- -
- 100%
- +
»Sturmwinde?«
»So nennen die Krieger ihre geflügelten Biester. Thaumas ist eine Welt des Krieges, Lilly. Die Krieger sind hauptsächlich weibliche Harpyien, da sie die Gabe besitzen, sich mit ihrem Sturmwind zu synchronisieren. Ihre Magie erkennt und ergänzt sich und macht sie so noch stärker. Und vor allem noch gefährlicher.«
»Womit betreibt Thaumas Handel«, fragte ich, »wenn die Welt fast nur aus Kriegern besteht?«
Nick seufzte. »Genau damit. Mit Krieg. Viele von ihnen verkaufen sich als Söldner oder Personenschützer.«
Das klang … brutal. Und unmenschlich. Aber genau das war es auch, dachte ich. Alles, was Nick mir erzählte, war unmenschlich, weil es zu einer ganz anderen Welt gehörte. Einer Welt voller Magie und unsterblicher Kriegerinnen und Krieger. Wo sollte ich in diese Gleichung passen? Eine einfache Kellnerin?
»Wer herrscht in Thaumas?«
»Odile und ihr Gefährte Aello«, antwortete er. »Aello ist Anführer der Bodentruppen und seine Gefährtin Odile ist die Herrscherin der Lüfte. Sie ist die Königin. Die Harpyien folgen ihr blind, ebenso die Sturmwinde. Ihr Biest ist der Alpha des Rudels.«
Das wiederum klang ziemlich interessant. Eine weibliche Herrscherin mit so viel Einfluss könnte in all dem Irrsinn vielleicht zu einer Verbündeten werden. Vorausgesetzt natürlich, ich blieb.
»Es fehlen zwei Welten.«
Nick griff nach seinem Glas und exte seinen Wein in einem Zug. Anscheinend war er es, der jetzt nervös wurde. Mein Kopf jedenfalls fühlte sich an, als würde er über den Wolken schweben. Das alles war völlig … fantastisch. Obwohl ich jeden Tag während der Arbeit und in meinem eigenen Zuhause von Fantasybüchern umgeben war, hätte ich mir solch eine Story in meinen kühnsten Träumen nicht ausdenken können. So furchteinflößend das alles aber auch klang, es war faszinierend. Formwandler, Zauberer und Frauen, die auf Sturmwinden durch die Wolken flogen?
»Zählt man Abbadon hinzu fehlen sogar drei, aber die Welt der Dämonen lassen wir für heute außen vor.«
»Dämonen«, hauchte ich. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Es gab also wirklich Dämonen.
»Es gibt sie«, bestätigte er, »in vielen verschiedenen Formen. Und sie sind seit jeher unsere Feinde. Aber Abbadon ist ein sehr komplexes, eigenes Thema, Lilly.«
»Okay. Dann erzähl mir von den beiden fehlenden Welten«, bat ich ihn und speicherte meine Fragen über Abbadon und die Dämonen für später.
»Anak und Permata.« Die Stimme meines Bruders, Nicks Stimme, verbesserte ich mich schnell, klang düster. Ich brachte das Wort Bruder noch nicht einmal in Gedanken über die Lippen. Sein Tonfall hatte sich drastisch geändert und neugierig geworden, musterte ich ihn.
»Was ist mit diesen Welten? Warum wirst du auf einmal so abweisend?«
»Nicht alles in unserem Universum läuft perfekt oder überhaupt gut, Lilly. Das wirst du früh genug erfahren. Mit viel Macht kommt auch große Verantwortung und leider funktioniert das System nicht immer optimal. Unser Vater hatte es nach dem Clash nicht einfach. Unsere gesamte Welt lag in Schutt und Asche, nicht nur Alliandoan, und er hat versucht, wiederaufzubauen oder zu retten, was zu retten war. Dafür mussten Opfer gebracht werden.«
»Was genau versuchst du mir hier zu sagen, Nick?«
»Anak ist die Welt der Nephilim«, begann er.
