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„Ich suche meinen Sohn“, begann sie. „Er wird vermisst.“
„Ihren Sohn, aha.“ Sie sah die Zweifel in Blumes Augen. „Entschuldigen Sie bitte, wenn ich frage, aber wie alt sind Sie?“
Hanka nannte ihm ihr Alter.
„Fünfundsechzig. Schön. Und Ihr Sohn?“
„Sascha ist zweiundvierzig.“
„Also ein erwachsener Mann im besten Alter. Und er ist verschwunden, wenn ich Sie richtig verstehe. Was sagt denn die Polizei? Vielleicht ist er nur untergetaucht, weil er es so wollte. Oder ist er krank, geistig behindert vielleicht? Ist er verheiratet, hat er Kinder, oder lebt er allein? Wohnt er bei Ihnen zu Hause? Wie genau ist seine familiäre Situation?“
So viele Fragen! Und es gab nur eine Antwort: „Ich weiß es nicht.“
Blume riss überrascht die Augen auf. „Was heißt das, Sie wissen es nicht?“
„Er ist verschwunden, als er vier Jahre alt war.“
„Vier Jahre?“ Der Detektiv beugte sich ruckartig vor, kam ihrem Gesicht ganz nahe. „Entschuldigen Sie bitte, ich glaube, das verstehe ich jetzt nicht so ganz.“
„Es war am zweiundzwanzigsten August neunzehnhundertachtzig“, begann Hanka. „Ein Freitag. Ich erinnere mich noch genau. Mein damaliger Mann und ich waren mit unseren Kindern in Urlaub, im FDGB-Heim ,Hermann Danz‘ in Friedrichroda. Es war unser vorletzter Urlaubstag. Wir haben eine Wanderung zur Wechmarer Hütte gemacht. Ein Ausflugslokal mitten im Wald ...“ Sie erzählte Blume von Saschas Verschwinden, ließ kein Detail unerwähnt. Sie konnte sich nach beinahe vierzig Jahren an jede Kleinigkeit erinnern. Als wäre es gestern geschehen. „Und vor ein paar Tagen habe ich ihn gesehen! In einem Supermarkt. In Elbingerode, im Harz“, sprang sie unvermittelt in die Gegenwart.
„Moment, Moment.“ Blume hob abwehrend die Hände. „Ich will die ganze Geschichte hören. Schön der Reihe nach. Was ist in den Jahren dazwischen passiert? Was haben Sie unternommen?“
„Oh, das ist eine ganze Menge. Wenn Sie alles hören wollen, dann dauert das.“
„Egal. Ich habe Zeit.“
Hanka sah ihn an. Auch wenn sein Gesicht keine Regung zeigte, so signalisierten zumindest seine Augen, dass er neugierig geworden war. Seine sonore Stimme und sein offensichtliches Interesse beruhigten sie wieder ein wenig, ließen die Anspannung weichen, die sich in den zurückliegenden Minuten in ihr aufgebaut hatte. Sie schilderte dem Detektiv ihren Leidensweg in den Jahren nach Saschas Verschwinden in allen Einzelheiten. Der Detektiv lauschte aufmerksam. Er ließ sie reden, unterbrach sie nicht.
„Und jetzt glauben Sie also, ihn gesehen zu haben“, beendete Blume schließlich ihren Monolog. „Im Harz. Im Edeka-Markt in Elbingerode.“
„Genau. Das sagte ich ja schon.“ Sie schilderte ihm das Zusammentreffen mit Sascha und wie sie ihn wieder aus den Augen verloren hatte.
„Und allein dieser fehlende Finger hat Ihnen ausgereicht, um zu wissen, dass es sich um Ihren Sohn handelt?“
„Vergessen Sie nicht seine Augen! So leuchtend blau habe ich sie noch nie bei jemandem gesehen.“
„Trotzdem, ein bisschen wenig, um sich nach so langer Zeit gewiss zu sein, finden Sie nicht?“
„Hören Sie, ich bin seine Mutter!“, entrüstete sich Hanka.
„Schon gut. Ich verstehe“, beschwichtigte Blume. Dann sagte er nichts mehr, sah sie nur an, schien nachzudenken.
„Was ist jetzt? Helfen Sie mir?“, fragte Hanka nach einigen Augenblicken ungeduldig.
