichen Bewohner des Olymps weggebrochen. Und vielleicht, ich meine, wer will das wissen, wirst du auch nicht von der Hand weisen können, vielleicht hat er Krupp ja tatsächlich geliebt. Soll selbst unter Schwulen vorkommen. Jedenfalls weidwund wie er war, hat Gernot sich dann wahrscheinlich postwendend hingesetzt und die anonymen »Aufklärungsbriefe« an Krupps Frau geschickt. Rache pur. Oder, was meinst du – obwohl du kennst ihn schließlich auch nicht besser als ich, trotzdem: Meinst du, es ist sogar denkbar, dass er, wo er schon mal dabei ist, kurzerhand seine weltpolitischen Maximen über Bord kickt und die italienische Presse auf den Stand bringt über das, was der deutsche Eisenbaron auf Capri so treibt? Eher unwahrscheinlich, oder? Wie also kam dann die Meldung in dieses linke Käseblatt aus Neapel, wo die ganze Chose öffentlich ausgebreitet wurde? Davon allerdings konnte die Krupp nun überhaupt gar nichts wissen – war ja wohl kaum von auszugehn, dass sie allmorgendlich die revolutionäre italienische Provinzpresse studierte.
Zunächst hatten die italienischen Behörden vorsichtig Bedenken angemeldet und durchaus noch wohlmeinend durchscheinen lassen, man werde dem unrühmlichen Treiben in der ›Grotta di Fra Felice‹ nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag tatenlos zusehen. Bereits im September 1902 dann gab es erste, noch leidlich diskrete Meldungen in italienischen Zeitungen, bis am 15. Oktober schließlich das neapolitanische Blatt »La Propaganda« in elegischer Breite schilderte, was sich so alles bei Krupps Banketten zugetragen haben mochte. Ein Artikel, den sich sodann der sozialdemokratische »Vorwärts« zu Herzen nahm, um auf dieser Grundlage genau vier Wochen später einen ähnlich detaillierten Beitrag zu veröffentlichen, mit allerdings, wie wir wissen, durchschlagender Wirkung.
Während ich mir noch den Kopf zerbrach, hatte Margarethes Krämerseele die Arbeit längst in gewohnter Routine wieder aufgenommen. »Was die entsprechende Extraprämie für die Ermittlung des Absenders dieser Briefe angeht, Fahrenhorst«, sagte sie unvermittelt, »da werde ich mich nicht von der knausrigen Seite zeigen. Aber sorgen Sie mir dafür, dass der Briefschreiber sich bedeckt hält!«
Hinter der kühlen Fassade Margarethe Krupps muss es, nach dem zu urteilen, was Großvater Fahrenhorst mir erzählte, gekocht haben. Bei hinreichend kriminalistischem Spürsinn, wie wir ihn meinem Großvater unterstellen wollen, konnte man leicht auf die Idee kommen, diesen Umstand als Indiz dafür zu deuten, dass auch Frau Krupp, was das – wie noch zu berichten sein wird – unsanfte Ende ihres Mannes anging, in den engeren Kreis der Verdächtigen einzureihen war. Nervosität, zumal versteckte, ist bekanntermaßen ein Verdachtsmoment erster Güte!
3
Nicht lange nach meinem steilen Abflug wird sich in der ›Grotta di Fra Felice‹ die illustre Gesellschaft allmählich aufgelöst haben. Die Capreser Jungs verdünnisierten sich vermutlich in den frühen Morgenstunden, nicht ohne flugs noch mal eben die Penunzen nachzuzählen, die der deutsche Stahlbaron ihnen zum Abschied zugesteckt hatte, sei’s als Schweigegeld, sei’s als Lohn für ihre speziellen Dienste. Gernot und Krupp selbst gönnten sich noch zwei, drei Tage auf Capri, um die Wunden zu lecken. Dann trat auch Krupp mit seinem Ingenieur im Schlepptau die Rückreise an, und Allers zog sich zurück in seine Villa. Was mir alles dieser jungeifrige Informant berichtete, den ich seinerzeit ja bereits an Bord der Fähre aufgetan hatte.
