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Ich wandte mich an Alina. »Was seid ihr für Typen? Cosplay? Fantasy League?«
Verständnislos sah sie mich an.
»Das alles hier kann nicht euer Ernst sein«, fuhr ich fort, »und der Kleiderschrank da oben? Das ist unheimlich. Sehr, sehr unheimlich!« Aufgebracht wandte ich mich an Nick. »War es das, was du wolltest? Bastelst du dir so deine eigene, kranke Familie, indem du Leute entführst?«
»Okay, hier liegt ein Missverständnis vor, ich …«
»Fass sie an.«
Nick verstummte und ruckartig sahen wir alle zu Lucan. Die Arme nun lässig vor der Brust verschränkt, sah er gelangweilt auf uns herab. »Nun fass sie schon an und bring es hinter dich. So vergeudest du nur meine Zeit.«
Seine Zeit wurde vergeudet? Und niemand hier würde mich einfach anfassen, nicht, wenn ich … schneller als das bloße Auge es registrieren konnte, schoss Nicks Hand nach vorn und umklammerte mein Handgelenk beinahe schmerzhaft. Erschrocken schaute ich auf. Bereits bei unserer ersten flüchtigen Berührung im Café hatte ich etwas gespürt, aber das hier fühlte sich anders an. Ganz anders.
»Nimm deine Finger von mir, du …«
Die Worte blieben mir im Hals stecken, als dort, wo er mich berührte, ein regelrechtes Feuer auf meiner Haut explodierte. Hitze stieg in mir auf und fassungslos sah ich auf die Stelle, an der unsere Körper sich berührten. Es begann mit einem leisen Knistern in der Luft, das immer lauter zu werden schien. Die Atmosphäre um uns herum fühlte sich auf einmal wie elektrisiert an und an meinem Handgelenk erschienen aus dem Nichts kleine blaue Flammen.
Flammen.
Instinktiv wollte ich meinen Arm zurückziehen, aber Nick hielt mich fest.
»Lass mich los«, flehte ich mit zittriger Stimme.
»Sieh hin«, befahl er mir sanft.
Alle Augenpaare waren auf uns gerichtet und ich spürte, wie die Hitze mir in die Wangen stieg. Nicht aus Wut oder Scham, sondern weil das Blut immer schneller durch meine Adern pumpte und mein Hirn zu verstehen versuchte, was hier gerade geschah. Was ich mit eigenen Augen sehen konnte. Etwas, das rein logisch betrachtet, nicht möglich war. Da waren Flammen auf meinem Arm. Blaue, reale Flammen!
»Was passiert hier?«
Meine Stimme klang heiser, ungläubig. Aber meine Augen täuschten mich nicht. Die blauen Flammen vermehrten sich und wanderten wohlig wärmend meinen Arm hinauf, bis sie meinen kompletten Oberkörper bedeckten. Meine Haut fühlte sich plötzlich viel zu eng an und etwas begann in meinen Adern zu summen. Zu singen.
»Magie«, erwiderte Nick und lächelte mich an.
Neben ihm senkte Alina respektvoll ihren Kopf und machte einen leichten Knicks.
»Eure Hoheit.«
Das war nicht möglich, ich … was passierte hier gerade? Ich wusste nur, dass die Flammen auf meinem Arm kein Trick sein konnten, denn ich fühlte sie. Ich spürte ihre Wärme und ihre Macht. So wie ich auch spürte, dass Nick zu mir gehörte. Ein Gefühl, das ich weder erklären noch zuordnen konnte, breitete sich in meinem Brustkorb aus. In meinem Herzen. Seine Worte über Familie kamen mir erneut in den Sinn.
»Das kann nicht real sein.«
»Ich weiß, dass du eine logische Erklärung hierfür suchst, aber«, Nick zuckte mit den Schultern, »die gibt es nicht. Magie ist real. Wir sind real. Ebenso wie unsere Welt.«
»Wer bist du?«
»Nickolas Marcus Callahan«, antwortete er noch immer lächelnd.
