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„Elmar versucht sein Leben ganz konsequent an Jesus auszurichten“, fiel unvermittelt seine Kollegin ein. „Aber das ist gar nicht so leicht. Wie lebt man das heute in unserer Gesellschaft, eine Nachfolge Jesu? Jedenfalls habe ich davor großen Respekt. Ich selbst könnte das so nie.“
„Ja und Sie, was machen Sie denn als Frau in der Theologie?“, fragte Beate Kellert nach, bevor Elmar Maria Brandtstätter zu einer weiteren Rede anheben konnte, was er offenbar sehr gern zu tun pflegte. Klara Mechtersheim überlegte, was sie antworten sollte. Bernd Kellert, nun doch interessiert an dem von seiner Frau eingeschlagenen Gesprächspfad, setzte nach: „Ja, und dann noch als einzige Frau im Kollegium. Das ist doch bestimmt nicht einfach, oder?“
„Nun zunächst mal gibt es ja bei uns im Mittelbau durchaus noch einige weitere Frauen“, begann die Religionspädagogin, „aber im Professorium bin ich die einzige, das stimmt. Deswegen bin ich ja auch so froh, dass Elmar, also Professor Brandtstätter, mich immer wieder unterstützt. Aber Sie haben schon ganz Recht“, hier wandte sie sich an Beate Kellert. „Bei uns in der Katholischen Theologie gibt es noch nicht lange Professorinnen. Qualifizierte Bewerberinnen gibt es natürlich genug, aber …“
„Aber was?“, fragte ihre Gesprächspartnerin nach. „Nun“, mischte sich Brandtstätter ein: „Das ist so: Manche Bischöfe wollen nicht, dass ihre zukünftigen Priester von Frauen ausgebildet werden. Deren Theologie passt ihnen nicht und überhaupt: Dass man sich von Frauen etwas sagen lassen soll, dass Frauen diese Kompetenzen mitbringen, das passt bei manchen einfach nicht in das Weltbild. Und diese Auffassung teilen leider auch einige meiner Herren Kollegen. Die wollen auch lieber unter sich bleiben. Da haben Frauen in Berufungsausschüssen von vornherein keine Chance.“ „Hatte auch Dekan Gerstmaier diese Einstellung?“, wollte Kommissar Kellert wissen. „Na, der an erster Stelle“, knurrte Professor Brandtstätter zurück.
„Aber Sie sind ja doch Professorin geworden. Wie kam denn das?“, fragte Beate Kellert verwundert nach.
„Ach, der Elmar malt das ein bisschen zu schwarz-weiß. Es gibt durchaus Bischöfe, die uns Frauen in der Theologie fördern. Und das gilt auch für die meisten meiner Kollegen. Doch, Elmar!“, beharrte sie, als sie sah, dass ihr Gegenüber protestieren wollte. „Inzwischen gibt es in Deutschland schon einige Theologieprofessorinnen. Klar, es könnten mehr sein, aber lass uns mal ein paar Jahre abwarten. Das wird schon noch ganz normal werden. Also es ist so. Sie wandte sich wieder an die Kellerts. „Die weit überwiegende Mehrheit der Theologiestudenten will gar nicht Priester werden. Nein, fast alle studieren Theologie, weil sie Religionslehrerin oder Religionslehrer werden wollen, wenige andere Journalisten, Pastoralreferenten oder was weiß ich. Und von denen sind drei Viertel weiblich. Mindestens! Und es wäre doch absurd, wenn eine überwiegend weibliche Studierendenschaft von ausschließlich männlichen Lehrenden ausgebildet wird, oder?“
„Na ja“, fuhr sie fort, nachdem sie einen Schluck Mineralwasser getrunken hatte, „und deshalb gibt es inzwischen fast überall mindestens eine Professorin.“ – „Alibiprofessorin“, rief Brandtstätter dazwischen – „Das muss man nicht so sehen, Elmar! Gut, ich bin jedenfalls Religionspädagogin, das ist ein Fach, das die ‚hohen Herren‘ eh nicht so ernst nehmen. In den theologischen Kernwissenschaften, also Dogmatik und Moraltheologie, da ist es für uns Frauen noch viel schwerer. Aber mir gefällt dieser Freiraum. Ich kann forschen und sagen, was ich will, das ist ein echter Vorteil. Außerdem habe ich die bei weitem größten Studierendenzahlen in meinen Veranstaltungen. An mir kommt keiner vorbei, der irgendetwas mit Theologie zu tun hat. Das sehe ich als große Chance.“
„Und wie wird man Professorin?“, hakte Beate Kellert nach, die nun wirklich neugierig geworden war. „Ach so, ja! Bei mir war das so: Ich habe Theologie und Mathematik studiert.“ „Tatsächlich?!“, entfuhr es dem Kommissar, bei dem das Wort Mathematik wohl unangenehme Erinnerungen an quälende Schulstunden hervorrief. „Ja, das hört sich zunächst komisch an, nicht wahr?“, gestand die Professorin, um dann jedoch unbeirrt weiterzusprechen. „Aber Sie glauben gar nicht, was die beiden Fächer alles gemeinsam haben.