Blume seufzte, drückte sich gegen die Stuhllehne. „Also gut“, entgegnete er gedehnt, „ich werde versuchen, etwas über den Verbleib Ihres Sohnes herauszufinden. Wird nicht ganz leicht, allein mit Ihrer Beschreibung des Mannes aus dem Supermarkt.“
„Hören Sie, am Geld soll es nicht scheitern, falls Sie darauf anspielen.“ Sie dachte an ihr über die Jahre Erspartes. Für ihre Verhältnisse eine mittlerweile beträchtliche Summe. Eigentlich hatte sie das Geld anders verwenden wollen. Aber ihre Pläne waren mit Rudolfs zunehmend schlechter werdendem Gesundheitszustand ohnehin zur Makulatur geworden. Was sollte ihr also noch wichtig sein, außer, dass sie Sascha wieder in die Arme schließen konnte?
Später, als sie wieder in den Zug zurück nach Hause einstieg, hatte sie dem Detektiv einen Vorschuss in bar zurückgelassen und mit ihm weitere Treffen an noch zu bestimmenden Orten vereinbart, um dort über Ermittlungsergebnisse zu reden und, falls nötig, weitere Vorauszahlungen zu übergeben. Jetzt ruhte ihre ganze Hoffnung auf den Fähigkeiten des Mannes, der ihr so undurchdringlich erschienen war und der aus seiner Detektivtätigkeit ein ihr unerklärliches Geheimnis machte.
Kurz nachdem der Zug aus dem Hauptbahnhof gerollt war, schlug Hanka die Tageszeitung auf, die sie sich am Bahnhofskiosk gekauft hatte. Ihr Blick fiel auf eine Nachricht, die sie vor Schreck erstarren ließ:
Dietmar Knoche, der Leiter des Edeka-Marktes in Elbingerode war ermordet worden! Einen Tag, nachdem sie ihre Marmeladen bei ihm abgeliefert hatte und ihr Sascha über den Weg gelaufen war, hatte eine Angestellte seine Leiche gefunden – morgens, in seinem Büro. Knoche sei auf bestialische Weise umgebracht worden. Details zum Tathergang könne die Polizei aus ermittlungstaktischen Gründen zum jetzigen Zeitpunkt nicht preisgeben, hieß es in dem Zeitungsartikel und weiter, es gebe noch keine Erkenntnisse zu Täter und Motiv. Man ermittle in alle Richtungen.
4. Kapitel
Nachdem Hanka Altmann seinen Laden verlassen hatte, war Stefan Blume durch eine Tür in der Werkstatt verschwunden, von deren Existenz nur er allein wusste. Die kleine Butze, die sich hinter dieser Tür verbarg, war fensterlos und vollgestopft mit Computern und elektronischem Überwachungsgerät. Vier Monitore an der Wand links der Tür verschafften ihm einen genauen Überblick über alles, was sich auf der Straße vor seinem Laden abspielte und über jedermann, der seine Geschäftsräume betrat und sich darin umsah. Nichts, was sein unmittelbares und weitergehendes Umfeld betraf, blieb ihm verborgen. Über eine Konsole mit Aufnahmegeräten, Tastaturen und Steuersticks konnte er die Kameras dirigieren, die außen am Gebäude und in seinem Laden angebracht waren. Gut getarnt, war es Uneingeweihten kaum möglich, sie zu entdecken.
Auch die Ankunft dieser Frau war Blume nicht verborgen geblieben. Er hatte ihr interessiert, aber ohne Argwohn zugesehen, wie sie sich unschlüssig umgeblickt und gezögert hatte, einzutreten. Das war typisch für viele seiner Kunden, die spätestens, wenn sie vor dem Schaufenster standen, eine gewisse Scheu entwickelten, hereinzukommen. Ein defektes Gerät reparieren zu lassen anstatt es wegzuwerfen, oder ein gebrauchtes zu erwerben, mochte ihnen in der Theorie reizvoll erschienen sein. Aber den Schritt tatsächlich zu tun, bedeutete möglicherweise, dass sie später als Verlierer wahrgenommen wurden, sich ihren Freunden und Bekannten gegenüber erklären mussten. Second-Hand-Artikel waren etwas für Menschen zweiter Klasse, die es sich nicht leisten konnten, jedes Jahr einen neuen Fernseher, ein Smartphone der neuesten Generation oder einen noch intelligenteren Kaffeevollautomaten zu kaufen.
