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»Was …?«
»Schlaf«, wiederholte der Mann namens Lucan mit tiefer Stimme. Bereits im Halbschlaf registrierte ich, dass sowohl mein Körper als auch mein Geist auf den Befehl des Fremden reagierten. Was zur Hölle ging hier vor sich?
»Und jetzt?«
»Jetzt nehmen wir sie mit«, antwortete Nick. In meinem tranceähnlichen Zustand spürte ich, wie starke Arme sich unter meinen Körper schoben und mich samt Decke anhoben. Ich wollte protestieren, mich wehren, aber ich war so unendlich müde. Also schloss ich die Augen, in der Hoffnung, dass sich all das morgen früh als schlechter Traum herausstellen würde.
Laut gähnend räkelte ich mich in meinem bequemen Bett und versuchte, einen Blick auf meinen digitalen Wecker zu erhaschen. Dabei stieß ich gegen einen riesigen Haufen weicher Kissen. Sehr weiche Kissen. Ruckartig setzte ich mich auf. Nicht mein Bett, dachte ich, als ich das zwei Meter große Monsterbett mit seiner Flut aus weichen Kissen begutachtete.
Und nicht meine Wohnung.
Irritiert sah ich mich in dem abgedunkelten Raum um. Das Zimmer, oder wohl eher die Suite, war riesig. Allein das Bett, auf dem ich saß, war so groß wie meine halbe Wohnung. Noch immer etwas benommen, rieb ich mir über die Augen. Als ich sie wieder öffnete, hatte sich jedoch nichts verändert. Ich war immer noch hier. Wo auch immer hier sein mochte.
»Ach du heilige Scheiße«, fluchte ich und schüttelte meinen noch immer leicht vernebelten Kopf. Also kein Traum. Sofort begann mein Herz, schneller zu schlagen. Es war kein Traum gewesen. Dann hatten die beiden Männer, Nick und Lucan, mich also tatsächlich entführt. Aus meiner eigenen Wohnung. Meiner eigenen, gut verriegelten Wohnung. Wie waren sie da reingekommen, ohne auch nur das leiseste Geräusch zu verursachen? Und scheinbar hatten sie mich in ein Luxushotel verschleppt. In eine verdammte Luxus Suite.
Welche Entführer tun sowas?, fragte ich mich verwirrt und schwang die Beine aus dem Bett. Meine nackten Füße gruben sich in die luxuriösen Felle vor dem Bett und ich beugte mich rasch hinab, um die Finger über den Teppich gleiten zu lassen. Wow. Mit leicht zittrigen Beinen stand ich auf und ging vorsichtig in Richtung der großen Fenster. Auf dem Weg dorthin schaute ich an mir herab. Yogahose und Pulli. Also hatten sie auf den ersten Blick nichts Verwerfliches mit mir angestellt, außer mich offensichtlich zu betäuben und mich aus meiner Wohnung zu entführen. Bis jetzt. Meine Finger schlossen sich um den festen Samtstoff der Vorhänge. Mit einem kräftigen Ruck riss ich sie zurück und starrte auf die idyllischste Szenerie, die ich jemals gesehen hatte. Grüne Weiden erstrecken sich soweit das Auge reichte. Getaucht in das orangefarbene Licht des Sonnenuntergangs und abgetrennt durch weiße Holzzäune, sah die Landschaft vor mir aus, wie in einem Rosamunde Pilcher Film. In der Ferne konnte ich mehrere Häuser ausmachen. Den Pferden und Kühen nach zu urteilen, die ich als kleine Punkte erkennen konnte, handelte es sich um Stallungen.
Wo zum Teufel war ich hier gelandet? Ich drehte mich vom Fenster weg und betrachtete die Suite genauer. Ohne Zweifel war der Raum atemberaubend. In einem Mix aus sanften, erdigen Tönen und kräftigem Blau gehalten, wirkte alles in diesem Raum edel, aber gemütlich. Und so, als ob Berühmtheiten eine Menge Geld dafür ausgeben würden, hier zu übernachten. Wie die Suite eines Rockstars, dachte ich und stellte erstaunt fest, dass sich ein leichtes Grinsen auf meinem Gesicht ausbreitete.