Die innere Logik, die klare Struktur, die … oh“ – sie sah, dass ihre Gesprächspartner ihre spontane Begeisterung nicht teilten – „Entschuldigung, ich schweife ab. Nun, dann habe ich mein Referendariat gemacht und drei Jahre an einem Gymnasium gearbeitet, das hat mir auch richtig Freude bereitet, meistens zumindest.
Und dann kam die Anfrage von meinem Professor aus Freiburg, wo ich ja studiert hatte, ob ich nicht bei ihm eine wissenschaftliche Assistentinnen-Stelle annehmen wollte, verbunden mit einer Promotion. Nach kurzem Überlegen habe ich zugestimmt. Ja, und dann ging alles seinen Gang. Erst die Doktorarbeit, dann die Habilitation, dann der Ruf hierher nach Friedensberg. Das war vor sechs Jahren und seitdem bin ich hier. So war das“, schloss sie ihre Ausführungen ab.
Inzwischen hatte der Kellner das Essen gebracht und die beiden später Hinzugekommenen ließen es sich schmecken, während die beiden anderen in Ruhe ihren Rotwein genossen. „Und Gerstmaier?“, fragte Kommissar Kellert nach einigem Nachdenken. „Hat der nicht etwas gegen Ihre Berufung unternommen, wenn er doch so ein Frauenhasser war, wie Sie gesagt haben“, hiermit wandte er sich an Brandtstätter.
„Moment“, murmelte dieser zwischen zwei großen Pizzabrocken, trank einen großen Schluck Bier und ergänzte dann: „Frauenhasser, das habe ich nicht gesagt. Er wollte bloß keine Frau als Kollegin in der Theologie. Das ist etwas anderes. Aber ja doch, klar, er hat einiges auf die Beine gestellt damals, um die Berufung von Kollegin Mechtersheim zu verhindern!“ „Elmar“, warnte ihn seine Kollegin und legte ihm die Hand auf den Arm, „das gehört jetzt aber nicht hierher!“
„Doch, doch, lass mich nur, was wahr ist, ist wahr“, meinte dieser nur, schüttelte ihre Hand ab und schnitt sich den Pizzarest in mundgerechte Happen. „Also, ich dürfte Ihnen das jetzt offiziell nicht erzählen, weil es unter das Dienstgeheimnis fällt, aber erstens soll man Jesus zufolge sowieso eigentlich niemals irgendwelche Eide schwören, also auch keinen Diensteid, zweitens ist das ja schon lange vorbei und drittens ist Gerstmaier ja nun tot. Er hat ein Sondergutachten geschrieben, in dem er die Qualifikation von Klara anzweifelte. Und der Bischof wollte dem auch schon nachgeben.“
Er überlegte kurz, redete dann aber weiter: „Da hat die Frauenbeauftragte der Gesamtuni, Kollegin Bartels-Fritsche von der Germanistik, sich eingeklinkt und mächtig Druck gemacht. Wir haben zwei Zusatzgutachten von auswärtigen Fachkollegen eingeholt, die die Qualifikation eindeutig bestätigt haben, und Frau Bartels-Fritsche hat angedroht, im Falle einer Änderung der Berufungsliste zuungunsten von Kollegin Mechtersheim nicht nur im Ministerium zu protestieren, sondern sich auch an die Presse zu wenden. Ob eine solche Fakultät überhaupt noch staatlich tragbar sei und so. Da haben die Herren schnell den Schwanz eingezogen!“ – „Elmar!“ – „Ist doch wahr! Und es übrigens auch nicht bereut. Klara Mechtersheim macht hervorragende Arbeit!“
Sichtlich geschmeichelt trank die so Gelobte einen weiteren Schluck, während ihr Kollege sich über die restlichen Pizzastücke hermachte. Kommissar Kellerts Neugier war aber noch nicht befriedigt: „Und Ihr Verhältnis zu Dekan Gerstmaier, hat das nicht unter dieser Vorgeschichte gelitten?“, wandte er sich an die Professorin.