»Halb Engel, halb Mensch?«
»Nicht ganz«, korrigierte er mich sanft. »Ein Nephilim ist ein halber Engel. Egal welche unsterblichen Gene sich mit denen eines Engels mischen, die Engels-Gene sind immer die dominanten.«
»Dann ist Anak eine Welt voller Engel?« Warum hatten sie dann überhaupt eine eigene Welt? Scheinbar blieben Unsterbliche gern unter sich. Aber sollten die Engel nicht in Alliandoan sein?
»Nach dem Clash wurden unsere Welten härter, zum Teil auch grausamer. Alle waren nur noch auf ihren eigenen Vorteil und ihr Überleben aus. So wurden die Schwächeren unter uns vergessen…
Und ausgegrenzt. Die Engel, also wir … erkennen die Nephilim nicht an. Ihr Blut ist nicht rein und ihre Magie nicht so mächtig wie unsere. Meist haben sie gar keine Magie. Daher ist ihnen der Zutritt nach Alliandoan untersagt. Außer sie kommen, um zu arbeiten.«
»Das ist nicht dein Ernst!«
Nick fuhr sich mit beiden Händen durch die blonden Haare, ehe er mich leicht gequält ansah.
»Ich fürchte ja.«
»Und das ist okay für dich?«, brauste ich auf und starrte ihn fassungslos an. Wenn ich in der Welt der Menschen eins gelernt hatte, dann, dass es nie gut ausging, wenn jemand über Rasse oder reines Blut sprach. Nie!
»Aber sie sind Engel!«
»Das sind sie eben nicht.« Nick sah mich seufzend an. »Hör mal, Lilly, ich weiß, das ist alles verdammt viel auf einmal. Unser System ist ganz anders als alles, was du kennst. Aber bevor du unsere Welten verurteilst, lerne sie erst einmal kennen, okay?«
Tief in Gedanken schwieg ich für einen Moment. »Dir ist bewusst, dass wenn alles, was du mir erzählt hast, wahr ist, ich eigentlich nach Anak gehöre, nicht wahr?«
»Niemals!« Nicks Augen verdunkelten sich gefährlich.
»Das ist heuchlerisch, Nick. Ich bin zur Hälfte Mensch, was mich zu einer Nephilim macht.«
»In der Theorie, ja«, erwiderte er zähneknirschend, »in der Praxis jedoch sprach ich von anderen unsterblichen Genen, die sich mit unseren Genen mischen. Wenn unsterbliche Gene sich vermischen dann harmonieren sie entweder miteinander oder sie kämpfen. Neue Spezies können entstehen. Im Falle der Engel ist dies … kompliziert. Deine andere Hälfte ist nicht unsterblich, sondern menschlich. Die Gene der Menschen sind sterblich und schwach. Sobald deine Magie komplett aktiviert ist, werden nur noch die dominanten Gene übrigbleiben und das macht dich unsterblich und zu einem Engel. Mit Magie.«
»Das heißt, meine menschliche Seite … stirbt?« Ein gleichzeitig gruseliger wie faszinierender Gedanke.
»Könnte man so sagen, ja.« Hm.
Anscheinend hatte er eine Weile über dieses Thema nachgedacht. So plausibel es jedoch auch klang, nach allem, was er mir gerade erzählt hatte, bezweifelte ich stark, dass alle in Alliandoan oder der Anderswelt dieser Logik folgen würden. Wenn die Engel wirklich so diskriminierend waren, dass sie ihre eigenen Leute nach einer weltverändernden Krise abgeschoben hatten, dann konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie mich als Thronerbin akzeptieren würden.
»Und Permata?«
»Die Welt der Ghoule«, nahm er den Faden wieder auf. Offensichtlich erleichtert, dass wir das Engelsthema für den Moment hinter uns ließen. »Auch hier gibt es mit Sicherheit … Verbesserungsbedarf.«
»Werden sie auch geächtet?« Meine Stimme troff vor Sarkasmus und ich erkannte mich selbst kaum wieder. Natürlich klang das, was er mir erzählte, nicht gut, aber ich kannte diese Welten wie lange? Fünf Minuten. Wer war ich, mir da einbilden zu können, ich würde sie verstehen. »Entschuldige«, fügte ich daher kleinlaut hinzu.