Mein Kopf ruckte zu Alina und mir wurde schwindelig. »Du hast mich Callahan genannt.«
Die andere Frau nickte bestätigend. »Ja, Eure Hoheit.«
»Wer bin ich?«, fragte ich Nick, nicht sicher, ob ich die Antwort wirklich hören wollte. Denn wie auch immer sie ausfiel, ich wusste, dass sie mein Leben für immer verändern würde.
»Du bist Lillianna Callahan«, antwortete er mit liebevoller Stimme, »die Thronerbin Alliandoans und der sieben Welten.«
Das Schwindelgefühl in meinem Kopf verstärkte sich von Sekunde zu Sekunde. Eine Flut aus Emotionen strömte auf mich ein und diesmal schaffte ich es, Nick meinen Arm zu entreißen. Sofort verließen mich die Flammen und ihre Abwesenheit hinterließ eine unangenehme Kälte in mir.
»Ich … ich muss …«
Ohne wirklich fokussieren zu können, sah ich mich um und begegnete Lucans wenig begeistertem Blick.
»Sie wird ohnmächtig«, hörte ich seine ruhige, dunkle Stimme. Sie klang dumpf. Weit weg. Und wieso drehte sich alles immer schneller? Wie auf Kommando sackte ich zusammen und spürte, wie starke Arme mich auffingen und sanft an sich drückten.
»Willkommen zu Hause, Schwester«, flüsterte Nick an mein Ohr, ehe die Welt um mich herum in Dunkelheit versank.

KAPITEL 2
Diesmal wachte ich nicht langsam oder sanft auf. Ruckartig schoss ich nach oben in eine sitzende Position und erinnerte mich glasklar daran, was passiert war, bevor ich ohnmächtig geworden war. An das, was ich gesehen und gespürt hatte. Willkommen zu Hause, Schwester. Oh mein Gott. Aufgewühlt sah ich mich um und entdeckte Nick, der in einem Sessel mir gegenüber saß und mich beobachtete. Unter seinem eindringlichen Blick zuckte ich leicht zusammen. Noch nicht bereit mich dem zu stellen, was passiert war, verschaffte ich mir ein wenig Zeit und sah mich weiter um. Wir befanden uns in einer Bibliothek, und mein Herz begann schneller zu schlagen, als ich die deckenhohen Regale voller antik aussehender Bücher erblickte. Ich selbst lag auf einem riesigen Sofa, das direkt vor einem prasselnden Kamin stand. Der Raum war atemberaubend. So schön, dass es mir kurz die Sprache verschlug.
»Wunderschön, nicht wahr?«
Nervös nickte ich. »Ja, ich … ich liebe Bücher.«
»Ich weiß«, antwortete Nick und ich hörte das Lächeln in seiner Stimme.
Natürlich wusste er das. Immerhin arbeitete ich in einem Buchcafé und er hatte mich offensichtlich lange genug beobachtet, um zu wissen, wie viel mir nicht nur der Job, sondern auch Bücher an sich bedeuteten. Ich liebte die Geschichten, die sie beinhalteten, und die gedankliche Flucht, die sie mir ermöglichten.
»Ich dachte, dass du dich hier vielleicht am wohlsten fühlst, wenn du aufwachst.«
Das war … nett. Ein wirklich aufmerksamer Gedanke.
»Kannst du mich ansehen? Bitte?«, fügte er hinzu, als ich unbewusst den Kopf schüttelte.
Ich war mir nicht sicher, ob ich das wollte. Irgendwie würde es die Situation zu echt machen. Und dann musste ich mich damit auseinandersetzen, dass dies hier wirklich alles geschah. So wie ich in Erwägung ziehen musste, dass das, was sie mir erzählt hatten, der Wahrheit entsprach. Was den Mann mir gegenüber zu meinem Halbbruder machen würde.
»Bruder«, unterbrach er meine Gedanken. »Das Halb kannst du weglassen. Das unsterbliche Gen ist immer das dominante.«
»Das unsterbliche Gen«, flüsterte ich fassungslos.