Erst als die Frau nach hinten über den Hof gegangen, dann die Außentreppe hinaufgestiegen war und versucht hatte, durch die Tür zu gelangen, waren Blume Zweifel an ihren Absichten gekommen. Bestimmt hatte sie etwas anderes erwartet, sicher kein Geschäft mit elektronischem Klüngelkram. Als sie kurz darauf in seinen Laden getreten war, hatte er bereits geahnt, nach wem sie suchte.
Wenn jemand wie diese Frau dann tatsächlich nach dem Privatdetektiv Stefan Blume fragte, musste er vorsichtig sein. Nicht umsonst versteckte er seine Detektei hinter der Fassade eines unscheinbaren Elektroladens. Es gab genügend Gründe für ihn, sich die Leute genau anzusehen, die seine Dienste als Ermittler in Anspruch nehmen wollten. Und er hatte Hanka Altmann sehr gründlich in Augenschein genommen. Gut, ohne den Namen Daniel Kettler wäre die Detektei für sie auch bei ihrem zweiten Anlauf verschlossen geblieben. Wenn Daniel seine Adresse weitergab, dann nur an vertrauenswürdige Menschen. Dennoch, ein gewisses Restrisiko blieb immer und es war an ihm, es mit seiner Menschenkenntnis auszuschalten. Und darin war er richtig gut, war es schon immer gewesen – Menschen zu beobachten, ihnen zuzuhören, die richtigen Fragen zu stellen und am Ende zu wissen, mit wem er es zu tun hatte. Einer der Gründe, warum er noch lebte, davon war er überzeugt.
Hanka Altmann war eine harmlose Frau, so viel stand für ihn fest. Eine Mutter, die seit einer halben Ewigkeit nach ihrem vermissten Sohn suchte. Sie hatte ihm eine Geschichte aufgetischt, so absurd, als sei sie einem fantasiebegabten, aber kranken Hirn entsprungen. Er hatte ihr trotzdem bis zum Ende zugehört. Und er glaubte ihr, weil er nur zu gut wusste, nichts von dem, was sie erlebt hatte, war erfunden. So etwas konnte sich ein normaler Mensch nicht ausdenken. Und mit genau diesem Wissen saß er jetzt da und stierte auf seine Monitore. Hanka Altmann hatte ihn in einen verdammten Zwiespalt gebracht.
Ja, er hatte zugesagt, ihr zu helfen. Er hatte ihr Geld angenommen. Was aber nicht bedeutete, dass er den Auftrag, ihren Sohn zu finden, auch wirklich ausführen würde. Denn wenn er das tat, darüber war er sich im Klaren, dann musste er sich möglicherweise den alten Geistern stellen, seine Deckung, zumindest ein kleines Stück, aufgeben. Er wusste nicht, ob er dazu bereit war.
Die fünfhundert Euro Vorschuss hatten ihm erst einmal etwas Zeit verschafft. Genug, um über seine nächsten Schritte nachzudenken. Vielleicht würde er einen Rückzieher machen, ihr einen Teil des Geldes zurückgeben, ihr zu verstehen geben, dass sie ihre Hoffnungen in einen unfähigen Mann gesetzt habe. Immer noch besser, als den eigenen Kopf zu riskieren. Andererseits, wollte er wirklich für den Rest seines Lebens weglaufen, ständig Angst haben müssen, dass sie ihn irgendwann enttarnten? Musste er das Auftauchen dieser Frau nicht vielleicht als Wink des Schicksals verstehen, selbst aktiv zu werden, anstatt das Heft des Handelns anderen zu überlassen?
Blume seufzte und ließ das Geld in einem Wandtresor verschwinden. Das nächste Treffen mit Hanka Altmann würde nicht hier in seinem Laden stattfinden, sondern an einem Ort, den er noch bestimmen und ihr mitteilen würde. Sie selbst durfte sich nur im äußersten Notfall bei ihm melden, das hatte er ihr eindringlich klargemacht. Diese Art von Kommunikation ließ er ausschließlich über Handys mit Prepaidkarten laufen, von denen er etliche auf Vorrat hortete und die er beliebig wechseln konnte. Nichts war schlimmer, als in der digitalen Welt Spuren zu hinterlassen. Wenn jemand das wusste, dann er.