»Ist schon gut. Es ist viel, ich weiß. Permata ist hauptsächlich eine Welt der Bauern und Sklaven, Lilly. Seit den Tagen des Clash arbeiten die Ghoule meist als Haushaltshilfen oder Erntehelfer in den anderen Welten. Aber auch davor hatten sie es nicht immer leicht. Seit jeher wird versucht, sie möglichst klein zu halten. Ihre Magie ist … eigen. Sie können Gefühle und Verbindungen spüren und sehen. Ein Ghoul hätte beispielsweise sofort gesehen, wer du bist. Nämlich meine Schwester.«
»Also sehen sie Liebe, Hass oder auch Intrigen …«
»Ganz genau«, bestätigte Nick. »Und das wiederum macht sie …«
»Gefährlich für jeden in einer Machtposition«, beendete ich seinen Satz seufzend.
Nick warf mir einen anerkennenden Blick zu.
»Ich lese viel«, gab ich zu und zuckte lässig mit den Schultern. Vielleicht kam mir das jahrelange Lesen von Fantasyromanen und Krimis jetzt einmal zugute. Trotzdem war es wirklich viel zu verarbeiten. Außerdem sprach Nick die ganze Zeit davon, dass ich hierbleiben sollte. Erwartete man von mir, dass ich einfach so Teil dieser Welt wurde? Ich hatte ein eigenes Leben! Einen Job, eine Wohnung. Ich war mir nicht sicher, ob ich all das so einfach hinter mir lassen konnte. Auf der anderen Seite hatte ich mir gewünscht, eine Familie zu haben und dazuzugehören. Und jetzt saß ich meinem Bruder gegenüber, der mir von einem magischen, verborgenen Universum erzählte, dessen Thronerbin ich war. War ich es mir selbst nicht schuldig, herauszufinden, wo die Reise hinging?
»Ich möchte, dass du bleibst«, sagte Nick schließlich und sah mich ernst an. »Du bist die rechtmäßige Thronerbin der Anderswelt, Lilly.«
Mittlerweile umklammerte ich mein Glas beinahe fieberhaft.
»Du siehst aus, als würdest du gleich wieder umkippen«, bemerkte Nick trocken.
Vielleicht. Aber was erwartete er denn von mir.
»Natürlich tue ich das!« Mein Glas landete ein wenig zu schwungvoll auf dem Tresen vor mir. »Nicht nur, dass ich entführt wurde, nein, jetzt sagst du mir auch noch, dass ich deine Schwester bin und eine verdammte Prinzessin. Eine Prinzessin, die nicht nur ein Königreich regieren soll, sondern acht. Acht, Nick.«
Ich holte tief Luft, um meine plötzlich mehr als nervös flatternden Nerven zu beruhigen.
»Wer würde da nicht ausflippen, hm?«
»Okay, wenn du es so sagst, dann kann ich es verstehen.« Er zwinkerte mir zu. »Ein wenig. Aber, Lilly, du hast es gespürt, nicht wahr? Das Erwachen deiner Magie? Unser Geschwisterband? Du hast das alles gespürt! Die Magie zwischen uns.«
Zögerlich nickte ich. Ich hatte es gespürt, ja. Magie, dachte ich, echte Magie. So sehr ich es jedoch auch gespürt hatte und noch immer spürte, diese Verbindung zu Nick, so sehr hatte mein logisch denkender Menschenverstand Probleme, diese neuen Informationen zu verarbeiten.
»Bei uns ist dein Platz«, sagte er. »Bei mir.«
»Woher bist du so sicher, dass ich die Richtige bin?« Wenn unser Vater in der Welt der Menschen unterwegs gewesen war, hatte er vielleicht mehr als eine Frau geschwängert und zurückgelassen? Kein sehr schmeichelhafter Gedanke, aber durchaus möglich.
»Du meinst, wie ich sicher sein kann, außer der Tatsache, dass es zwischen uns funkt?«
»Ja.«
»Du hast ein Muttermal, nicht wahr?«
Mein Kopf ruckte hoch und verwirrt erwiderte ich Nicks wissenden Blick.
