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»Lilly!« Nick sah mich beinahe empört an und fast hätte ich mit den Schultern gezuckt. Was denn? Es entsprach doch der Wahrheit, oder nicht? Jedenfalls hatte dieser Lucan es schon wieder geschafft, mich auf die Palme zu bringen, obwohl wir uns noch nicht einmal kannten.
»Verdammt, Mädchen.« King fluchte grinsend, während Duncan versuchte, sein Lachen mit einem Räuspern zu überspielen.
»Das könnte interessant werden, Boss.«
»Ich mag sie jetzt schon«, fügte Duncan hinzu und zeigte dabei ein paar hinreißende Grübchen. Lucan jedoch warf mir einen strafenden Blick zu, ehe er sich erneut an Nick wandte. Am liebsten hätte ich mich hier und jetzt hingesetzt. Mein Herzschlag hatte sich bei unserem kleinen Austausch unangenehm beschleunigt und das Zittern meiner Knie musste mittlerweile für jeden gut sichtbar sein. Aber, dachte ich stolz, ich hatte meine Frau gestanden. Annabelle wäre stolz auf mich gewesen.
»Was macht ihr hier?«, wiederholte Lucan seine Frage von vorhin und richtete seine schwarzen Laseraugen auf Nick. King und Duncan musterten mich derweil ein wenig genauer. Mit Sicherheit registrierten sie meine geröteten Wangen und die zitternden Knie, aber sie erwähnten meinen Zustand mit keinem Wort. Worüber ich äußerst froh war. »Seit wann bist du hier, Prinzessin?«
»Gestern«, antwortete ich atemlos. Zu atemlos für meinen Geschmack.
»Ganz schön viel zu verarbeiten, hm?«, fragte der Krieger namens Duncan und ich unterdrückte ein hysterisches Kichern. Er hatte ja keine Ahnung.
»Ihr habt ja keine Ahnung …«, murmelte ich, während ich Nick und Lucan dabei zusah, wie sie sich gegenseitig niederstarrten.
»Wir sind jedenfalls froh, dass er dich gefunden hat, Mädchen.«
Ein wenig überrascht sah ich auf und schenkte King ein ehrlich gemeintes Lächeln.
»Danke.«
Wenigstens die beiden Assassinen vor mir scherten sich einen feuchten Dreck um Titel und sprachen mich nicht die ganze Zeit mit Hoheit an. Immerhin hatten sie ihren eigenen König, der nur wenige Meter von mir entfernt stand und ganz offensichtlich nicht sonderlich beeindruckt von mir war.
»Ich zeige Lilly das Haus«, beantwortete Nick Lucans Frage kurz angebunden und mit leichter Verzögerung.
»Und ich dachte du bist zum Trainieren hier, Prinzling.«
Nicks Augenbrauen schnellten in die Höhe und er musterte Lucan abfällig, ehe er zu mir sah.
»Lilly?«
»Lasst euch von mir nicht aufhalten …« Wenn sie unbedingt einen Schwanzvergleich brauchten, dann bitte. Allerdings machte es mich schon neugierig, was Training für einen Krieger wie Lucan bedeutete. Ich ging davon aus, dass die Männer durch ihre Unsterblichkeit schneller und stärker waren, aber würden sie auch ihre Magie benutzen?
»Du willst eine kleine Machtdemonstration für deine Schwester?«, wandte Lucan sich an Nick, der bereits dabei war, seine Hosentaschen auszuleeren. »Na dann komm her, Prinzling, und zeig ihr was du kannst.«
»Nenn mich nicht so!«, fuhr Nick Lucan rüde an. Erstaunt musterte ich Nick genauer. Bis jetzt hatte ich ihn nur freundlich erlebt, aber Lucan schien andere Gefühle in ihm zu wecken. Das wiederum konnte ich bereits nach kurzer Zeit gut nachvollziehen.