Ganz in der Nähe der Via Krupp lag die Villa Tragara alias »Villa Allers«. Der Maler hatte sie Anfang der 1890er Jahre bauen lassen, bezahlt vom Verkaufserlös seiner Buchillustrationen und vor allem seiner zur damaligen Zeit viel beachteten Mappen mit Zeichnungen. Was die Architektur seiner Villa anging, bediente er sich des traditionellen Capreser Formenkanons und stattete seine Veranda mit weinüberwucherten Pergolas und Säulenreihen aus. Und mit einer Steinbank, deren Sitzfläche auf weiß verputzten Rundbögen ruhte, die an den »Arco Naturale« erinnerten, jenen wenn auch nicht weißen Klippenrundbogen, der unten mit nassen Füßen vor der Küste steht, gleich vis-a-vis der Villa, im leuchtend blauen Wasser draußen.
Wenn er nicht gerade auf einer seiner vielen Reisen war, saß Allers mit Vorliebe auf eben dieser Bank, eine Karaffe Rotwein und eine Schale Früchte auf einem wilhelminisch verschnörkelten Tischlein daneben, umarmte seine Plauze und blickte hinaus aufs Meer, das unten gegen die Steilklippen brandete und sich in weiter Ferne an den Himmel schmiegte.
Weiß ich nicht, ob man sich auf meinen Informanten verlassen kann, aber dass der dicke Teutone die Tage nach dieser Nacht der tödlichen Turbulenzen nutzte, um die Szenen des dionysisch ausgeuferten Spektakels in einem ganzen Stapel von Zeichnungen festzuhalten, das trifft mit Sicherheit zu. Selbstverständlich in einem geheimen Skizzenbuch, das Wochen später auf mindestens ebenso geheimen Wegen in meine Finger geraten sollte. Zu treuen, zu äußerst treuen Händen, wie sich versteht. Nur so viel: Es handelt sich um Zeichnungen, die kein Blatt vor die Augen nehmen. Das ganze schwül ambrosische Ambiente, die mandolinenplinkernde Combo, die pokulierenden Jünglinge in ihrer ganzen Schönheit, nackt wie Gott sie geschaffen hatte. Und sogar die Szene, als Krupp und dieser Giovanni dem langen Gernot und seiner kurzen Wurzel so zusetzten. In allen, ich sage: in allen Einzelheiten! Auch die Aktzeichnungen, die er von dem ein oder andern Fischerburschen anfertigte, waren, was die Offenherzigkeit en detail angeht, nicht grade zimperlich. Er setzte den Jungs Lorbeerkränze auf, postierte sie malerisch auf ein Mäuerchen vor fleischiger Flora und ließ ihre ohnehin spärlichen Gewänder fallen. Oder er hieß einen noch mal die Grottenkutte anziehn, gab einem andern Lanzen und Säbel mit üppigen Knäufen in die Hand. So soff Allers sich ein ums andre Mal satt an den Eindrücken, die diese Nacht der Nächte bei ihm hinterlassen hatte.
In eben jenen Tagen machten auf Capri die wüstesten Gerüchte die Runde über das, was sich in der Bruder-Glücklich-Grotte so alles zugetragen haben mochte. Gerüchte, die hartnäckig behaupteten, der wohlbeleibte deutsche Zeichner wär unter den höchst zweifelhaften Gästen gewesen und habe bei all den sündigen Umtrieben kräftig mitgemischt. Wo diese Meldungen ihren Ursprung nahmen und wie es ihnen letztlich gelang, bis in Allers’ Refugium vorzudringen, das kann ich dir auch nicht sagen. Jedenfalls stieg ihm der Dampf der Gerüchteküche in die Nase. Und – was macht er? Erst mal natürlich mit großer Geste bestreiten, überhaupt dort gewesen zu sein. Und dann, als das beim besten Willen nicht mehr zu halten war, die Festivitäten aufs Niveau eines ganz normalen Banketts mit Meeresfrüchten runterspielen.