„Das war kein Verhältnis, Herr Kommissar“, gab diese ruhig, aber bestimmt zurück. „Wir haben in den sechs Jahren, seitdem ich hier bin, keine zehn vernünftigen Sätze miteinander gesprochen. Der hat mich einfach ignoriert. Das war mir aber irgendwie auch am liebsten so.“ „Ja, aber dass er dir die Böhm nehmen wollte, das war schon eine Frechheit!“, polterte Brandtstätter dazwischen.
„Wie, was?“, wollte Kellert wissen. „Ach, das war so“, erklärte die Professorin, der das Thema sichtlich unangenehm war. „Seit drei Jahren habe ich eine wissenschaftliche Mitarbeiterin, Caroline Böhm. Deren Promotion ist fast fertig und ich möchte sie gern weiter an meinem Lehrstuhl beschäftigen. Vor ein paar Monaten schickte mir Gerstmaier dann aber ein Schreiben mit der Mitteilung, dass meine Assistentinnen-Stelle gestrichen werden sollte. Einfach so. Ohne Erklärung. Ohne Abstimmung im Fakultätsrat. Das habe ich mir natürlich nicht gefallen lassen und protestiert.“
„Ja, darf der das denn einfach so?“, schaltete sich Beate Kellert mit ehrlicher Empörung ein. „Eigentlich nicht“, übernahm wieder Brandtstätter das Wort. „Aber er hat mit notwendigen Sparmaßnahmen argumentiert und sich auf einen Eilbescheid berufen. Das stünde ihm als Dekan zu, meinte er. Na, da hätten wir ihm jedenfalls im Fakultätsrat schon noch einen Strich durch die Rechnung gemacht, das können Sie mir aber glauben! Soll er doch auf seinen eigenen Assistenten verzichten! Das war jedenfalls klasse, dass du dem mal so richtig die Meinung gesagt hast.“
„Wieso?“, fragte Kellert dazwischen. Klara Mechtersheim wand sich auf ihrem Stuhl, es war ihr offensichtlich nicht wohl bei diesem Gesprächsthema. „Nun, ich bin ins Dekanat gegangen und habe ihm sehr deutlich gesagt, dass ich sein Vorgehen nicht akzeptiere!“, antwortete sie.
„Gesagt? Komm, Klara, das war schon mehr! Richtig gebrüllt hat sie, das habe ich noch nie von ihr gehört“, – wandte sich Brandtstätter an seinen Sitznachbarn. „Traut man ihr gar nicht zu, oder? Unterschätzen Sie die Klara mal nicht, Herr Kommissar! Die lässt sich ja nicht leicht aus der Ruhe bringen, aber wenn, dann Vorsicht, die Herren vom Gesangsverein! Haha! Na ja, und der Gerstmaier! Klein wie ein Zwerg, stumm wie ein Fisch, eisig wie ein Cornetto Nuss – haha! Dass die Studenten dann auch noch Beifall geklatscht und gejohlt haben, als du die Dekanatstür ins Schloss geworfen hast, das hat ihm dann den Rest gegeben, glaube ich.“
„Jaja, ist ja schon gut“, versuchte ihn die Kollegin zu bremsen, der der Gesprächsverlauf sichtlich unangenehm war. „Wie, die Studierenden haben das mitgekriegt und geklatscht?“, fragte Kellert nach, den diese Geschichte natürlich gewaltig interessierte.