Oh, mein Herz wummerte noch immer wie verrückt, aber jetzt mischte sich zu der Angst in meinen Adern noch etwas anderes. Neugier. Außerdem hatte ich, dem Sonnenuntergang nach zu urteilen, den ganzen Tag geschlafen und fühlte mich gut ausgeruht.
Diese luxuriöse Umgebung gab mir die Hoffnung, dass es sich entweder um ein riesiges Missverständnis handelte, oder dass das, was immer dieser Nick von mir wollte, vielleicht doch etwas anderes war als ich befürchtet hatte. Aufmerksam sah ich mich in dem großen Raum um. Mein Handy hatten die Entführer nicht mitgenommen, keine große Überraschung. Ein fest installiertes Telefon konnte ich auch nirgends entdecken. Ich hatte also keine Möglichkeit der Kontaktaufnahme nach draußen. Aber wen hätte ich auch anrufen sollen? Marco und Todd? Und was hätte ich ihnen sagen sollen? Hilfe, ich bin in ein Luxushotel verschleppt worden? Bestimmt nicht. Nicht, solange ich nicht wusste, was genau hier vor sich ging. So oder so, es gab nur einen Weg das herauszufinden. Ich musste Nick finden. Und das würde ich bestimmt nicht in meinen Schlafsachen tun. Ein Blick in den Spiegel des antik aussehenden Schminktisches verriet mir genau eins: Ich sah furchtbar aus. Meine Haut war unnatürlich blass, meine Augen gerötet und meine weißblonden Haare standen wild in alle Richtungen ab. Da ich an meiner Situation aktuell sowieso nichts ändern konnte, beschloss ich erst einmal zu duschen. Auch wenn ich in fremder Umgebung aufgewacht war, fühlte ich mich auf eine merkwürdige Art und Weise mit diesem Ort verbunden. Verbunden war vielleicht der falsche Ausdruck, aber ich hatte aktuell nicht das Gefühl, mich in unmittelbarer Gefahr zu befinden. Zumindest nicht hier. In diesen vier Wänden. Wobei vier nicht ganz richtig war. Mein Blick wanderte weiter. Vor mir befanden sich zwei Türen. Eine davon musste dann wohl ins Badezimmer führen. Schwungvoll, damit ich keinen Rückzieher machen konnte, öffnete ich Tür Nummer Eins und fand mich in einer absoluten Wellness-Oase wieder. Schwarz-weiße Fliesen, goldfarbene Armaturen und eine Reihe grüner Pflanzen verwandelten das Bad in einen Traum. Das, und die große Wanne, die freistehend auf goldenen Füßen inmitten des Raumes stand. Okay, das war schon mal nicht übel.
»Tür Nummer Zwei«, murmelte ich und fasste nach dem Griff der zweiten Tür direkt daneben.
»Oh … wow.«
Tür Nummer Zwei war, obwohl kaum zu glauben, noch besser als Tür Nummer Eins. Ich hatte soeben das Ankleidezimmer gefunden. Ein richtiges Ankleidezimmer, randvoll mit Klamotten, Schuhen und Schmuck. Am Ende des Raumes befand sich ein riesiger Spiegel und in der Mitte, auf dem plüschigen Teppich, stand, majestätisch und dekorativ, eine Chaiselongue aus hellblauem Samt. Wo war ich hier gelandet?
Ich betrat den Raum und stöberte neugierig durch die beeindruckende Flut an ordentlich aufgehängten und sortierten Kleidungsstücken. Sie alle waren von feinster Qualität. Ich erkannte auch ein paar Designerlabel, die ich schon einmal bei meiner Mutter oder in Zeitschriften gesehen hatte. Und alle waren sie in Größe 38. Ich erstarrte mitten in der Bewegung.
Sie alle waren in Größe 38.
Ich wirbelte herum und betrachtete die hohen Regale mit den Schuhen genauer. Größe 40. Alle. Meine Größe, genau wie die Klamotten. Und da war sie wieder, die Angst. Wieso entführte man jemanden und steckte ihn in ein Zimmer voller auf ihn abgestimmter Klamotten? Vielleicht, weil man nicht vorhatte, ihn wieder gehen zu lassen?