»Wie Ihr wünscht … mein Prinz.« Lucan sah mich an und schenkte mir ein kleines, fieses Grinsen, bei dem mir augenblicklich ein wenig schwindelig wurde. Nick nutzte genau diesen Augenblick, um sich auf den Assassinen zu stürzen. Ich unterdrückte einen Aufschrei, und versuchte zu verstehen, wie es möglich war, sich so schnell zu bewegen. Lucan wehrte Nicks Angriff mit Leichtigkeit ab und die beiden Männer begannen, gezielte Tritte und Fausthiebe auszuteilen. Zumindest nahm ich an, dass es so war, denn das, was sie taten, war so viel schneller als das, was ich zuvor bei King und Duncan gesehen hatte. Sie bewegten sich in solch einem Tempo, dass ich sie nur verschwommen vor mir sah. Wie in einem Actionfilm, den man auf Vorspulen gestellt hatte, rasten sie an mir vorbei. Nach einer Weile jedoch gewöhnten sich meine Augen an das Tempo und ich konnte erkennen, wie graziös und perfekt ihre Bewegungen waren. Anscheinend vollführten sie so etwas wie eine Trainings-Session, denn bwohl sie scheinbar erbarmungslos aufeinander einprügelten, verletzte keiner den anderen ernsthaft. Es sah aus, wie ein schöner, aber tödlicher Tanz.
»Wow …«
»Das ist noch gar nichts.« Duncan grinste mich fröhlich an und verschränkte beide Arme vor der muskulösen Brust. »Sie kämpfen quasi auf Sparflamme.«
»Magie ist beim Training nicht erlaubt«, erklärte mir King, ohne den Blick von Lucan zu lösen. Die Vorstellung ging noch ein paar Minuten so weiter, ohne dass einer der beiden Männer auch nur ins Schwitzen kam oder außer Atem geriet. Immerhin musste ich mir bei der Kontrolliertheit ihrer Hiebe keine Sorgen machen, dass der angeblich gefährlichste Krieger der Anderswelt meinen Bruder in irgendeiner Weise verletzte.
Ah, verdammt. Jetzt hatte ich es getan. Ich hatte Nick als meinen Bruder bezeichnet. Wenn auch nur in Gedanken, so hatte ich dem Kind einen Namen gegeben. Aber wie könnte ich auch nicht? Nick war süß und nett zu mir. Aufmerksam und liebevoll. Und immerhin war er mein Bruder, denn ich spürte das Geschwisterband, das uns seit gestern Abend miteinander verband als leises Echo in meiner Seele. Und er konnte kämpfen! Aufgeregt und mit wildklopfendem Herzen beobachtete ich die beiden Männer und fragte mich, ob mein Körper zu solchen Leistungen auch in der Lage war. Zwar war ich nie besonders sportlich gewesen, aber ich hatte es auch noch nie ernsthaft versucht. Vielleicht würde das ja einer der Vorteile sein, wenn ich lernte, meine Magie zu kontrollieren. Ich stockte kurz. Wenn. Seit wann war aus falls und überhaupt ein wenn geworden? Aber es ließ sich nicht leugnen: Was ich hier vor mir sah und was ich die letzten Stunden erlebt und gesehen hatte, war nicht normal. Es war nicht … menschlich. Ich war nicht menschlich. Aus den Augenwinkeln fing ich Lucans dunklen Blick auf und ruckartig blieb der Assassine stehen. Sofort nahm sein Körper wieder die lässig arrogante Haltung von zuvor ein und hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, dann wäre ich niemals auf die Idee gekommen, dass er sich noch vor Sekunden schneller bewegt hatte als der Wind. Auch Nick stockte mitten in der Bewegung und schaute fragend zwischen uns hin und her.
»Was ist los?«
»Sie bleibt«, erwiderte Lucan.
»Wirklich?«, fragte Nick und drehte sich zu mir um. »Stimmt das?«
»Ich … äh …«, stammelte ich wenig intelligent.
Woher zum Teufel wusste Lucan das? Ich hatte es doch eben selbst erst beschlossen. Hatte ihm ein Blick in mein Gesicht gereicht, um meine Gefühle zu erraten? Falls ja, dann musste ich in seiner Gegenwart noch vorsichtiger sein, als ich bis jetzt geahnt hatte. Gott sei Dank hatte er nicht mitbekommen, dass ich ihn schon zweimal vor meinem inneren Auge ausgezogen hatte. Lucan lachte auf und erschrocken hielt ich mir die Hand vor den Mund. Hatte ich das etwa laut gesagt?