„Ja“, gestand Klara Mechtersheim, „ein paar von der Fachschaft. Die mögen, äh, mochten den Dekan ja auch nicht, weil der sie reihenweise durch die Prüfungen rasseln ließ und überhaupt. Der hatte es nicht so mit den Studierenden. Ich glaube, die waren ihm eher lästig. Das Ganze war trotzdem sehr unangenehm und mir überhaupt nicht recht. Und hat ja Folgen gehabt …“
„Nämlich?“ „Nun, zwei der Studierenden waren auch als Hiwis im Dekanat beschäftigt. Deren Verträge wurden natürlich nicht verlängert. Und zwei anderen hat er angedroht, sie durchs Examen fliegen zu lassen.“ „Kann er das denn?“, wunderte sich Beate Kellert. „Offiziell natürlich nicht“, erwiderte der Österreicher, „aber wenn Sie einen Studenten unbedingt durchfallen lassen wollen, können Sie die mündliche Prüfung schon so gestalten, dass der kaum eine Chance hat.“
„Hmm.“ Kellert schwieg, trank wieder einen Schluck und dachte über das Gehörte nach. „Ach, Herr Kommissar“, unterbrach Professor Brandtstätter seine Gedanken. „Ich muss Ihnen jetzt einfach einmal ein kleines Geständnis machen. Früher, als Bub, da wollte ich auch immer Polizist werden. So wie die Kommissare im Fernsehen. Ihnen kann ich es ja anvertrauen: Der ‚Tatort‘, das war meine Lieblingssendung, nein: ehrlich gesagt ist er das heute noch.“
„Sie wissen aber schon, dass die Wirklichkeit unseres Polizistenlebens ganz anders aussieht, oder?“, fiel ihm Kellert ins Wort. „Aber sicher. Das ist genauso wie bei der Darstellung von Pfarrern im Fernsehen. Weit weg vom wahren Leben. Aber gut, darauf kommt es ja auch nicht an, oder? Ein Film soll unterhalten, aber nicht die Wirklichkeit abbilden, finde ich jedenfalls. Äh, wo war ich gerade?“ Klara Mechtersheim blickte ihren Kollegen mahnend an. Sie mochte alles an ihm, nur nicht seinen Hang zur Geschwätzigkeit. Er ignorierte ihren Blick jedoch, oder hatte er ihn gar nicht bemerkt?
„Richtig, Polizist wollte ich werden. Und nun bin ich Priester, haha. Aber das Erstaunliche ist, dass beide Berufe erstaunlich eng miteinander verwandt sind.“ „So“, knurrte Kellert, „also den Zölibat muss ich nicht leben. Gott sei Dank, hm, Beate?“ Seine Frau lächelte müde. Doch die polternd-bärbeißige Art des Professors, dem sie sich nun wieder zuwandte, gefiel ihr offensichtlich.
„Nein, das nicht“, fuhr der fort. „Aber schauen Sie: Sie und ich haben zu tun mit Schuld. Sie und ich kümmern uns um Opfer und Täter. Sie und ich versuchen mit der Aufklärung und Überwindung von Schuld umzugehen. Sie und ich wollen ein gelingendes Leben für alle sicherstellen.“ Beate Kellert warf ein: „Ach wie interessant! So habe ich das noch nie betrachtet. Bernd, da bist du also fast so etwas wie einPriester!“ Sie grinste ihren Mann an. „Fast, fast!“, fiel der ein. „Vergessen wir bitte die Unterschiede nicht. Die sind letztlich doch weitaus größer! Sie“ – hier wandte er sich an die beiden Theologen – „sprechen doch vor allem von Sünde, oder? Das Wort gibt es bei uns gar nicht.“
„Mag sein, aber sie gehören doch zusammen, Sünde und Schuld!“, warf Frau Mechtersheim vorsichtig ein.
„Wie denn? Sünde – ich weiß wirklich nicht, was das sein soll!“, gab Kellert zurück, während er sich ein wenig wunderte, was für ein Gespräch er hier gerade führte.
„Schauen Sie, das ist einfach!“, dozierte Brandtstätter, sichtlich in seinem Element. „Schuld entsteht dann, wenn man als Mensch absichtlich und selbst verantwortet unter seinen eigenen Möglichkeiten bleibt!“
„So definierst du das, Elmar!“, warf seine Kollegin ein, „das kann man auch ganz anders bestimmen.“ „Ja geh, das interessiert mich nicht!“, erwiderte der Professor.