»Auf deinem linken Oberschenkel.«
»Ein … ein Geburtsmal, ja.«
»In der Form zweier Flügel.«
So hätte ich es jetzt nicht ausgedrückt, aber mit viel Fantasie konnte man die längliche, leicht ausgefranste Form durchaus als Flügel bezeichnen.
»Es ist das Mal der Callahans. Jeder Thronerbe hat es von Geburt an.«
»Aber du bist älter als ich!« Die Worte waren raus, ehe ich darüber nachdenken konnte.
»Das Mal weist dich als vom Schicksal auserwählt aus«, erklärte er mir ruhig. »Du wurdest damit geboren. Nicht ich.« Hinter dieser Aussage versteckte sich definitiv eine interessante, aber wenn ich den Ausdruck auf Nicks Gesicht und das plötzliche Glänzen seiner Augen richtig deutete, auch traurige Geschichte. Möglichst unauffällig schielte ich ihn von der Seite an.
»Das muss schwer gewesen sein«, begann ich vorsichtig, »so aufzuwachsen …«
»Das«, unterbrach er mich, »ist eine Geschichte für einen anderen Abend.« Lässig stand er auf und hielt mir seine ausgestreckte Hand entgegen.
»Für morgen. Wenn du bleibst.«
Ich zögerte einen Moment. »Nick, wer ist Lucan Vale?«
Und warum beunruhigte mich meine Reaktion auf diesen Mann fast mehr als die Tatsache, dass ich heute als Prinzessin einer magischen Welt aufgewacht war?
»Das ist definitiv eine Geschichte für einen anderen Abend«, entgegnete Nick und warf damit mehr Fragen auf, als er beantwortet hatte. Nach allem, was er mir gerade erzählt hatte, schien ihn der Gedanke an Lucan am meisten zu stressen.
»Du magst ihn nicht.«
»Das ist es nicht.« Langsam ließ er seine Hand sinken. »Aber ein gesteigertes Interesse für die Vale Familie bringt sogar Unsterbliche ins Grab. Schlag ihn dir am besten direkt aus dem Kopf.«
»Ich wollte nicht, ich meine …«, verlegen brach ich ab.
»Wir sollten jetzt schlafen gehen«, unterbrach Nick mein Gestammel und ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich ihn verärgert hatte. Enttäuscht sogar. Sofort bereute ich meine Frage. Immerhin wollte ich mich nicht direkt am ersten Abend mit meinem neuen Bruder streiten.
»Nick«, hielt ich ihn auf, »ich bin nur neugierig, okay? Ich verstehe das alles hier nicht. Aber«, fügte ich hinzu, als er etwas erwidern wollte, »ich freue mich, einen Bruder zu haben. Wirklich. Und ich werde über Nacht bleiben.«
Nicks Gesichtszüge entspannten sich sichtbar und jetzt wieder liebevoll sah er auf mich herab.
»Wir haben Zeit, Lilly.«
Wenn ich wirklich Teil dieser Welt war, eine Unsterbliche, dann war Zeit das, wovon ich am meisten hatte. Mit unverfänglichem Smalltalk brachte Nick mich zurück zu meiner Suite. Noch vor ein paar Stunden hatte ich dieses Zimmer als Gefängnis empfunden, jetzt jedoch schien es mein sicherer Hafen zu sein. Erleichtert betrat ich die mir vertrauten vier Wände und drehte mich noch einmal zu Nick um.
»Hier.« Er hielt mir einen kleinen, handbeschriebenen Zettel entgegen.
»Was ist das?« Neugierig musterte ich den Zettel. »Ein Zauber?«
»Das W-Lan Passwort.«
»W-Lan?« Was sollte ich denn mit dem W-Lan Passwort, wenn ich nicht mal mein Handy griffbereit hatte? Aber eventuell konnte ich Nick ja dazu überreden, ein paar meiner Sachen zu holen, während ich überlegte, ob es wirklich klug war, zu bleiben.