Schnell sah ich zu Nick, der jedoch noch immer verwirrt von Lucan zu mir schaute. Anscheinend nicht, aber wie zum Teufel hatte er das gemacht? Lucan grinste mich diabolisch an ehe er mit einem lässigen Winken über die Schulter Duncan und King zu sich rief und gemeinsam mit ihnen den Trainingsraum verließ, ohne sich noch einmal zu uns umzudrehen.
Kopfschüttelnd kam Nick zu mir herüber geschlendert und legte vorsichtig einen Arm um meine Schultern. Ganz so, als erwarte er Zurückweisung. Merkwürdigerweise fühlte sich seine Berührung jedoch gut an. Normal und vertraut.
»Mach dir nichts draus, er ist sehr eigen. An guten Tagen.« Ach was? Ich beherrschte mich jedoch und begnügte mich mit einem kleinen Lächeln.
»Du bleibst also?«, fragte er mich erfreut.
»Du glaubst ihm?«
»Er mag viele Fehler haben, aber so sehr es mich auch schmerzt das zuzugeben, Lilly, Lucan Vale ist der Beste.«
Noch ein wenig zögerlich nickte ich.
»Ich bleibe«, bestätigte ich, »das heißt nicht, dass ich alles verstehe, was hier vor sich geht«, nicht mal im Ansatz, »aber ich will es verstehen und ich bin bereit zu lernen.« Hatte ich nicht insgeheim auf eine Art lifechanger gewartet? Eine Chance? Ein Zeichen? Irgendetwas? Eins war klar, sollte ich mich auf dieses - zugegeben - immer noch fantastische Abenteuer einlassen, dann musste ich es zu einhundert Prozent machen. Keine halben Sachen, keine Ausreden. Ich würde mich auf diese neue Welt und meine Rolle in ihr einlassen und Nick die Möglichkeit geben, mich von seinen Worten und seiner Welt zu überzeugen. Nick drückte kurz meine Schulter, ehe er von mir abließ und seine Sachen aufsammelte.
»Das, Schwesterherz, ist alles, was ich von dir verlange.«

KAPITEL 4
»Eure Hoheit?«
Alinas zaghafte Stimme drang gedämpft durch die schwere Tür meiner Suite. Seufzend fragte ich mich, ob sie wohl einfach aufgeben und gehen würde, wenn ich sie lange genug ignorierte.
»Hoheit?« Es klopfte erneut, energischer diesmal. »Ich weiß, dass Ihr da drin seid.« Und dann: »Lilly!«
»Jaja«, murmelte ich und schlug die Bettdecke zurück. »Ich komme«, rief ich Alina wenig begeistert entgegen.
Im Schneckentempo stieg ich aus meinem Bett und grub meine Zehen in den flauschigen Teppich. War irgendetwas in dieser Welt nicht bis zum Erbrechen perfekt? Etwas oder jemand anderes als ich? fügte ich in Gedanken sarkastisch hinzu. Nicht mal mein Äußeres schien Minister Meyer, der ausgewählt worden war, um mich über Alliandoan und die Anderswelt zu unterrichten, oder Nick, meinen eigenen Bruder, Herrgott nochmal, komplett zufrieden zu stellen.
Heute war der große Tag, hatte der Minister mich gestern hoch erfreut informiert. Ein ganzes Team aus Anderswelt-Stylisten und Kosmetikern war hier, um mich prinzessinnengerecht aufzuhübschen. Anscheinend konnte man mich außerhalb dieser Wände sonst nicht standesgemäß präsentieren. Schon gar nicht in Arcadia. Bis jetzt war ich immer davon ausgegangen durchaus gute Haut und schöne Haare zu haben. Zusammen mit meinen ungewöhnlichen Augen waren meine weißblonden Haare immer ein Hingucker gewesen. Aber scheinbar war dem nicht so. Adieu Selbstbewusstsein, hallo Anderswelt.