Daran darfst du nicht denken, Lilly. Nicht, solange du nicht alle Fakten kennst.
Erst dann würde ich mich den Horrorszenarien in meinem Kopf hingeben. Ich schloss die Tür hinter mir und ging zur dritten und letzten Tür. Das musste dann wohl die Eingangstür sein. Noch zu ängstlich, um sie zu öffnen, drehte ich den Schlüssel im Schloss herum und stakste zurück ins Bad. Ich blieb dabei, eine Dusche würde helfen. Ich verriegelte auch die Badezimmertür hinter mir und widmete mich dann den zahlreichen, teuer aussehenden Flaschen am Badewannenrand. Eine besonders hübsche Flasche erweckte meine Aufmerksamkeit und gespannt hob ich den Deckel der Glasflasche an. Ein himmlischer Blumenduft erfüllte das Bad in Sekundenschnelle. Er hatte nichts Künstliches oder Artifizielles an sich, wie es bei Duschgelen oder Shampoos oft der Fall war. Nein, es war, als würde man sich in einem Meer aus Blumen befinden. An einer Wiese, direkt an einem Wasserfall im Schein strahlender Sonnen. Okay, wow. Kopfschüttelnd schloss ich die Flasche und stellte sie zurück. Was war denn das gewesen? Eine Blumenwiese und ein Wasserfall?
»Jetzt verlierst du wirklich den Verstand, Lilly.« Dass ich die Worte laut aussprach, machte das Ganze nicht besser. Wahrscheinlich die Nachwirkungen meiner Betäubung und damit Entführung, rief ich mir ins Gedächtnis. Immerhin war ich verschleppt worden, da hatte ich eindeutig Besseres zu tun, als an Shampoos zu schnüffeln. Aber ich wollte auch gut riechen. Nach kurzem Zögern schnappte ich mir die Flasche erneut und wandte mich der Duschkabine zu. Die Dusche war, wie alles in dieser Suite, gigantisch. Was ich jedoch nirgends entdecken konnte, waren Duschköpfe oder Brausen oder irgendeine Art von … Wasserhahn. Suchend schaute ich in alle Ecken, bis ich fand, wonach ich gesucht hatte. Aha! Es gab keinen Duschkopf, weil das Wasser aus der Decke kam. Zumindest ließen das die vielen kleinen, im Quadrat angeordneten Löcher über mir vermuten. Ich stellte meine Beute auf dem Boden der Duschkabine ab und schlüpfte rasch aus meinen Klamotten. Sobald ich die Kabine geschlossen hatte und nach oben sah, begann ein stetiger Fluss von perfekt temperierten Wassertropfen auf mich herabzuprasseln. Mit jeder Sekunde wurde der Wasserdruck stärker, bis ich das Gefühl hatte, in einen kräftigen Sommerregen geraten zu sein.
Ich seufzte zufrieden, schnappte mir das phänomenal duftende Duschgel und begann, mich damit von Kopf bis Fuß einzureiben, bis ich nur noch aus Schaum bestand. Herrlich! Der Duft war betörend und meine angespannten Muskeln entkrampften sich augenblicklich. Daran könnte ich mich definitiv gewöhnen. Nur an Shampoo hätte ich vielleicht noch denken sollen, dachte ich, als mein Blick sehnsüchtig in Richtung der Flaschen am Wannenrand glitt. Wahrscheinlich war das Zeug in meiner Hand jedoch teuer und exklusiv genug, um es auch als Shampoo zweckentfremden zu können. Kurzerhand gönnte ich mir einen großzügigen Kleks und verteilte ihn in meinem nassen Haar. Der Duft von Blumen erfüllte erneut die Duschkabine. Wie lange ich hier wohl ausharren konnte, ohne mich aufzulösen? Nach einigen weiteren Minuten musste ich mir eingestehen, dass ich sauber war. Klitschnass trat ich aus der Dusche und griff nach einem der flauschigen Bademäntel links von mir. Das Wasser stoppte in dem Moment, als ich die Kabine verließ. Definitiv etwas, woran ich mich gewöhnen könnte. Ein Handtuch um meine nassen Haare gewickelt, trat ich vor den hübsch verzierten Spiegel.