»Ich weiß, es ist eine Menge zu verarbeiten, Lilly. Aber dafür bin ich hier. Um deine Fragen zu beantworten.«
»Kannst du Gedanken lesen?«
Nick lachte und seine Reaktion sorgte dafür, dass meine verspannten Schultern sich ein wenig lockerten.
»Nein, aber deine Gedanken stehen dir regelrecht ins Gesicht geschrieben. Als dein Bruder kann ich gewisse … Schwingungen auffangen«, gab er zu und langsam hob ich den Blick. Grasgrüne Augen bohrten sich in meine. Augen, die die gleiche eher ungewöhnliche Form wie meine hatten. Wieso war mir das vorher nicht aufgefallen? Immerhin hatte ich ihn fast zwei Wochen lang jeden Tag gesehen.
»Die Menschen sehen nur das, was sie sehen wollen«, beantwortete er meine stumme Frage.
»Ich kann gewisse Schwingungen auffangen, da wir ab sofort durch unser Blut und unsere Magie verbunden sind. Je länger wir uns kennen und je mehr Zeit wir miteinander verbringen, desto eindeutiger werden wir unsere Gefühle deuten können.« Er grinste mich jungenhaft an. »So ist das bei Engeln.«
Engel. Engel.
Ungläubig ließ ich meinen Kopf in beide Hände fallen und gönnte mir ein paar tiefe Atemzüge. Dann sah ich erneut auf.
»Engel«, wiederholte Nick, als hätte ich ihn beim ersten Mal nicht richtig verstanden.
»Du willst mir weismachen, dass wir Engel sind?«
»Ich will es dir nicht weismachen, Lilly, es ist eine Tatsache. Du hast es mit eigenen Augen gesehen. Das Erwachen deiner Magie.«
Das war es, was ich gesehen und gespürt hatte? Dieses gleichzeitig faszinierende und angsteinflößende Gefühl in meinen Adern sollte Magie gewesen sein? Nicht bereit seinen Worten einfach so mir nichts dir nichts zu glauben, musterte ich Nick skeptisch.
»Wieso habe ich es in den letzten sechsundzwanzig Jahren nie gespürt?«
Offensichtlich zufrieden mit meiner Frage nickte er.
»Du brauchtest einen Trigger. Jemanden, der die unsterbliche Seite in dir hervorholt.«
Nick setzte sich auf und stützte seine Unterarme lässig auf den Oberschenkeln ab. Seine entspannte Haltung übertrug sich auch auf mich und ich erlaubte mir, es mir auf dem großen Sofa ein wenig gemütlicher zu machen. Ich hatte Antworten gewollt und jetzt würde ich sie bekommen. Auch, wenn dieses Gespräch bis jetzt etwas anders verlief, als erwartet, hatte ich nach wie vor nicht das Gefühl, mich in unmittelbarer Gefahr zu befinden.
»Ich bin in der Anderswelt aufgewachsen. In Arcadia, um genau zu sein, der Hauptstadt von Alliandoan. Umgeben von Magie, werden wir frühzeitig darauf trainiert, sie zu kontrollieren und zu nutzen. Dir hat das niemand beibringen können«, fügte er leise hinzu, »bis vor ein paar Jahren wussten wir nicht einmal von deiner Existenz. Ohne die Aktivierung deiner Magie stellte die Suche nach dir eine, sagen wir mal, Herausforderung dar.«
Das erklärte, warum mein angeblicher Bruder erst vor zwei Wochen aus dem Nichts aufgetaucht war.
»Wie alt bist du?«
Nick schenkte mir ein schelmisches Grinsen. »Knappe fünfzig.« Das konnte nicht sein. Er sah nicht älter aus als ich. »Das ist unmöglich«, beharrte ich.
»Nicht in unserer Welt.«
»Wie?«
»Wir werden unsterblich geboren«, erklärte er mir, »aber unsere wahre Unsterblichkeit, den Punkt, an dem wir wirklich und wahrhaftig resistent gegenüber Krankheiten werden, unser Alterungsprozess weitestgehend stoppt und wir verdammt schwer zu töten sind, ist jener, wenn wir am stärksten sind und unsere Magie vollkommen kontrollieren können.«
»Wie alt warst du?«, fragte ich ihn, gegen meinen Willen fasziniert von seinen Worten.