Drei Wochen war es nun her, dass Nick und Lucan mich aus meiner Wohnung entführt hatten und ich Teil dieser Welt geworden war. Vor drei Wochen hatte ich Todd und Marco eine Nachricht per WhatsApp geschrieben und ihnen erklärt, dass Nick sich als mein verschollener Bruder entpuppt hatte und ich spontan mit ihm gehen würde, um den Rest meiner Familie kennenzulernen. Zumindest war ich so nah an der Wahrheit geblieben wie möglich. Verständlicherweise waren beide nicht sonderlich begeistert von meiner überraschenden Nachricht gewesen. Aber was hätte ich ihnen denn sonst sagen sollen? Todd zumindest hatte mir zugesichert, dass ich eine Arbeit hatte, egal wann ich mich dazu entschloss zurückzukommen. Es waren turbulente Wochen gewesen. Intensive Gespräche mit Nick (Nein, er ging nicht davon aus, dass ich bereits vollständig unsterblich war, wann dies der Fall sein würde, würde die Zeit und vor allem meine Magie zeigen) und Alina (Ja, es war völlig normal, dass ich noch nie wirklich krank gewesen war oder meine Periode bekommen hatte) sowie Unterrichtsstunden mit Minister Meyer (und seinem Lieblingssatz: Ihr müsst verstehen, Hoheit …) hatten meinen Kopf beinahe zum Explodieren gebracht. Dank meines neuen, coolen Runensteinzaubers, den der Minister mir schnell und schmerzlos unter die Haut meines linkes Handgelenkes gebrannt hatte, konnte ich zwar rein sprachlich alles verstehen, aber das hieß noch lange nicht, dass ich auch wirklich alles verstand. Vor knapp zwei Wochen hatte ich Nick in seinem Zimmer überfallen. Bewaffnet mit einer Flasche Wein hatte ich Antworten gewollt. Und sie auch bekommen. Unser Gespräch jedoch hatte, wie so ziemlich jedes Gespräch, das ich in der letzten Zeit führte, fast noch mehr Fragen aufgeworfen.
»Warum haben wir keine Flügel?«, hatte ich ihn an diesem Abend gefragt. Eine Frage, die mir seit meinem ersten Abend mit Nick auf der Seele brannte. »Wir haben doch keine, oder?«
Nick hatte lediglich mit den Kopf geschüttelt. »Nein.«
»Warum? Ich meine, wenn wir Engel sind, sollten wir dann nicht Flügel haben?«
Man konnte behaupten, dass ich mich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt hatte.
»Wir sind Engel, Lilly. Im Geiste sowie in unserer Magie. Wir sind ebenso eine Spezies der Anderswelt wie Formwandler oder Ghoule. Wir brauchen keine Flügel, um zu wissen wer oder was wir sind. Aber«, hatte er hinzugefügt, »wir hatten einst Flügel. Unglaubliche sogar.«
In diesem Moment hatte ich mir ein mentales High Five gegeben. Hatte ich‘s doch gewusst!
»Was ist passiert?«
»Der Clash«, hatte Nick geantwortet. Immer lief es auf diesen verdammten Clash hinaus.
»Ich glaube …«, Nick hatte mich aus intensiv glühenden, grünen Augen angeschaut, »ich glaube, dass die Balance uns die Flügel nahm. Als Strafe. Oder aber, dass sie eine Art Bezahlung waren. Dafür, dass die Balance unserem Vater geholfen hat, während des Clash.«
»Aber das sind nur Theorien?«
»Nur Theorien«, hatte er bestätigt. »In Alliandoan reden wir nicht gerne darüber. Für jene, die sich an eine Zeit mit Flügeln erinnern, ist es zu schmerzhaft. So auch für Olli und Malik. Ich habe ein paar Mal versucht, mit ihnen darüber zu reden, aber meistens blocken sie ab.«
Malik, der General unserer königlichen Garde. Ich hatte den adretten Engel in Uniform bisher nur kurz gesehen, aber er hatte einen sehr netten und kompetenten Eindruck gemacht.