»Wir sind keine Wilden, Lilly.« Nick grinste mich an. Er nickte in Richtung des Zettels, den ich fest umklammert hielt. »Zumindest nicht hier. Moderne Technik funktioniert in der Anderswelt nicht.«
Oh. Darüber hatte ich bis jetzt noch nicht nachgedacht. Aber wahrscheinlich brauchte man die moderne Technik und ihre Annehmlichkeiten überhaupt nicht, wenn man Magie besaß.
»Willkommen zu Hause, Prinzessin.«
Formvollendet verbeugte Nick sich vor mir, ehe er lächelnd die Tür zuzog. Alleine mit mir selbst und meinen Gedanken legte ich den kleinen Zettel auf den Nachttisch und ließ mich erschöpft auf das große Bett fallen. Jemand hatte es während meiner Abwesenheit wieder hergerichtet und mein Tipp fiel dabei auf Alina. Zumindest vermutete ich, dass es das war, was Kammerzofen taten. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, dass die junge Frau hinter mir herräumte. Aber ich konnte eine Verbündete gut gebrauchen. Eine Freundin. Emotional ausgelaugt rollte ich mich auf die Seite und ließ meine Gedanken wandern. Eine magische Welt, dachte ich fasziniert. Mehrere Welten. Und ich war offensichtlich ihre Prinzessin. Thronerbin, ermahnte ich mich selbst. Das hieß, dass ich eines Tages Königin sein würde. Wie konnten sie jemanden wie mich auf dem Thron wollen? Ich war nicht gut mit Menschen, wie sollte ich da ein ganzes Königreich regieren? Ein zaghaftes Klopfen riss mich aus meinen Gedanken.
»Eure Hoheit?« Alinas sanfte Stimme drang gedämpft durch die Tür. »Kann ich reinkommen?«
»Ja«, nuschelte ich, das Gesicht in den Kissen vergraben.
»Hoheit, was … was tut Ihr da?« Sichtlich verwirrt starrte die junge Frau auf mich herab.
»Nachdenken«, seufzte ich und drehte mich zurück auf den Rücken. »Das alles hier«, ich wies auf das Bett, die Suite und zuletzt auf Alina selbst, »ist verdammt viel zu verarbeiten.«
Mit einem verständnisvollen Nicken stellte sie ein kleines silbernes Tablett neben dem Bett ab. Der Geruch von heißer Schokolade stieg mir in die Nase und gierig robbte ich dichter an den Nachttisch heran.
»Ist das …?«
»Ollis berühmte heiße Schokolade, Hoheit.«
Ich wusste nicht wer dieser Olli war, aber es roch himmlisch. Vorsichtig griff ich nach der Tasse und sog den kräftig schokoladigen Geruch tief in meine Lungen. Herrlich.
»Eure Hoheit, Ihr …«
»Mein Name ist Lilly«, unterbrach ich Alina und sah sie freundlich an.
»Du musst mich nicht Hoheit oder Prinzessin nennen, Alina. Ich bin Lilly. Und bis vor ein paar Stunden war ich eine einfache Kellnerin, die in einer kleinen Dachgeschosswohnung gewohnt hat.«
Meine Antwort wurde mit einem schnellen Lächeln belohnt.
»Dennoch seid Ihr eine Callahan, Hoheit. Und meine zukünftige Königin. Wir haben lange nach Euch gesucht«, fügte sie leise hinzu.
»Ihr werdet doch bleiben, oder?«
»Soll ich bleiben?«
»Natürlich!« Irritiert sah sie mich an. »Dies ist Euer Zuhause. Arcadia ist Euer Zuhause!«
Noch nicht überzeugt, trank ich einen Schluck Schokolade und schloss überwältigt die Augen. Meine Güte war das gut. Kräftig und mit einem Hauch von Zimt. Vielleicht würde ich allein der Schokolade wegen hierbleiben.
»Ich bin mir nicht sicher, was genau ich empfinde«, gab ich ehrlich zu. »Nick hat mir ein wenig von den verschiedenen Unsterblichen und ihren Welten erzählt. Auch von seinem … unserem Vater, aber alles … es klang alles so …«
»So was?«, hakte Alina leise nach.