„Ich meine, wann immer Sie etwas tun oder unterlassen, was Sie eigentlich könnten und sollten, dann werden Sie schuldig. Egal, ob in den kleinen Dingen des Alltags oder in der Tötung eines anderen Menschen. Das gilt übrigens für Einzelne genauso wie für Gesellschaften, also für Staaten – oder auch Kirchen.“
„Und Sünde?“, fragte Beate Kellert nach. Brandtstätters Antwort ließ nicht lange auf sich warten. In solchen Gesprächen, war er offensichtlich ganz in seinem Element. „Sünde, das ist das Bleiben unter den Möglichkeiten, die Gott einem gegeben hat. Also eigentlich dasselbe, nur denkt man dann von Gott aus. Dass Sie und ich, dass jede und jeder von Gott bestimmte Fähigkeiten und Stärken geschenkt bekommen hat. Und wenn man die nicht nutzt oder schlecht nutzt, verstößt man nicht nur gegen sich selbst, gegen die Mitmenschen, sondern eben auch gegen den, der sie uns gegeben hat – Gott.“
‚Jetzt hat er endgültig angefangen zu predigen‘, dachte Kellert. ‚Holen wir ihn mal ein bisschen zurück auf den Boden der Realität.‘ „Das macht aber natürlich nur für solche Menschen Sinn, die an diesen Gott glauben, oder?“, gab er zu bedenken.
„Gewiss, gewiss, auf den ersten Blick schon“, pflichtete ihm Brandtstätter zunächst bei. „Da ich allerdings fest daran glaube, gehe ich davon aus, dass das grundsätzlich für alle Menschen gilt, egal, ob ihnen das bewusst ist oder nicht!“
Kellert strich sich nachdenklich über das Kinn. ‚Sünde, Schuld, Gerstmaiers Umgang mit den Kollegen …?‘ Auch die anderen hatten sich stumm geredet. „Wie wäre es mit einem Cappuccino oder Latte macchiato?“, fragte seine Frau in die plötzliche Stille hinein, was dazu führte, dass der Abend mal ein vergnügliches Ende fand.
Mittwoch, 12. Mai, morgens
Chaos, Struktur und ein Streit
Kommissar Bernd Kellert saß seit einer knappen Stunde an seinem Schreibtisch im Friedensberger Kriminalkommissariat. Er hatte die beiden Fenster seines Büros geöffnet, um die regenfeuchte Morgenluft hereinzulassen, von fern drang Straßenlärm herauf, irgendwo in der Nähe sang eine Amsel. In einem der vollgestopften Wandregale stand ein kleines schwarzes Taschenradio, von dem aus eine leise Tonwolke aktueller Popmusik in den Raum hineindampfte. Irgendeine aktuelle amerikanische Sängerin, austauschbar wie die Handtücher am Waschbecken hinten in der Ecke des Büros, sang zu einem gewöhnlichen Grundbeat.
Kellerts Mitarbeiter, Kriminalhauptmann Dominik Thiele, achtundzwanzig Jahre alt, zwei Fingerbreit größer, aber genauso durchtrainiert wie sein Chef, saß an der anderen Seite der gegeneinandergeschobenen Schreibtische und recherchierte etwas in seinem Computer. Ab und zu tippte er irgendwelche Informationen in sein Notebook. Hinter dem Flachbildschirm war sein flachsblonder mittellanger Haarschopf für Kellert kaum zu sehen. Der Kommissar brummte missmutig vor sich hin: „Wie soll man sich das alles bloß merken?“
„Was ist los, Chef?“, fragte Dominik Thiele und wendete sich seinem Vorgesetzten zu. Schlechte Laune kannte er bei ihm gar nicht. Kommissar Kellert galt bei seinen Kollegen als stets konzentrierter und trotzdem gut gelaunter Polizist. „Beim Kellert wirst du arbeiten?“, hatten einige ältere Kollegen den Kriminalhauptmann beglückwünscht, als vor etwas mehr als zwei Jahren feststand, wo er seine erste Stelle in Friedensberg antreten würde.