»Ach du meine Güte!«
Was auch immer in dem Fläschchen war, ich brauchte es für zu Hause. Verschwunden waren mein fahler Hautton und die rot umrandeten Augen. Die Frau, die mir aus dem Spiegel entgegensah, hatte rosige Wangen und große, klare Augen. Ich nahm das Handtuch vom Kopf und sah dabei zu, wie meine hellen Haare in nassen, sanften Wellen über meine Brüste fielen. So seidig waren sie noch nie gewesen. Begeistert suchte ich nach weiteren Veränderungen in meinem Erscheinungsbild, aber da war nur ich. Die gute alte Lilly. Ich ließ den Bademantel von meinen Schultern gleiten und betrachtete mich neugierig, aber nein, hier gab es keine gravierenden Veränderungen. Ich musste mich wohl mit dem frischen Teint zufriedengeben, der mich wenigstens nicht mehr ganz so leblos aussehen ließ. Die meisten Menschen bezeichneten mich als schön, was auch immer das heißen mochte. Für mich bedeutete schön nicht gleich gutherzig oder mitfühlend. Dafür hatte ich bereits zu viele äußerlich schöne Menschen getroffen, die innerlich hässlich gewesen waren.
Mein Aussehen hatte mich von jeher zu einer Außenseiterin gemacht. Ich mochte es nicht, das typische Außenseiter-Klischee, und ich hasste es, mich als Opfer zu sehen. Ich hatte meinen Weg selbst gewählt und dazu stand ich auch. Fakt war, dass ich mit mir selbst wesentlich glücklicher gewesen war als mit den Mädchen und Jungen an meiner Schule oder Uni. All das, wofür sie sich so brennend interessiert hatten, war mir stets irgendwie banal vorgekommen. Belanglos. Die Menschen um mich herum, hatten ein ganz spezielles Bild von mir gehabt. Verknüpft mit Erwartungen.
Diese Erwartungen, hatte ich jedoch nicht erfüllen können. Oder wollen. Die Mädchen in meiner Schule oder in der Uni hatten mein Aussehen mit Party machen, Jungs treffen und Machtspielchen gleich gesetzt. Mir hingegen war es unangenehm gewesen, durch mein Äußeres im Mittelpunkt zu stehen, daher hatte ich mich, die Nase in einem Buch vergraben, immer weiter zurückgezogen.
In Gedanken griff ich nach der Bürste auf der Ablage vor mir und begann damit meine Haare zu entknoten, was dank des super Duschgels relativ einfach war. Neben dem Waschbecken befanden sich weitere Fläschchen und Tiegel und ich fand etwas, das verdächtig nach Creme roch und aussah. Nachdem ich mich eingecremt hatte und nun endgültig wie eine Blumenanbeterin duftete, verließ ich das Bad und öffnete die Tür zum angrenzenden Ankleidezimmer. Wenn sie schon einen ganzen Schrank, nein, ein ganzes Zimmer, mit Klamotten in meiner Größe hatten, dann würde ich sie nicht enttäuschen. Mit einem leichten Cinderella Gefühl drehte ich mich einmal um mich selbst, ehe mein Blick an einem ultra-flauschig aussehenden grauen Kaschmirpullover hängenblieb.
Eine Sache, die meine Mom und ich gemeinsam gehabt hatten. Unsere Vorliebe für große, graue Wollpullis. Beinahe ehrfürchtig griff ich nach dem guten Stück und suchte mir eine dazu passende schwarze Hose. In einer der zwei Kommoden fand ich Unterwäsche in allen Farben und Formen und entschied mich für schlichtes Weiß. Fertig angekleidet begutachtete ich mich im Spiegel. Ich sah … elegant aus. Der Pulli musste ein kleines Vermögen gekostet haben und die Hose betonte meine Beine und meinen Hintern äußerst vorteilhaft.