»So hart.«
Unsere Blicke trafen sich über dem Rand meiner dampfenden Tasse und in diesem Moment sah ich etwas in Alinas Augen aufblitzen. Etwas, das mir die junge Frau auf Anhieb noch sympathischer werden ließ. Ich sah Feuer. Leidenschaft. Und Kampfgeist. Eigenschaften, die ich stets bewundert hatte.
»Die Anderswelt ist hart«, bestätigte Alina unverblümt. »Sie kann gnadenlos und grausam sein. Das bringen viel Macht und ein langes Leben mit sich. Aber sie ist auch wunderschön. Voller Magie und Wunder und verzauberten Welten, die Ihr Euch nicht mal im Ansatz vorstellen könnt. Wollt Ihr Euch die Chance entgehen lassen mehr über diesen Teil Eurer Herkunft zu erfahren?«, fragte sie mich lächelnd.
»Eine Möglichkeit all das zu sehen, wovon die meisten Sterblichen nur träumen können. Und gleichzeitig die Aussicht das zu verändern, was längst überholt ist?«
Ein wenig verwundert musterte ich die junge Frau vor mir genauer. Oh ja, da war definitiv ein Feuer hinter der sanften, perfekten Fassade.
»Ich brauche keine Kammerzofe«, entfuhr es mir, ohne dass ich weiter darüber nachdachte.
»Aber«, fügte ich rasch hinzu, als das Lächeln aus Alinas Gesicht verschwand, »eine Freundin hätte ich sehr gerne.«
Die junge Frau musterte mich einen Moment lang stumm, und ich hielt den Atem an. Noch nie hatte ich eine andere Frau um ihre Freundschaft gebeten. Mein bereits angeschlagenes Herz würde es nicht verkraften, sollte sie ablehnen. Aber ich wollte ihre Freundschaft, weil sie mich mochte und nicht, weil ich ihre zukünftige Königin war.
»Ich wäre gern Eure Freundin.« Erleichtert atmete ich auf.
»Das freut mich sehr.« Lächelnd musterte ich Alina. »Ich habe so viele Fragen. Was ist Abbadon? Waren die Engel schon immer so ignorant? Wer ist Lucan Vale?«
Lachend sah Alina auf mich herab. »Ich sehe, dass Euer Bruder Euren Wissendurst nicht stillen konnte.«
»Er meinte, ich solle schlafen gehen und wir würden morgen weiterreden«, schmollte ich und erfüllte damit direkt meine neue Rolle als kleine Schwester.
»Es war ein langer, aufregender Tag für uns alle, Hoheit. Ich stimme Nick zu, aber«, sie hob anmutig eine Hand, ehe ich protestieren konnte, »ich werde Euch Eure Fragen beantworten, Hoheit. Morgen.«
»Wirst du mich dann auch bitte Lilly nennen, Alina?«
Dieser ganze formelle Quatsch mit Eurer Hoheit hier und Eure Hoheit da machte mich nervös.
»Bleibt bei uns, Hoheit, und ich ziehe es in Betracht.«
Alina verschwand kurz in dem großen Ankleidezimmer, ehe sie mit einem gemütlich wirkenden, cremefarbenen Pyjama wieder zurückkam. Lächelnd legte sie die Klamotten auf dem Bett ab und sah mich an.
»Ich habe das Gefühl Ihr würdet Euch lieber alleine fertig machen.«
Ich nickte bestätigend und stellte die mittlerweile leere Tasse auf dem Tablett ab.
»Es liegt nicht an dir, das weißt du hoffentlich. Aber ich … ich bin es gewöhnt, für mich alleine zu sorgen. Dennoch werde ich dich brauchen, um mich hier zurechtzufinden.«
Als sie nichts erwiderte, griff ich nach meinen neuen Schlafsachen. »Gute Nacht, Alina.«
Die andere Frau zögerte kurz, ehe sie sich noch einmal zu mir umdrehte. »Gute Nacht … Lilly.«
Überrascht sah ich auf, aber Alina war bereits verschwunden.