»Erzähl mir, wie er so war, unser Vater.«
»Furchtlos«, hatte Nick geantwortet. »Stur und ziemlich, hm, du würdest es wahrscheinlich als altmodisch bezeichnen. Aber er war ein guter Mann, Lilly. Ein guter Herrscher. Er hatte es nicht einfach.«
Nicks Miene hatte sich bei seinen Worten drastisch verdüstert, also hatte ich versucht, ihn auf andere Gedanken zu bringen.
»Also … Zombies?« Wie erwartet hatte Nick angebissen und unser Spiel, das ich von da an zu einem abendlichen Ritual gemacht hatte, mitgespielt.
»Nein.«
»Geister?«
»Nicht direkt.« Hmm.
»Vampire?« Daraufhin hatte er genickt.
»Ernsthaft? Vampire?«
»In früheren Zeiten, ja. Früher hat es eine Menge verschiedener Welten und Spezies gegeben, Lilly. Vampyre«, er betonte das y als wäre es ein ü und ich grinste innerlich – Vampüre – »Furien, Dämonen, die nicht aus Abbadon stammten, verschiedene Unseelie Spezies, wie die Dunkelblüter oder die Elementarfeen. Die Anderswelt war ein aufstrebendes Universum und durch die Vereinigung von Gefährten entstanden wiederum neue Spezies.«
»Aber jetzt nicht mehr.« Es war keine Frage gewesen, sondern eine Feststellung.
»Jetzt nicht mehr.« Ein absolut trauriger Gedanke, der mich auch jetzt, Tage nach unserem Gespräch, noch immer beschäftigte. Der Unterricht des Ministers hingegen fiel wesentlich trockener aus als meine Gespräche mit Nick oder Alina.
Der Minister war ein kleiner, leicht rundlicher Mann mit einem nagetierartigen Gesicht und sehr wenig Geduld. Zumindest was mich betraf. Man konnte getrost behaupten, dass der Minister mich nicht sonderlich mochte. Ich lernte nicht schnell genug, ich konnte mir Dinge nicht gut genug merken, ich war nicht Engel genug, nicht königlich genug. All das stand ihm bei unseren täglichen Treffen ins Gesicht geschrieben. Am Anfang hatte ich seine Haltung akzeptiert, konnte sie sogar nachvollziehen, bedachte man, dass ich diese Welt bis vor wenigen Wochen nicht einmal gekannt hatte und sie eines Tages regieren sollte. Aber die Haltung des Ministers veränderte sich nicht. Im Gegenteil, ich hatte das dumpfe Gefühl, dass der Minister mich von Tag zu Tag weniger mochte. Egal wie viel Mühe ich mir gab.
Nick hatte mir erklärt, dass Minister Meyer zum heiligen Rat Alliandoans gehörte. Nur Mitglieder des Adels, wirklich, wirklich alte Mitglieder des Adels, waren Teil des aus Ministern bestehenden Rates. Da der Minister äußerlich in seinen Vierzigern zu sein schien, war er entweder sehr spät zu seiner Magie gekommen oder aber er war mehrere Jahrhunderte alt. Alle anderen Unsterblichen, die ich bis jetzt getroffen hatte, waren jung, attraktiv und in der Blüte ihres Lebens. Ich fragte mich, wie der Rest des Rates oder meines sogenannten Adels mich empfangen würde, wenn Minister Meyer, den Nick als Verbündeten bezeichnete, mir bereits so abwertend gegenüberstand.
In den letzten Tagen hatte ich gehofft, etwas über die Anderswelt und die Engel zu lernen, was mich davon überzeugen würde, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Leider war dem nicht so. Der Clash, die Welten, die Engel … ich verstand viele Zusammenhänge zwar deutlich besser, dennoch schienen die Engel oder eher der Engelsadel ein ignorantes, selbstverliebtes Volk zu sein, das sich einen feuchten Dreck um die Probleme der weniger Begünstigten kümmerte. Insofern hielt sich meine Freude in Grenzen, wenn ich an die heutige Initiation in Arcadia dachte.