»Nicht übel«, murmelte ich und sah mich nach passenden Schuhen um. Meine Augenbrauen schossen in die Höhe, als ich erkannte, wie viele Pumps fein säuberlich in dem offenen Regal vor mir standen. Etwas irritiert griff ich nach einem der schwindelerregend hohen Schuhe mit roter Sohle und begutachtete den Absatz skeptisch. Hohe Schuhe waren nicht ganz mein Ding. Schon gar nicht, wenn sie einen Monatslohn kosteten. Wer auch immer dieser Nick war, er hatte eindeutig Geld. Viel Geld. Weiter unten entdeckte ich ein paar weiße Sneakers. Perfekt. Geschmack hatten sie, das musste ich meinen Entführern lassen. Jetzt aber war es an der Zeit herauszufinden, was zur Hölle hier los war. Mit noch feuchten Haaren und ohne Make-Up durchquerte ich die Suite und schritt entschlossen Richtung Eingangstür.
Sofort begann mein Herz erneut im Stakkato zu wummern und ich atmete ein Paar Mal tief durch, um mich zu beruhigen. Es würde sich alles aufklären, ganz bestimmt. Langsam drehte ich den Schlüssel im Schloss und stieß die Tür dann mit einem kräftigen Ruck auf. Ich wusste nicht genau, was ich erwartet hatte, nicht jedoch, den stillen Korridor, der mich hinter der Tür erwartete. Ein kurzer Blick nach links und rechts verriet mir, dass mein Zimmer am Ende eines langen Gangs lag.
Auf geht’s, Lilly. Ein weiterer Schritt vorwärts und ich hatte das Zimmer verlassen. Insgesamt zählte ich fünf andere Türen. Am Ende des Gangs schien eine Treppe in ein unteres Stockwerk zu führen. Ich zögerte einen Moment, unsicher, ob ich wirklich auf eigene Faust loslaufen sollte. Aber ich wollte Nick finden.
Antworten finden hieß meine Mission, also musste ich mein wild klopfendes Herz unter Kontrolle bringen und mich in Bewegung setzen. Absolute Stille begleitete mich auf meinem Weg, und meine eigenen Schritte wurden durch den weichen Teppich abgefedert. Vorsichtig schlich ich an den anderen Zimmern vorbei. Ich hatte bereits drei Türen hinter mir gelassen, als ich plötzlich Stimmen hörte.
»Du hast was?« Eine empörte Frauenstimme drang vom Fuße der Treppe zu mir hinauf und ich empfand augenblicklich Erleichterung bei dem Gedanken, dass eine andere Frau anwesend war. Natürlich könnte sie zu den Entführern gehören, sehr wahrscheinlich sogar, aber vielleicht war sie gegen den Plan gewesen, der mich hierhergebracht hatte, und ich konnte sie auf meine Seite ziehen. Ich schlich weiter, um besser lauschen zu können.
»Was hätte ich denn tun sollen, Alina?«, fragte Nick aufgebracht. Dass ich seine Stimme nach so kurzer Zeit einwandfrei erkannte, gab mir ein wenig zu denken.
»Mit ihr reden, Nickolas. Ihr erklären, was hier los ist und sie nicht mitten in der Nacht entführen!«
Wer auch immer diese Alina war, sie war soeben zu meinem Lieblingsmenschen geworden. Anscheinend hatte ich tatsächlich eine Verbündete in all dem Irrsinn hier.
»Zwei Wochen habe ich sie beobachtet und gewartet, Alina, aber nichts ist passiert. Und dann« Er fluchte leise. »Du hast ihre Reaktion im Café nicht gesehen. Sie hätte mir niemals zugehört.«
Alina schnaubte.
»Lucan und ich …«
»Du hast Lucan Vale mitgenommen?«, rief sie entgeistert. Lucan Vale, murmelte ich stumm. Meine Lippen formten die beiden Worte lautlos. Einmal. Dann noch einmal. Ich wusste nicht, warum, aber der Name passte zu dem Mann, den ich gestern Nacht als Schatten Nummer Zwei identifiziert hatte.
»Hat er«, bestätigte eine düstere, mir ebenfalls bekannte Stimme auf einmal, »aber vielleicht wollt ihr diese Diskussion weiterführen, wenn ihr alleine seid.«
»Was meinst du?« Oh Mist.
»Komm raus, Prinzessin, und zeig dich.«
Nun hatte es auch keinen Sinn mehr, mich versteckt zu halten. Ich war erwischt worden. Also atmete ich noch einmal tief durch ehe ich um die Ecke trat und die Treppe hinab in eine enorme Eingangshalle sah.