Je mehr Christian Wilhelm Allers versuchte, sich gegen die Anwürfe zur Wehr zu setzen, desto mehr nahmen sie an pikanter Schärfe zu. Bis sie sich schließlich zu der Behauptung aufgeschaukelt hatten, der Zeichner aus Germania habe sich nicht nur mit seinesgleichen sündig amüsiert, sondern auch mit Knaben, die keineswegs dreimal sieben Jahre alt waren. Und keine Frage, der Maler muss ganz genau gewusst haben, was das bedeutete.
4
Du glaubst gar nicht, wie froh ich war, als ich endlich unten im Keller meines Essener Häuschens in der Dunkelkammer stand. Mein Zufluchtsort, wenn um mich rum die Luft brannte! Ich plätscherte mit der Fotoplatte in der Entwicklerlauge und war gespannt wie ’n Flitzebogen, was da wohl ans Tageslicht kommen würde. Irgendwann allerdings, ich hab keine Ahnung, wie lang ich schon gebannt auf die Platte in ihrer Brühe da starrte, irgendwann schlug die erholsame Ruhe in fiebrige Ungeduld um. Die übliche Zeitspanne war schon zweimal abgelaufen, die Entwicklung musste längst komplettamente vollzogen sein, aber nichts tat sich. »Himmel noch mal, komm schon!«, murmelte ich und gab der Platte noch mal einen Schubs, damit die Lauge von allen Seiten dagegenschwappen und ihre Arbeit endlich verrichten würde. Dann wartete ich noch mal eine halbe Ewigkeit. »Verdammt noch mal«, entfuhr es mir schließlich, »da ist nichts drauf! Kein Furz ist da drauf.« Ich kippte noch einen ordentlichen Schluck frischen Entwickler nach, ließ ihn die Platte noch mal umspülen, zigmal. Und noch mal.
Irgendwann dann packte ich mir mit der von der Entwicklertunke schwammig aufgedunsenen Hand an die Stirn. »Da ist nichts drauf. Schwarz, zum Deibel, ist das schwarz! Schwarz wie ’ne Fotoplatte nur sein kann. Und bleibt schwarz. Also hat sie doch Licht abbekommen, die Platte! Doch ’n Riss im Gehäuse beim Sturz, vielleicht. Oder das Dingen hat einfach zu lang in der Sonne gelegen auf dem elend langsamen Fischkutter. Jedenfalls der olle Krupp, wie er sich da mit seinen Capri-Jungs tummelt: nichts, absolut nichts von zu sehn.«
Ich ließ mich auf meinen Schemel plumpsen, oder besser gesagt: dahin, wo ich den Schemel vermutete. War aber kein Schemel zur Stelle. Also krachte ich rücklings mit lautem Kladderadatsch auf den Boden und rammte mit dem Steißbein gegen den Fünfzehn-Liter-Kübel mit Fixierbrühe. Egal. Schmerz spürte ich mit diesem Kreisel im Kopf sowieso nicht. Ich kauerte mich einfach auf die kalten Fliesen und sackte in mich zusammen. »Himmels willen, in’ Arsch gekniffen! Nichts da mit dem Foto, das ich der Krupp großkotzig angekündigt hab. Niente. Kein Bild, kein Beweis, kein Geld.«
Dann plötzlich, wie vom Blitz getroffen, sprang ich auf und hörte mich laut rufen: »Und die andern Platten?« Und ich zog eine weitere aus ihrem Holzschuber, legte sie in die Brühe und schaukelte sie hin und her, so gleichmäßig, wie’s mir in meiner Aufregung gegeben war. »Jau, da ist was drauf. Irgendso ’n Idiotenfoto. Klar, die Platte ist heil geblieben! Ausgelöst, als die Trottel über mich herfallen und mir die Kamera wegreißen wollen, völlig schiefe Perspekt... he, warte mal!«, schrie ich. Ich weiß, ich weiß, bisschen seltsam: Selbstgespräche. Zumal für so ’n jungen Kerl, wie ich damals war. Aber hier unten hörte mich ja keiner. »Warte mal! Dieser Gigolo, der kleine schwule Caprifischer, Giovanni oder wie der hieß – das ist ja genau der Augenblick, wo dem einer mit dem Messer ans Fell geht – da ist, das ist doch, kann man genau erkennen: wie dem wer und wer dem das Messer in die Brust ... – Verdammt und zugenäht!«
Kannst dir vorstellen: Ich war wie vor ’n Kopf gehauen! Blieb bloß noch die Frage, wann der günstigste Augenblick gekommen sein würde, um mit der Auflösung rauszurücken. Das Finale Furioso der Tragödie muss schließlich wohl gesetzt sein, wenn’s eine einigermaßen erbauliche kathartische Wirkung erzielen soll.