»Einunddreißig.«
»Dann bist du fünf Jahre älter als ich, also ich meine … eigentlich ja über fünfundzwanzig Jahre, aber …«
Lachend unterbrach er mich. »Ich weiß, was du meinst.«
Ich hatte einen großen Bruder. Wow. So irre das alles hier auch klang … wow. Ein zaghaftes Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus und fast gequält sah Nick mich an.
»Ich werde eine harte Zeit damit haben, deine Ehre zu verteidigen, Schwesterherz.«
Ich brauchte niemanden, der meine Ehre verteidigte. Was ich brauchte, waren Antworten und kein Möchtegern Macho-Gehabe.
»Wenn du der Ältere von uns bist, wieso bin ich dann angeblich die Thronerbin?«
Allein es auszusprechen, fühlte sich an, als wäre ich in einem Traum gefangen. Nick seufzte und fuhr sich mit einer Hand durch die bereits zerzausten Haare.
»Das ist kompliziert. Und eine etwas längere Geschichte.« Entschlossen stand er auf. »Wie wäre es, wenn wir in der Küche weiterreden, wo wir etwas essen und trinken können?«
Ich hatte keinen Hunger, aber ich wollte, dass Nick weitersprach, also erhob ich mich ebenfalls. Einen Kaffee könnte ich sicherlich vertragen. Oder einen Schnaps.
Auf noch immer leicht zittrigen Beinen folgte ich Nick, als er die Bibliothek verließ und schnellen Schrittes die große Eingangshalle durchquerte. Vor der gewaltigen Eingangstür bog er rechts ab und stieß eine weitere unscheinbare Tür mit der Schulter auf.
»Willkommen in meinem Lieblingsraum.«
Einladend breitete er die Arme aus und aufmerksam betrat ich die großzügige Küche. Ein großer Tresen trennte den Kochbereich von einem massiven Echtholztisch. Um den Tisch herum standen mindesten zehn Stühle und hinter der Fensterfront konnte ich einen mittlerweile dunklen Wald erkennen.
»Alles sieht so … normal aus«, gab ich zu, als ich die einladenden Holztöne und modernen Accessoires der Küche bewunderte. Jemand hatte sich bei der Einrichtung dieses Anwesens viel Mühe gegeben.
»Weil wir nicht in Arcadia sind«, erklärte Nick mir und holte zwei Weingläser aus einem der Hängeschränke. Ich setzte mich auf einen der Barhocker am Tresen und beobachtete ihn.
»Rot?«
Nickend sah ich ihm dabei zu, wie er eine teuer wirkende Flasche Wein vom Tresen nahm und sie öffnete. »Wir sind noch immer in der Welt der Menschen. Etwa zwei Stunden von deiner Wohnung entfernt.«
»Ich verstehe nicht …«
»Als unser Vater von deiner Existenz erfuhr, hat er dieses Anwesen gekauft und umbauen lassen. Er wollte einen Wohnsitz außerhalb Alliandoans, damit er besser nach dir suchen kann.«
Ich hatte einen Vater? Wie albern … Natürlich hatte ich einen Vater, aber Annabelle hatte nie über ihn gesprochen und ich … ich hatte stets angenommen, er wäre längst tot.
»Das ist er.«
Nicks heisere Stimme riss mich aus meinen Gedanken und erschrocken sah ich auf. Über sein mittlerweile volles Weinglas hinweg sah er mich an. Diverse Emotionen zeichneten sich auf seinem Gesicht ab. Allen voran Schmerz.
»Unser Vater ist tot, Lilly.«
»Wie lange schon?«
»Seit etwa fünf Jahren.«
»Ich …« Tja, was sollte ich sagen? Natürlich war ich traurig. Ich hätte ihn gern kennengelernt, aber ich hatte Jahre gehabt, um mich an den Gedanken zu gewöhnen. Den Schmerz, den Nick allerdings verspürte, kannte ich nur zu gut. Mitfühlend legte ich meine Hand auf seine und wir beide sahen auf, als es regelrecht zwischen uns funkte. Daran würde ich mich wohl noch gewöhnen müssen, dachte ich und ergriff das Glas, das Nick mir hinhielt.