KAPITEL 3
Der nächste Morgen begann ziemlich genau so, wie am Tag zuvor. Ich wachte in einem überdimensionalen, flauschigen Bett auf, nahm eine absolut traumhafte Dusche in meinem neuen Luxusbad und stand dann lediglich im Morgenmantel bekleidet mitten in meinem Ankleidezimmer. In dem Ankleidezimmer verbesserte ich mich in Gedanken. Nicht meins. Noch nicht. Aber was sollte ich an meinem ersten Tag als Prinzessin anziehen? Was genau erwartete man jetzt von mir? Nick war gestern völlig normal gekleidet gewesen, Alina jedoch hatte eine Art Uniform oder Tracht getragen. Ebenso wie Lucan Vale. In meinem neuen Kleiderschrank entdeckte ich jedoch nichts weiter als normal aussehende Hosen, Shirts und Pullis. Ein paar pastellfarbene Abendkleider und züchtig geschnittene, weiße Kleider und Roben. Jeweils in zehnfacher Ausführung. Ich hatte bis dato nicht einmal gewusst, dass es so viele verschiedene Weißtöne gab. Achselzuckend schälte ich mich aus meinem Morgenmantel und entschied mich für eine gutsitzende, helle Jeans und einen mitternachtsblauen Pulli, der meine Haarfarbe vorteilhaft betonte. Dann schnappte ich mir die weißen Sneakers, föhnte meine Haare trocken und beschloss nach einem letzten Blick in den Spiegel, dass ich gut aussah. Was auch immer in diesen Fläschchen im Bad war, man könnte in Schönheitssalons ein Vermögen damit machen.
Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es erst kurz nach acht war. Ob schon jemand auf war? fragte ich mich und öffnete zaghaft meine Zimmertür.
Im Flur war noch alles still. Langsam schlich ich die große Treppe hinunter und … war das Musik, die ich da hörte? Ich folgte den leisen, poppigen Klängen bis in die große Halle, ehe ich die Tür zur Küche mit der Hüfte aufstieß. Die Musik wurde lauter und ich blieb wie versteinert stehen, als es nicht Alina oder Nick waren, die dort am Herd der Küche standen, sondern ein gutaussehender Mann Mitte Dreißig mit rötlich-braunem Haar. Erschrocken sah er auf und die Pfanne, die er schwungvoll hin und her geschwenkt hatte, erstarrte mitten in der Bewegung.
»Ich … Eure Hoheit«, stammelte er und sah mich mit vor Schreck geweiteten Augen an. »Ich wusste nicht, dass Ihr bereits wach seid.«
Die Pfanne landete krachend auf dem Gasherd, ehe sich der Mann vor mir eifrig die Hände an einem Handtuch abwischte und zu mir herübereilte. Noch immer wie versteinert, verfolgte ich jede seiner Bewegungen. Ebenso wie Nick war auch dieser Mann auffallend attraktiv. Vielleicht hatte das etwas mit den unsterblichen Genen zu tun, dachte ich, und erinnerte mich an Lucan Vale. Bevor meine Gedanken jedoch zu dem geheimnisvollen Fremden abschweifen konnten, verbeugte der Mann sich vor mir mit einem formvollendeten Eure Hoheit.
»Ich äh …« Etwas verlegen räusperte ich mich. »Hi?«
Er sah auf und lächelte herzlich auf mich herab. »Ich bin Oliver. Euer Hausherr.«
Ich hatte einen Hausherrn? Überraschen sollte es mich wohl nicht, bedachte man, dass ich auch eine Kammerzofe hatte.
»Lilly«, brachte ich ein wenig atemlos hervor, »ich bin Lilly.«
»Es ist mir eine Freude, Eure Bekanntschaft zu machen.« Oliver wies auf einen Platz am Tresen.
»Bitte setzt Euch. Ich hatte nicht so früh mit Euch gerechnet, aber Kaffee ist bereits fertig, Hoheit.«
Innerlich seufzend folgte ich seiner Einladung und ließ mich auf dem gleichen Hocker nieder, auf dem ich gestern Abend während meiner Unterhaltung mit Nick gesessen hatte.
»Könntest du das Hoheit vielleicht weglassen, Oliver?«
Überrascht sah er von der Kaffeemaschine und den zwei Tassen vor ihm auf.
»Wie bitte?«