„Da wirst du was lernen. Und menschlich ist der auch okay. Der wird aber von dir vollen Einsatz verlangen, darauf kannst du dich gleich einstellen.“ ‚Voller Einsatz? Den kann er haben‘, hatte er sich damals gedacht. Und so war es keine große Überraschung, dass Chef und Mitarbeiter sehr gut miteinander auskamen, obwohl oder vielleicht weil sie Beruf und Privatleben strikt voneinander trennten.
Nun schaute Kellert von den vielen Blättern auf, die vor ihm auf seinem Schreibtisch lagen, scheinbar ungeordnet. Dass es eine ganz persönliche Ordnung im Chaos gab, wusste Thiele inzwischen. „Also so eine Fakultät an der Uni ist unglaublich kompliziert. Bis man da mal klarkriegt, wer welche Aufgabe hat, wer wofür zuständig ist, wie sich die Kompetenzen verteilen: furchtbar. Und dann noch Theologie! Damit habe ich nun wirklich nichts zu tun. Klar, unsere Kinder sind getauft und zur Erstkommunion und Firmung gegangen und so, weißt du ja!“
‚Nö, wusste ich nicht‘, dachte Thiele, ‚ich wusste ja nicht mal, dass du katholisch bist.‘ Kellert fuhr fort: „Als Kind war ich sogar einige Zeit Messdiener, kannst du dir das vorstellen? Meine Güte, das ist lange her, weit weg! Heute habe ich mit dem Laden kaum noch etwas am Hut. Die leben doch irgendwie in einer anderen Welt, oder?“
Dominik Thiele zuckte nur mit den Schultern. Er war ein Kind der Großstadt, aufgewachsen in einer Frankfurter Vorstadt. Religion hatte weder in seiner Familie noch in seinen sonstigen Lebenskreisen eine Rolle gespielt. Seine ihn allein erziehende Mutter hielt nichts davon und so hatte er eine religionslose Kindheit verbracht. Und die hatte sich entsprechend in die Jugendzeit und in sein Erwachsenenalter hinein verlängert.
„Weißt du zum Beispiel, was ein Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft ist oder was man an einem Lehrstuhl für Fundamentaltheologie macht? Hat das was mit Fundamentalismus zu tun? Aber wieso dazu ein Lehrstuhl?“, fragte Kellert seinen Mitarbeiter, der aber nach wie vor völlig verständnislos dreinblickte und nichts dazu zu sagten wusste. „Okay, Moraltheologie, da kann ich mir ja etwas drunter vorstellen, Philosophie auch, aber hier: Alte Kirchengeschichte! Komisch, ist die nicht grundsätzlich alt?“
In diesem Moment klopfte es an der Bürotür. Automatisch unterbrach Kellert seinen Redefluss und sagte mit ganz anderer, offizieller Stimme: „Herein!“ „Ich möchte eine Aussage machen“, sagte ein schmächtiger, eher kleinwüchsiger jüngerer Mann in schwarzem Anzug und mit weißem Priesterkragen, während er sich unsicher und an seiner silbern eingefassten Brille nestelnd in das Zimmer vortastete.
„Ach ja, kommen Sie doch.“ Kellert war aufgestanden, hatte den Besucherstuhl herangeschoben und wies nun mit einladender Geste darauf. „Herr, ääh“ – er starrte auf eine Aufstellung, die er sich gemacht hatte – „Herr Dr. Schachner.“ „Richtig“, antwortete dieser beflissen und geschmeichelt darüber, dass man sich nach der gestrigen Befragung an ihn erinnerte. „Dr. Winfried Schachner mein Name. Ich bin Assistent am Lehrstuhl für Dogmatik an der hiesigen Universität.“
„Ich weiß, ich weiß“, kommentierte Kellert und dachte bei sich: ‚Der sieht nun wirklich genau so aus, wie Beate sich einen Theologieprofessor vorgestellt hat‘, sagte aber: „Was haben Sie denn auf dem Herzen? – Einen Kaffee oder ein Mineralwasser?“ „Nein, nein, danke“, druckste Schachner herum. „Mach mal aus“, brummte Kellert zu seinem Mitarbeiter und deutete dabei auf das Radio. Der erhob sich, schaltete das Gerät aus und setzte sich dann wieder an seinen Platz.