Im Grunde war es ein einfacher Auftrag, den ihm Hanka Altmann erteilt hatte. Sie wollte nicht mehr von ihm, als dass er einen Mann ausfindig machte, der ihr in einem Supermarkt im Harz über den Weg gelaufen war. Und mit der Beschreibung und den hervorstechenden Merkmalen des Mannes – strahlend blaue Augen und ein fehlender Finger – konnte man durchaus etwas anfangen, auch wenn ihm lieber gewesen wäre, Hanka Altmann hätte ihm den Namen der Firma nennen können, für die der Mann arbeitete. Leider hatte sie dem Schriftzug auf dessen Overall und später auf dem Kastenwagen keine Beachtung geschenkt. Aber auch ohne dieses Detail hätte er den Job relativ schnell erledigen können. Doch das würde nicht gehen, denn wenn es sich tatsächlich um den verschollenen Sohn der Frau handeln sollte, dann spielte die Zeit, die seit dessen Verschwinden vergangen war, eine wichtige Rolle, ebenso wie die Frage, was mit dem Mann in dieser Zeitspanne geschehen war. Niemand, der in der damaligen DDR auf derart mysteriöse Weise vom Erdboden verschluckt oder, wenn seine Auftraggeberin recht hatte, gekidnappt wurde, tauchte nach beinahe vierzig Jahren in irgendeinem Kaff im Harz wieder auf, wo er ein einfaches, unauffälliges Leben führte. So etwas gab es nicht. Oder etwa doch?
Je länger er darüber nachdachte, desto weniger Zweifel hatte er daran, dass die Dinge komplizierter lagen, als sie auf den ersten Blick schienen. Zumal er heute Morgen in den Nachrichten von einem Mord gehört hatte. Vom Mord am Marktleiter eben jenes Supermarktes, in dem Hanka Altmann glaubte, ihrem Sohn begegnet zu sein. Das musste, für sich genommen, erst einmal nichts bedeuten. Er konnte auf Anhieb keine Zusammenhänge erkennen. Allerdings lehrte ihn seine Erfahrung, dass der erste Eindruck zumeist täuschte. Er spürte, dass es auch in diesem Fall so war. Sollte er sich tatsächlich auf die Suche nach dem Vermissten machen, dann konnte er nicht nur an der Oberfläche kratzen. Dann musste er tiefer graben. In einer Vergangenheit, die auch seine war. Zu seiner eigenen Sicherheit. Und außerdem würde er Hilfe brauchen.
In Gedanken ging Blume all jene Personen durch, die ihm bei seiner Suche nützlich sein konnten, vor allen Dingen aber, denen er vertraute. Viele waren es nicht. Im Grunde hätte er sich die Überlegungen sparen können, denn von der ersten Sekunde an hatte sich ein Name in seinem Kopf festgebissen. Es war der Name einer Person, die ihm näherstand, als jeder andere Mensch auf der Welt. Und das, obwohl er sie schon seit den Tagen kurz nach der Grenzöffnung nicht mehr gesehen hatte. Heimlich, ohne Abschied, ohne ein Wort der Erklärung war er damals aus ihrem Leben verschwunden. Von einer Minute auf die andere. Sie waren sich danach nie wieder begegnet, hatten nichts mehr voneinander gehört. Vergessen hatte er sie dennoch nicht. Er wusste nicht, wo sie sich aufhielt, wie sie lebte und was sie trieb, wie sie die zurückliegenden Jahre verbracht hatte. Er würde sie suchen müssen. Und wenn er sie gefunden hatte, würde er sie erst um Verzeihung und dann um Hilfe bitten. Von ihr wollte er es abhängig machen, ob er Hanka Altmanns Auftrag ausführte oder nicht. Sollte sie ihm vergeben und helfen wollen, war er zu allem bereit. Er hatte eine Heidenangst, ihr unter die Augen zu treten. Trotzdem beschloss er, genau diesen Weg zu gehen.