»Ich kenne das Gefühl von Trauer und Schmerz«, sagte ich daher nur und trank einen Schluck Wein, um meine aufgedrehten Nerven zu beruhigen.
»Deine Mutter, nicht wahr?«
»Annabelle, ja. Sie starb vor zwei Jahren. Ein betrunkener Autofahrer hat sie auf dem Rückweg vom Flughafen erwischt.« Was er sicherlich schon wusste, dennoch tat es gut, die Tatsache auszusprechen. Es gehörte zum Heilungsprozess, die Wunde ab und an wieder aufzureißen, damit sie gleichmäßiger zusammenwachsen konnte.
»Ich nehme nicht an, dass sie wusste, wer dein … wer unser Vater wirklich war«, gab ich zu bedenken.
Nick schüttelte den Kopf und lehnte sich lässig an den Tresen.
»Nein. Vor ein paar Jahren erzählte er mir von ihr, als klar wurde, dass ich nicht der Thronerbe war, den er gerne in mir sehen wollte.«
»Hm.« Ich gab ein unbestimmtes Geräusch von mir. Das klang nicht gut. Es klang eher nach einer Menge unverarbeitetem Ballast. Aber wer war ich zu urteilen?
»Er erzählte mir von einer wunderschönen Frau, einer Sterblichen, die ihn in der Welt der Menschen verzaubert hatte mit ihrer charismatischen, starken Art.«
Oh ja, das klang nach meiner Mutter.
»Ich glaube, er hätte sich gewünscht, dass sie unsterblich gewesen wäre.«
»Und deine Mutter?« Ein Schatten legte sich über Nicks Gesicht.
»Sie starb bei meiner Geburt.« Ah, verdammt.
»Das tut mir sehr leid, Nick.« Das machte uns zu Waisen, dachte ich. Unsterblichkeit hin oder her, sowohl seine als auch meine Eltern waren tot. Aber ich hatte einen Bruder, so fantastisch das auch klang.
»Hast du … ich meine, haben wir noch mehr lebende Verwandte?« Nick schüttelte den Kopf.
»Nein. Es gibt nur noch dich und mich.«
Gedankenverloren ließ er sein Weinglas kreisen und beobachtete die dunkelrote Flüssigkeit darin. »Wir hatten eine Tante, vor weit über zweihundert Jahren …«
Zweihundert Jahre? Ich würde nicht ausflippen!
»… aber ich habe sie nie kennengelernt und der Rest unserer Familie starb noch vor ihr.«
Welch deprimierender Gedanke. Von einer anscheinend mächtigen, unsterblichen Familie waren nur noch er und ich übrig.
»Wie sind sie gestorben?«, fragte ich neugierig. »Ich meine mit der Unsterblichkeit und so …«
Nick seufzte leise und hörte auf, mit seinem Weinglas zu spielen.
»Die meisten von ihnen wurden Opfer von Anschlägen. Den Namen Callahan zu tragen, macht uns automatisch zur Zielscheibe. In den Augen der falschen Leute«, fügte er rasch hinzu.
Als hätte ich verstanden, was er mir da soeben erzählt hatte, nickte ich und lehnte mich auf meinem Hocker zurück.
»Erklär mir das mit den Engeln«, bat ich leise.
Ich begann zu akzeptieren, dass der Mann vor mir mein Bruder war. Es klang verrückt ja, aber ich fühlte es in der tiefe meines Herzens. Was auch immer diese kleinen Flammen ausgelöst hatten, sie hatten Nick und mich miteinander verbunden. Und dieses Gefühl konnte ich nicht einfach ignorieren.