Ich war aufgeregt, ja, immerhin würde ich das erste Mal durch ein magisches Portal in eine andere Welt reisen. Aber ich hatte auch Angst, Bedenken und Zweifel. Nach allem, was ich bis jetzt gelernt hatte, war es gut möglich, dass mich ein wütender Mob mich auf der anderen Seite erwartete. Bereit, mich gegen jemand wesentlich qualifizierteren auszutauschen. Muttermal hin oder her. Es war also keine Untertreibung, zu behaupten, dass ich jetzt schon genervt war. Wenn ich eines hasste, dann waren es fremde Menschen oder eher Unsterbliche, die ungefragt an mir herumzupften und in meinen persönlichen Bereich eindrangen. Grimmig riss ich die Tür auf, lediglich mit meinem kurzen Flanell Pyjama bekleidet, und starrte einer irritierten Alina entgegen. Eine ihrer elegant geschwungenen Augenbrauen hob sich kunstvoll an, als sie mein wenig schmeichelhaftes Outfit inspizierte.
Oh, wie sehr ich sie um diese Geste beneidete. Aber vielleicht brauchte man ebenso perfekt zurechtgezupfte Brauen wie sie, um die richtige Wirkung zu erzielen.
»Eure Hoheit«, verneigte sie sich leicht. »Ihr seid noch nicht angekleidet.«
»Wozu«, gab ich achselzuckend zurück, »dafür, dass ein Haufen Fremder mich gleich wieder auszieht, um an mir herumzuwerkeln?«
Ich ließ Alina in der offenen Tür stehen und schlurfte zurück in Richtung Bett.
»Eure Hoheit«, erwiderte Alina bemüht geduldig. »Bitte … Ihr müsst Euch fertig machen.«
Händeringend baute sie sich vor mir auf. Ihr Gesichtsausdruck zeigte eine Mischung aus Verzweiflung, Gereiztheit und einem Hauch von sorgfältig unterdrückter Wut.
Diese Wut war es, die etwas in mir ansprach. Etwas, das mich dazu verleitete, in mein Ankleidezimmer zu gehen und mir eine bequeme Yogahose und einen übergroßen roten Pullover zu holen. Wenn sie mich schon quälten, dann wollte ich wenigstens bequeme Klamotten anhaben. Ohne Scham schlüpfte ich aus meinem Pyjama und in frische Unterwäsche.
»Hoheit, ich …«, Alina räusperte sich. »Lasst mich Euch helfen.«
»Ich kann mich durchaus alleine anziehen. Aber«, fügte ich hinzu, »du kannst mir erzählen, was und wer genau mich gleich erwarten wird.«
»Hoheit, ich …«
»Alina.« Seufzend hielt ich inne. »Ich brauche keine Dienerin oder Kammerzofe«, erklärte ich ihr, »das haben wir doch schon geklärt. Wir sind Freundinnen und wenn ich etwas gebrauchen kann, dann eine Verbündete in diesem Wahnsinn hier. Jemanden, dem ich trauen kann«, fügte ich leise hinzu.
»Ihr … du hast recht«, erwiderte sie schließlich.
»Gut.« Nickend drehte ich mich um. »Kannst du mir mit einem Zopf helfen?«
»Natürlich, Hoheit.« Eifrig kam sie auf mich zu.
»Lilly«, verbesserte ich sie automatisch.
»Lilly.«
Als ihre sanften Hände gleichmäßig durch meine langen Haare fuhren, begann ich mich zu entspannten. Meinen Namen aus ihrem Mund zu hören, klang noch immer ein wenig fremd, ganz so, als teste sie den Klang des Wortes und die Bedeutung dahinter. Mein Titel und meine Stellung standen dabei wie eine riesige Mauer zwischen uns.
»Lilly«, wiederholte sie, fester diesmal, ehe sie mir mit flinken Fingern einen hübschen Fischgrätenzopf flocht.
»Ich mag wie sich das anhört«, sagte ich und sah ihr über meine Schulter direkt in die Augen.