5. Kapitel
Erik Galland betrat das voll besetzte Café am Goslarer Marktplatz. Er brauchte einen Moment, ehe er Frank Neudeck, seinen Kontaktmann, entdeckte. Natürlich saß der wie immer an einem strategisch günstig gelegenen Platz. Von da hinten konnte er den Eingang im Auge behalten und den gesamten Raum überblicken, ohne selbst sofort gesehen zu werden. Vermutlich war es von Neudecks Tisch aus auch nur wenige Schritte bis zu den Toiletten. Solche Details waren ihm wichtig bei der Wahl des Tisches.
Der Mann fand immer wieder neue Orte für ihre Besprechungen, wählte nur äußerst selten einen Treffpunkt zweimal. Erik blieb kurz am Eingang stehen und ließ seine Augen durch das Café wandern. Dann schlängelte er sich zwischen den Gästen hindurch, steuerte auf Neudeck zu.
„Hallo Frank. Nett hier“, sagte er zur Begrüßung.
„Setz dich“, entgegnete Neudeck schroff, ohne den Gruß zu erwidern.
Erik zog überrascht die Augenbrauen hoch und quetschte sich auf den Stuhl in der engen Nische zwischen Tisch und Wand. „Schlechte Laune?“, fragte er
bissig. Er mochte es nicht, herumkommandiert zu werden.
„Was ist mit Knoche passiert?“, kam Neudeck sofort zur Sache. „Wer hat ihn ausgeknipst, verdammt? Habt ihr ihn liquidiert? Du und deine Kameraden?“
„Das Gleiche wollte ich von dir wissen. Lag ja nahe, dass du mich deswegen hast kommen lassen. Also, ich war’s nicht. Und dein Verein?“
„Nein, verdammt!“, fauchte Neudeck. „Würde ich dich sonst fragen?“
Der Mann wirkte nervös, wich seinem Blick aus, sah an ihm vorbei in den Gastraum.
„Ist ja gut“, beschwichtigte Erik. „Ich hab ihn jedenfalls nicht plattgemacht.“
„Sagt keiner, dass du das warst. Ich will wissen, ob ein anderer von euch dahintersteckt. Und wenn ja, warum?“
„Wer denn? Für die Jungs aus der regionalen Szene war er ein unbeschriebenes Blatt. Ein Zugereister, der nicht groß aufgefallen und keinem in die Quere gekommen ist.“
„Und was hört man von seinen beiden speziellen Freunden?“
„Keine Ahnung. Ich hatte mit denen bisher nichts weiter zu tun. War allein mit Dietmar beschäftigt.“
„Haben die Typen sich vielleicht bei Monas Mädchen ausgeheult? Weißt du davon irgendwas?“
„Nein! Aber ich renne auch nicht jeden Tag in ihren Puff! Ich habe Frau und Kind!“
Ach ja, Mona! Was würde er ohne sie machen! Ihr Bordell war Anlaufstation für die sexuell notleidenden und bedürftigen Kameraden der rechten Szene und außerdem ein Sammelbecken für alle möglichen Gerüchte und Intrigen, aber auch für handfeste Tipps. Erik kannte Mona schon etliche Jahre, hatte selbst in ihrem Etablissement immer mal Dampf abgelassen, wenn ihm danach war – bevor er Rike kennengelernt hatte. Jetzt waren er und die Bordellchefin nur noch beste Freunde und weiter, als bis an die Bar im Foyer ihres Hauses zog es ihn kaum noch. Er wusste, dass Monas Ohren für Mitteilungsbedürftige weit geöffnet waren, ebenso wie ihr Mund für Außenstehende fest verschlossen blieb. Innerhalb ihres hermetisch abgeriegelten Refugiums bekam man jedoch gelegentlich die eine oder andere brauchbare Information, wenn man ihr Vertrauen genoss. Und Erik gehörte zum Glück zu diesem erlauchten Kreis. Gelegentlich tat es ihm leid, dass er die Bordellchefin für seine Spitzeltätigkeiten missbrauchte. Das hatte sie nicht verdient, die gute Seele. Aber sie war nun mal fest im rechten Lager verwurzelt und kämpfte auf ihre Art für die rechtsnationale Sache. Nun, jeder Mensch musste sich irgendwann entscheiden. Er, Erik, hatte es getan – zu ihrem Pech für die Gegenseite.