Nick erkannte ich sofort. Seine sandblonden Haare waren zerzaust und seine offenen, neugierigen Augen blickten mich freundlich an.
Die Frau neben ihm war gut zwei Köpfe kleiner als er. Sie hatte lange dunkle Haare und die sanftesten braunen Augen, die man sich vorstellen konnte. Alles an ihr schrie Gutmütigkeit und sofort fühlte ich mich von ihrer Art wie magisch angezogen. Sie erwiderte meinen Blick jedoch mit einer Zurückhaltung, die mich verunsicherte.
Und der Mann zu Nicks Rechten? Das musste dann wohl Lucan Vale sein. Heilige Mutter Gottes. Noch nie hatte ich einen attraktiveren Mann gesehen. Wo Nick auf eine Sunnyboy-Art gutaussehend war, war dieser Mann rau, kantig und absolut männlich. Von den schwarzen, etwas zu langen Haaren, den markanten Wangenknochen und dem breiten Kiefer, bis hin zu seiner massiven Statur schrie alles an ihm Alpha. Das war ein Mann, der sich behaupten konnte, der es gewöhnt war, Befehle zu erteilen und nicht sie zu erhalten. Das Faszinierendste an ihm jedoch waren seine Augen. Beinahe komplett schwarz glühten sie wie zwei Kohlen in der Dunkelheit. Vielleicht war es eine Reflexion des Lichts, aber für einen kurzen Moment meinte ich ein regelrechtes Feuer in ihnen aufblitzen zu sehen.
Eine Reflexion des Lichts oder deine eigene lebhafte Fantasie, meine Güte. Ich unterdrückte ein Augenrollen. Alles an ihm schien auf irgendeine Art und Weise mysteriös zu sein. Es machte ihn auf Anhieb interessant. Was ich jedoch noch viel interessanter fand, war die Frage, warum sie mich entführt hatten. Denn das war es, worum es hier wirklich ging. Meine Entführung. Keine attraktiven, düster dreinblickenden Alpha-Männer, die in der Regel sowieso nur eins bedeuteten: Ärger. Zumindest glaubte ich das. Aber mal ehrlich, war es nicht immer so? Ich betrachtete die kleine Gruppe vor mir. Wie sie dort unten standen und zu mir aufsahen, wirkten sie beinahe unwirklich.
Unbewusst hob ich eine Hand an meine Magengrube. Das Blut rauschte mittlerweile viel zu schnell durch meine Adern und ich spürte, wie mir leicht schwindelig wurde.
»Lilly«, brach Nick den Bann, in dem ich mich befunden hatte, und machte einen Schritt auf das Ende der Treppe zu. »Hab keine Angst«, beschwichtigte er mich und hob besänftigend beide Hände.
»Komm.«
»Ich …« verwirrt sah ich zwischen den dreien hin und her. Wobei mein Blick ein wenig länger als nötig an Lucan hängen blieb. Seine Augen verdunkelten sich gefährlich und funkelten mich wütend an. Ernsthaft? Irgendwo zwischen Angst und Neugier mischte sich jetzt auch noch meine eigene Wut in mein Gefühlschaos.
Er hatte mich entführt. Wenn hier jemand wütend sein durfte, dann ich! Meine Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen und unbewusst machte ich einen Schritt nach vorne. Die Hand am Geländer schritt ich langsam die große, leicht geschwungene Treppe hinab. Lucan folgte jeder meiner Bewegungen. Mein Kinn hob sich wie von selbst ein paar Zentimeter und verstört, aber auch ein wenig gereizt, wandte ich den Blick von ihm ab und sah zu Nick und Alina. Die junge Frau betrachtete mich regungslos, aber wenigstens war keine Ablehnung in ihrem Blick. Lediglich eine milde Neugier, gepaart mit einer offensichtlichen Schüchternheit. Eine Schüchternheit, die Nick offenbar nicht empfand. Er lächelte mir aufmunternd entgegen und streckte seine Hand einladend nach mir aus. Nicht gerade das, was man von einem irren Entführer erwartete.
»Du brauchst dich wirklich nicht zu fürchten«, wiederholte er sanft.