»Unsere Welt, unser Universum, wenn du so willst, heißt in der modernen Sprache der Menschen grob übersetzt sowas wie ›Anderswelt‹«, begann er. »Der Name wurde zunächst von den jüngeren Unsterblichen benutzt und hat sich in den letzten Jahrzehnten etabliert.« Er zuckte lässig mit den Schultern. »Ist auch einfacher, bei all den verschiedenen Sprachen und Dialekten. Innerhalb dieses Universums existieren verschiedene Welten, erreichbar und verbunden durch magische Portale. Unsere Heimat heißt Alliandoan, die Welt der Engel.«
Okay, wow … das war … wow. Das waren zu viele Informationen auf einmal, also konzentrierte ich mich zunächst auf ein Thema. »Wie könnt ihr euch dann verständigen, bei all den Sprachen?«
Nick zuckte lässig mit den Schultern. »Magie«, erwiderte er schlicht. »Die meisten der älteren Unsterblichen haben die verschiedenen Sprachen erlernt, aber die jüngeren Unsterblichen benutzen Runensteine zum Übersetzen. Entweder trägt man sie bei sich oder man bekommt sie wie ich, hm …«, er überlegte kurz, »implantiert wäre wohl das treffendste Wort.«
»Dir hat jemand einen Stein unter die Haut gesetzt?«
»Einen Zauber, keinen Stein.« Ah, ja. Okay.
»Aber auch das kann ich dir zu gegebener Zeit näher erklären. Arcadia«, fuhr er fort, »ist die Hauptstadt von Alliandoan. Dort wohnen wir. Oder zumindest steht dort unser Palast.«
»Unser Palast?« Mein Kopf rauchte schon jetzt, dabei vermutete ich, dass Nick noch nicht mal richtig angefangen hatte.
»Der Callahan Palast«, bestätigte er und trank einen Schluck Wein.
»Jede Welt hat eine Hauptstadt und einen Regenten, ähnlich zu dieser Welt nehme ich an. Die einzelnen Welten werden seit jeher aristokratisch geführt. In unserem Universum sind Prinzessinnen und Prinzen oder gar Königinnen oder Könige nichts Ungewöhnliches, Lilly. Aber damals … da waren die Monarchien eher repräsentativ. Sie waren beschränkt. Es gab Gerichte, Verfassungen, Gesetze … vieles davon existiert so heute nicht mehr. Nach dem, was wir in unserer Welt als den Clash bezeichnen, haben sich die Regeln geändert. Und unser Vater hat sich als alleiniger Herrscher der Anderswelt etabliert. Die Engel sind, hm, die regierende Spezies, wenn du so willst. Wir genießen das höchste Ansehen und wir haben das letzte Wort.«
Irgendwann also, vor langer Zeit, waren diese fremden Welten demokratisch gewesen und unser Vater hatte eine absolute Monarchie daraus gemacht? Ich wusste nicht, wie ich das finden sollte.
»Erklär mir das genauer«, bat ich Nick daher. »Der Clash«, fuhr er fort, »war ein Kampf der Welten. Die Unseelie, aus ihrer eigenen Welt verstoßene, bösartige Feenwesen kämpften gegen uns und ein paar der anderen Welten. Sie hatten ihre Angriffe Jahrzehnte vorbereitet und sich Hilfe aus Abbadon geholt, um uns alle gleichzeitig angreifen zu können. Der Kampf selbst dauerte Jahrzehnte und löschte große Teile der Anderswelt aus. Die Engel, unser Vater, um genau zu sein, beendeten das Abschlachten, bevor die letzten unangetasteten Welten auch noch fallen konnten.«
»Genießen die Engel daher so ein hohes Ansehen?«
Eine kleine Ader an Nicks linkem Auge zuckte bei dem Wort Ansehen verdächtig. »Wir werden respektiert, ja.«
Respektiert zu werden, war bei Weitem nicht dasselbe, wie gemocht zu werden.
»Wie viele Welten gibt es?«
»Früher?« Nick seufzte. »Wahrscheinlich unendlich viele, bedenkt man noch unbekannte oder in Ruhe gelassene Parallelwelten. In den Überlieferungen ist von mindestens dreißig bekannten Welten die Rede, aber die Zahlen schwanken. Heutzutage gibt es sieben, deren Grenzen und Portale in Takt sind und deren Völker in Frieden leben.«
Sieben nur noch. Beunruhigt schaute ich zu ihm auf. »Alle anderen Welten sind … tot? Und die Menschen, ich meine Wesen …?« Nick lächelte mich an. »Wir selbst bezeichnen uns als Unsterbliche. Einige der Unsterblichen aus den verlorenen Welten suchten Zuflucht in anderen Welten.«
»Und sie wurden aufgenommen?«
»Mehr oder weniger«, murmelte er leise und ich bekam das Gefühl, dass mehr an der Geschichte dran war, als er aktuell preisgeben wollte.