Mona war es auch gewesen, die ihm das mit dem angeblich so großen Unternehmen gesteckt hatte. Die drei Kerle waren eines Tages bei ihr aufgekreuzt. Dietmar, Oliver und Patrick. Niemand kannte sie näher. Immerhin, sie waren stramm rechts orientiert, wären ansonsten auch nicht eingelassen worden. Erik hatte seine Informationen sofort an Neudeck weitergegeben, der für seine Verhältnisse ungewöhnlich nervös und hektisch auf die Nachricht reagiert hatte. Er war von ihm umgehend auf Dietmar Knoche angesetzt worden. Einfach, weil es sich anbot. Knoche hatte wenige Wochen zuvor den Marktleiterposten im Elbingeröder Edeka-Markt übernommen, dem Markt, der zu den Kunden des Kurierdienstes gehörte, bei dem er, Erik, arbeitete.
„Vielleicht solltest du dich trotzdem etwas öfter bei Mona blicken lassen“, meinte Neudeck.
Der Mann war echt lustig! Wie sollte er solche zusätzlichen „Überstunden“ Rike erklären? Sein Kontingent an Ausreden war allmählich erschöpft.
„Was soll das bringen? Ich bin mir sicher, die drei haben die ganze Verschwörungsscheiße sowieso nur erfunden, um vor Mona und ihren Mädchen auf dicke Hose zu machen.“
Neudeck sah das anders. „Glaube ich nicht. Ich bin mir sicher, die haben irgendein großes Ding am Laufen. Dietmar ja jetzt nicht mehr, aber Oliver und der dritte, dieser ...“
„Patrick.“
„Richtig, Patrick. Und ich wette mir dir, das sind nicht alle. Da gehören noch weitere dazu. Okay, die drei haben einfach gequatscht, vage Andeutungen gemacht, nichts Genaues, das ist klar. Aber eben genug, um Interesse zu wecken. Weil du manchmal irgendwo hinmusst mit den ganzen Geheimnissen, die auf dir lasten und die du nicht ausplaudern darfst. Monas Bordell ist ja wohl ein Ort der Verschwiegenheit, dazu sind die Chefin und ihre Mädchen im besten Sinne linientreu. Hast du jedenfalls gesagt. War das nicht so, dass bei ihr keiner über die Schwelle treten darf, der keinen Ariernachweis vorlegen kann?“
Erik nickte. „Nicht ganz so streng, aber so ungefähr.“
„Also, ich denke, die drei haben keine Märchen erzählt. Deshalb wirst du auch weiter versuchen, in den inneren Zirkel einzudringen.“ Neudeck klang nicht so, als wolle er mit sich verhandeln lassen. „Musst du dich eben an die anderen beiden halten, jetzt, wo der Marktleiter ausfällt.“
Die Kellnerin kam und brachte Kaffee. Neudeck hatte in weiser Voraussicht zwei große Tassen bestellt, dazu für jeden ein Stück Käsetorte.
„Ich hoffe, ich habe deinen Geschmack getroffen.“
„Ja. Danke.“ Erik nickte und stach mit der Gabel etwas vom Kuchen ab. Dann schwiegen sie eine Weile.
„Hat der Marktleiter vor seinem Dahinscheiden vielleicht doch noch irgendwas von sich gegeben, was für uns von Belang ist?“, nahm Neudeck das Gespräch wieder auf. „Du warst schließlich am Nachmittag vor seinem Tod bei ihm, hast vermutlich als einer der Letzten mit ihm gesprochen. Erinnere dich. Jede Kleinigkeit ist wichtig.“
Erik verdrehte die Augen. „Nein, verdammt. Sonst wüsstest du es längst. Gesetzt den Fall, er gehörte so einer Art Geheimarmee an, dann war er vermutlich nur ein kleiner Soldat. Einer, der nicht wirklich wusste, worum es geht. Nur bemüht, brav seine Befehle auszuführen und die Klappe zu halten.“
„Hm. Ja, kann sein. Aber auch kleine Soldaten wissen manchmal überraschend viele Dinge. Zu viele Dinge. Und dann müssen sie plötzlich sterben.“
„Nicht Dietmar. Sein Tod muss andere Gründe haben.“
„Wenn du das sagst ...“
Neudeck traute ihm nicht. Nach wie vor. Erik nahm es ihm nicht übel. Dieser Argwohn beruhte auf Gegenseitigkeit. Wahrscheinlich gab es in Verbindungen, wie sie beide sie pflegten, so etwas nicht – Vertrauen. Man war aufeinander angewiesen, ja. Vielleicht sogar voneinander abhängig. Aber Vertrauen? Besser nicht.