Am Fuße der Treppe angekommen, ignorierte ich seine ausgestreckte Hand und verschränkte meine leicht zitternden Hände ineinander. Von hier unten wurde mir schmerzlich bewusst, wie groß die beiden Männer waren. Nick maß locker über 1,90 m und Lucan? Es hätte mich nicht gewundert, wenn er an die zwei Meter herankam. Das und die muskelbepackte Statur des Mannes ließen mich innerlich erschaudern.
»Wo bin ich?«, fragte ich direkt und wandte mich an Nick. Ganz offensichtlich würde ich von ihm am ehesten Antworten bekommen.
»Im Hause der Callahans, in der Welt der Menschen.«
Ah ja. Okay. Möglichst neutral versuchte ich es erneut. »Wo bin ich?«
Irritiert sah Nick mich an. »Im Hause der Callahans …«
»Okay«, unterbrach ich ihn und hob eine Hand, »wenn das hier so eine Art Rollenspiel ist, dann ist es nicht mehr lustig.«
»Rollenspiel?«
»Wer auch immer ihr Typen seid, ich will nach Hause. Sofort.«
»Du bist zu Hause«, erwiderte er ernst.
Zugegeben, das war nicht die Antwort, mit der ich gerechnet hatte. Der volle Kleiderschrank und die luxuriöse Suite kamen mir in den Sinn und ich begann leicht zu schwitzen.
»Ihr wollt mich hier festhalten?«, fragte ich aufgebracht. »Gegen meinen Willen?«
»Ich verstehe nicht …«
»Heilige Balance, Nickolas«, mischte die hübsche Brünette sich ein. »Kein Wunder, dass sie dir nicht zugehört hat. Eure Hoheit«, wandte sie sich zaghaft lächelnd an mich. »Ich bin Alina. Eure Kammerzofe.«
»Meine was?« Benommen starrte ich sie an.
»Eure Kammerzofe«, wiederholte sie ruhig. »Ihr seid Lillianna Callahan, die Thronerbin Alliandoans und der sieben Welten. Wir haben lange nach Euch gesucht.« Sie schenkte mir ein kleines Lächeln. »Willkommen zu Hause, Eure Hoheit.«
Alles klar. Für was oder wen auch immer diese Leute mich hielten, ich erkannte an ihren Gesichtern, dass sie wirklich daran glaubten. Sogar dieser Lucan starrte mich weiterhin stoisch an. Sein Gesicht gab nichts weiter preis als eine allgemeine Gereiztheit. Irgendetwas sagte mir, dass dies wohl sein normaler Gesichtsausdruck zu sein schien. Welch Überraschung.
Unsere Blicke begegneten sich und fragend hob er eine Augenbraue. Er glaubte doch wohl nicht ernsthaft, dass ich ihnen diesen Mist abkaufte? Alliandoan? Sieben Welten? Das klang ja ganz so, als wäre ich in einem Mittelalter Spiel gelandet. Cosplay vielleicht, dachte ich und musterte die drei Gestalten vor mir genauer. Nicks Klamotten waren normal, eine dunkle Anzughose und ein heller Pulli, nichts Besonderes. Alina und Lucan jedoch waren ein wenig außergewöhnlicher gekleidet. Alinas Kleid schien aus Leinen zu sein und war elegant geschnitten, mit einem hohen Kragen und langen Ärmeln. Das zarte Blau unterstrich den etwas dunkleren Teint ihrer Haut. Lucan hingegen war ganz in schwarz gekleidet. Schwarze Boots und eine schmal geschnittene Hose betonten seine langen Beine wirkungsvoll. Die ebenfalls schwarze Tunika, die er trug, hatte einen asymmetrischen Schnitt, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Mehrere Lagen Stoff verdeckten den beeindruckenden Oberkörper des Mannes vor mir. Am Kragen sowie am rechten Handgelenk blitzten das Ende oder der Anfang eines Tattoos hervor. Alles in allem sah er bedrohlich, geheimnisvoll und zugegebenermaßen, ziemlich heiß aus. Was ein völlig unpassender Gedanke jemandem gegenüber war, der mich vor kurzem aus meiner Wohnung verschleppt hatte.