»Okay«, nickte ich, »das habe ich soweit verstanden. Erzähl mir mehr von den Welten.«
»Einer der Minister aus Arcadia könnte dir dabei sicherlich besser weiterhelfen, aber ich gebe mein Bestes.«
Er trat um den Tresen herum und setzte sich auf einen der Hocker neben mir. Mittlerweile war es dunkel geworden und die Küche wurde nur noch von ein paar wenigen Kerzen erhellt. Nick, der meinen Blick schon wieder richtig gedeutet hatte, wedelte nonchalant mit seiner freien Hand und entzündete damit die restlichen Kerzen auf dem Fenstersims.
»Whoa!«
Lachend stieß er mit seinem Glas gegen meins. »Das wirst du auch noch lernen. Vorausgesetzt du bleibst.«
Hatte ich denn eine Wahl? Fast hätte ich die Worte laut ausgesprochen, aber es war zu früh, um mir ein Bild von alledem machen oder gar Entscheidungen treffen zu können.
»Erzähl weiter«, bat ich Nick daher nur.
Für einen Moment schwieg er. Ein Ausdruck von Enttäuschung huschte über sein Gesicht. Dann jedoch schien er sich zu fangen und mit einem leisen Räuspern sprach er weiter. »Die anderen Welten, mal überlegen.« Er hob eine Hand und begann mit seiner Aufzählung. »Vesteria ist unser stärkster Verbündeter. Die Welt der Formwandler«, erklärte er mir und meine Augen wurden kugelrund.
»Werwölfe?«
»Nicht ganz. Ein Formwandler ist zu wesentlich mehr in der Lage, als sich in einen übergroßen Wolf zu verwandeln. Drake Careus ist ihr Herrscher. Nach deiner Initiation in Arcadia wird dies unser erster Stopp sein. Drake ist ein Charmeur, Lilly. Er wird dir mit Sicherheit alles über die Magie seines Volkes erzählen. Dann gibt es noch Dhanikans, die Welt der Zauberer und Hexen. Ein Land voll unglaublicher Magie und beeindruckender Berglandschaften. Die Zauberer betreiben Handel mit den restlichen Welten und verkaufen ihre Magie, hauptsächlich durch Runensteine. Besonders hilfreich bei Portalreisen«, fügte er zwinkernd hinzu.
Bevor ich auch nur ein Wort richtig verarbeiten konnte, erzählte Nick weiter.
»Fenodeere liegt dicht an Vesteria. Nur wenige Welten sind heutzutage noch so einfach zu erreichen oder haben durch Portale verbundene, direkte Grenzübergänge. Fenodeere ist einer unserer wichtigsten Handelspartner. Die Zwerge und Kobolde des Bergvolkes sind die besten Waffenschmiede, die man sich vorstellen kann. Ihre Körperkraft ist enorm. Magie besitzen sie jedoch meist keine. Fenodeere arbeitet daher oft mit den Zauberern Dhanikans‘ zusammen. Crinaee ist die Welt der Wasserwesen. Najaden, Nymphen und Sirenen«, erklärte Nick und grinste mich feixend an.
»Besonders beliebt bei den … hm … ledigen Unsterblichen.«
Zu sagen mir schwirrte der Kopf, war die Untertreibung des Jahrhunderts. Zauberer? Zwerge und Najaden? Was kam als nächstes, Vampire und Zombies?
»Dann gibt es noch Thaumas, die Welt der Harpyien. Ganze Städte existieren dort oben in den Wolken. Du wirst es lieben! Ich habe früher ein paar Sommer in Thaumas verbracht und gelernt, die Sturmwinde zu reiten.«