„Na schön“, fuhr Neudeck nach kurzem Zögern fort, „dann sieh zu, dass du über die anderen zwei endlich an brauchbares Material gelangst. Und das möglichst schnell.“
„Mann, ich muss vorsichtig sein, das weißt du. Es ist kompliziert. Ich brauche Zeit.“
„Zeit, die wir nicht haben“, entgegnete Neudeck fordernd. „Wir müssen herauskriegen, wer noch zu der Truppe gehört und was sie planen. Also, riskier was. Mach dich interessant für den Verein. Vielleicht nehmen sie noch Leute bei sich auf.“
„Ausgerechnet du sagst mir, ich soll auf Risiko gehen? War nicht genau das Gegenteil bisher deine Maxime?“
„Ist es immer noch. Aber die Informationen unserer anderen Quellen deuten darauf hin, dass irgendwas im Busch ist. Wir wissen aber weder was, noch wo und wann. Dazu möchte ich von dir etwas hören.“
Erik stöhnte auf. „Verdammt, Frank, das geht nicht so hopp-hopp! Ich muss mich bedeckt halten, wenn ich nicht auffliegen will.“
„So, wie in diesem Edeka-Markt?“, ätzte Neudeck. „Was ist dir eigentlich in den Kopf gekommen, ausgerechnet da durch Knoches Laden zu latschen und einzukaufen? Hättest du nicht woanders hingehen können?“
Erik zuckte zusammen. „Du lässt mich überwachen?“, fauchte er. „Was soll das?“
Neudeck antwortete nicht auf die Frage. Stattdessen sagte er: „Wenn wir schon von Risikominimierung sprechen, dann sieh du erst einmal zu, dass du dich nicht selber unnötig in die Schusslinie bringst. Was glaubst du eigentlich, was die Damen und Herren von der Kripo nach dem Mord an Knoche als Erstes gemacht haben? Schon mal was von den Überwachungskameras gehört, die überall in dem Laden herumhängen und die garantiert auch jeden deiner Schritte verfolgt haben? Dazu deine Kurierdienstmontur. Das Firmenlogo ist bestimmt auf irgendeinem der Bilder zu sehen gewesen.“
„Ja und?“ Erik konnte kein Problem erkennen. „Ich war nur einer von vielen Kunden. Knoche wurde erst später ermordet. Nach Ladenschluss, soweit ich weiß.“
„Genau. Nach Ladenschluss. In seinem Büro. Was hätte also eine wichtigere Rolle bei der Recherche gespielt als die Videos? Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass sowohl Knoche als auch du als Aktivisten der rechten Szene vermutlich registriert seid? Ihr seid alle keine unbeschriebenen Blätter. Hätte man dich erkannt, wäre eine Verbindung schneller hergestellt worden, als du denkst. Du kannst dich freuen, dass die von der Kriminaltechnik keine verräterischen Spuren von dir in der ganzen Sauerei gefunden haben. Wäre ja durchaus möglich gewesen, so oft, wie du bei ihm ein und aus gegangen bist.“
„Ich hatte geschäftlich mit ihm zu tun. Als Kurierfahrer. Was heißt überhaupt Sauerei?“
Neudeck winkte ab. „Nicht so wichtig. Mein Kontakt bei der Kripo hat mir nur was von Folter gesagt. Mit viel mehr wollte er nicht rausrücken. Jetzt fragen die sich natürlich, wer ihn so zugerichtet hat. Und warum. Es muss jemand sein, der wusste, an welchem Tag im Monat Knoche nach Ladenschluss immer in seinem Büro bleibt und die Buchführung erledigt.“
„Da kommen einige zusammen. Seine Angestellten zum Beispiel. Du übrigens auch.“