5
»Es gibt für die ungeheuerlichen Entgleisungen meines Mannes hieb- und stichfeste Beweise, Eure Majestät. Er ist von Sinnen!« Margarethe Krupp stand noch auf der Schwelle des Audienzsaals, wie mir einer meiner Informanten bei Hofe zutrug – ob du’s mir nun glaubst oder nicht, es war die Zeit damals, wo die ganze Welt mit Spitzeln gespickt war, man musste bloß das Portemonnaie ’n bisschen locker sitzen haben; außerdem, schließlich war’s ja nicht mein Geld –, Margarethe also stand auf der Schwelle des Audienzsaals und war, nachdem sie den Kaiser in einem der pompösen Sessel ausgemacht und das Begrüßungszeremoniell im Eilverfahren abgewickelt hatte, ohne weitere Umschweife zur Sache gekommen. »Ich brauche Euch nicht zu versichern, welch schwerer Angang es für mich ist, solche Anschuldigungen in den Raum zu stellen.«
»Gemach, gemach!«, entgegnete der Kaiser mit beschwichtigend sonorer Stimme. »Welcher Art sind denn die hieb- und stichfesten Beweise, die Sie hier annoncieren? Und um welches Vergehen, meine Beste, handelt es sich eigentlich?«
»An uns, Majestät, an Euch und an mir liegt es, dass wir der öffentlichen Verleumdung zuvorkommen und der Name Krupp so unbeschadet als irgend möglich aus dieser delikaten Angelegenheit hervorgeht. Und deshalb muss ich Euch dringend bitten, Euer Hochwohlgeboren kaiserliches Ansinnen darauf zu richten, dass man meinen Gatten ...«
»Nun?«
»Ihr, Majestät, Ihr müsst ihn ... ich flehe Euch an: Ihr müsst ihn entmündigen!«
»Das ist starker Tobak.« Der Kaiser blickte kurz auf.
Während Margarethe Krupp den Blick senkte und langsamen, nicht im mindesten herrschaftlichen Schritts näher kam. Mit hängenden Schultern und brüchiger Stimme resümierte sie: »Hat er sich im Grunde doch längst selbst entmündigt, jede Zurechnungsfähigkeit verspielt. Das dürfte ihm ja wohl bewusst sein, dass er damit nicht nur seine Existenz, nicht nur den Weltrang des Unternehmens aufs Schafott trägt, dass er nicht nur den seit Generationen unbefleckten Ruf seiner Familie den Schmähungen des Mobs ausliefert, sondern«, und plötzlich war ihre Stimme wieder schneidend klar, und ihr Blick richtete sich geradewegs auf ihr Gegenüber, dem es in seinem Sesselplüsch irgendwie unbequem geworden war, »sondern dass er mit seinem liederlichen Treiben auch Sie, Majestät, Sie allerhöchstselbst als seinen Freund und Förderer in Misskredit bringt.«