Alina nickte lächelnd. »Ich auch.«
Und ich mochte auch, was ich in ihren Augen sah. Freundschaft, Loyalität und das Versprechen, für mich da zu sein. In diesem Moment wurden wir von Prinzessin und Kammerzofe zu normalen Frauen. Zu Freundinnen, die sich auf Augenhöhe begegneten.
»Es wird Zeit.«
»Muss ich wirklich? «
»Ich fürchte ja.«
Seufzend schlüpfte ich in meine schwarzen Birkenstock Sandalen. Eine meiner Bedingungen hier einzuziehen, war das Abholen einiger persönlicher Gegenstände und Klamotten gewesen.
Umgeben von meinen eigenen Sachen hatte ich mich direkt ein wenig wohler gefühlt.
»Ich freue mich nicht gerade darauf, ein komplettes Make-Over zu bekommen«, gestand ich.
»Es gibt sowieso nicht viel, was sie verändern oder verbessern können.« Alina zuckte lässig mit einer Schulter, als sie mich zur Tür führte. »Du bist wunderschön.«
Normalerweise hätte ich protestiert, denn ich mochte es nicht, auf mein Äußeres reduziert zu werden, aber Alinas Worte waren freundlich und aufrichtig. Sie versuchte nicht, mir zu schmeicheln, sie stellte lediglich fest.
»Ich glaube, ich brauche einen Drink, um das durchzustehen.« Fragend sah ich meine neue Freundin an. »Würdest du bleiben?« Für einen Moment herrschte Stille, ehe sie mich erfreut angrinste.
»Es wäre mir eine Freude.«
»Cool! Das wird ein Spaß! «
Es klopfte an der Tür und noch immer grinsend öffnete ich sie schwungvoll. Nick und Lucan standen vor mir, bereit mich zur Schlachtbank zu führen. Nick musterte mich wie immer freundlich, während Lucan mir seinen üblichen Blick aus Langeweile und milder Herablassung schenkte. »Warum grinst du so?«
»Es ist nichts«, erwiderte ich und tauschte einen geheimen Blick mit Alina. Die kicherte leise, während sie begann, meinen Pyjama zu falten und mein Bett auszuschütteln.
»Lass das!« Ich drehte mich um und packte sie kurzerhand am Arm. »Ohne dich mache ich das hier nicht.«
Nach kurzem Zögern ließ sie meine Bettdecke achtlos fallen und wandte sich uns zu. »Ich soll direkt mitkommen?«
»Natürlich!«, rief ich, während die beiden Männer uns aufmerksam beobachteten.
»Glaub ja nicht, dass ich diesen Mist alleine über mich ergehen lasse.«
Nicks Augenbrauen schossen in die Höhe und Lucans Blick wurde wacher, intensiver. Neugierig musterte mich der AssassinenKönig.
»Was meinst du damit?«
Ich ignorierte meinen Bruder. »Glaubst du, du kannst uns etwas Champagner besorgen?« Einer der Vorteile, wenn man steinreich war … Das Wort Champagner ging mir so leicht über die Lippen, als hätte ich um eine Flasche stilles Wasser gebeten.
»Du könntest Olli danach fragen.«
»Guter Gedanke«, lobte ich sie grinsend.
»Moment Mal«, mischte Nick sich ein. »Du klingst nicht sonderlich glücklich darüber, dass ein ganzes Team von Spezialisten hier ist, um sich um dich zu kümmern.«
Autsch. Es brauchte also ein ganzes Team, um mich herzurichten.
Wirklich, Nick?
»Glücklich über ein ganzes Team von Spezialisten, die an mir rumzupfen werden, weil ich nicht gut genug für Arcadia bin? Nicht hübsch genug? Nicht unsterblich genug?« Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie kommst du bloß darauf?«
Nick trat bei meinen Worten einen kleinen Schritt zurück und sah mich mit großen Augen an. Er schien verletzt über meine Antwort. Alina schnaubte neben mir wenig damenhaft. Und Lucan? Der sah mich an, als würde er mich zum ersten Mal sehen.
»Lilly«, begann Nick eindringlich, »ich würde nie … du, du bist wunderhübsch! Wir dachten, es würde dir gefallen, ein wenig … umsorgt zu werden.«