„Nun ich … ich weiß gar nicht, ob ich Ihnen das überhaupt sagen soll“, begann Dr. Schachner, „aber nach unserem Gespräch gestern hatte ich das Gefühl, als hätte ich Ihnen etwas verschwiegen. Und das nützt ja niemandem, oder?“ „Gut, dass Sie gekommen sind“, ermunterte ihn der Kommissar und blinzelte seinem Mitarbeiter zu. Solche Einleitungen kannten sie schon, und oft genug wurde dann etwas wirklich Wichtiges gesagt. Manchmal freilich auch nur Belangloses. Thiele duckte sich zwar hinter seinen Bildschirm, hörte aber genau zu.
„Ja, also das war so. Mein Chef, Professor Mühlsiepe, ist ja Ordinarius für Dogmatik.“ – ‚Schönes altes Wort, Ordinarius‘, dachte Kellert, ‚das werde ich in meinen aktiven Sprachschatz aufnehmen.‘ – „Und er hat seit einigen Monaten einen harten Konflikt mit dem Dekan gehabt. Ich weiß nicht genau, worum es dabei ging, mein Chef hat das nie klar angesprochen, aber …“ Er suchte nach Worten.
„Aber?“, wiederholte Kellert ermunternd.
„Es gab da einen besonders heftigen Streit. Das muss so vor zwei Wochen gewesen sein. Der Dekan war bei meinem Chef im Dienstzimmer. Ich habe ja das Assistentenzimmer direkt daneben und die Wände sind nicht gerade massiv. Außerdem lasse ich immer meine Zimmertür auf, damit die Studierenden sehen, wann ich da bin. Nun, so kann man zwar normalerweise nicht verstehen, was nebenan gesprochen wird, aber wenn es lauter wird, hört man es schon, ob man will oder nicht.“ Unsicher blickte er zum Kommissar hinüber. Kellert verstand sofort, dass sein Gegenüber unbedingt den Eindruck vermeiden wollte, als heimlicher Lauscher zu gelten, und nickte ihm deshalb aufmunternd zu.
„Also sie hatten sich eine Zeit lang angebrüllt, dann ging die Tür auf und der Dekan stürmte aufgebracht hinaus. ‚Ich habe lange genug geschwiegen!‘, brüllte er, ‚und ich hatte Sie gewarnt!‘ ‚Gehen Sie nicht zu weit!‘, rief mein Chef, nicht weniger aufgeregt, ‚ich warne Sie!‘ Inzwischen war der Dekan schon einige Schritte entfernt, nun hörte ich, wie er wieder zurückkam. ‚Sie wollen mir drohen?‘, fragte er, nun plötzlich viel gefasster und leise: ‚Sie wollen mir drohen! Machen Sie sich doch nicht lächerlich!‘ Dann ist er leise vor sich hin lachend davongegangen. So ungefähr war das.“
„Und das war, sagen Sie, vor zwei Wochen?“, fragte Kellert nach. „Ja, ungefähr, warten Sie mal: ja, Montag vor zwei Wochen. Genau, da musste ich mein Seminar etwas eher beenden, weil ich in meiner Gemeinde einen Info-Abend zur diesjährigen Firmvorbereitung halten musste.“
Der Kommissar überlegte: „Hat noch jemand diesen Streit mit angehört?“ Dr. Schachner zuckte mit den Schultern: „Weiß ich nicht, kann sein. Unsere Sekretärin nicht, die hatte da ihren freien Tag, und von den Hiwis … nein! Da war, glaube ich, auch keiner da. Aber es kann natürlich jemand von den anderen Lehrstühlen etwas mitbekommen haben.“
„Und worum es bei dem Streit ging, das wissen Sie nicht?“, bohrte der Kommissar nach. „Nein, wirklich nicht. Wissen Sie: Wir sind uns menschlich nicht so nahe, mein Chef und ich. Er ist ein guter Dogmatiker, auch beliebt bei den Studenten, aber als Mensch kommt niemand so richtig an ihn heran. Na ja, so ein typischer Norddeutscher eben.“
‚Du scheinst ja sehr klare Kategorien zu haben, Bürschchen‘, dachte Kellert, sagte aber stattdessen neutral: „Soso! Nun, vielen Dank jedenfalls, dass Sie gekommen sind. Ihre Beobachtung muss ja gar nichts bedeuten, aber wir sollten alle Möglichkeiten bedenken.“ Er erhob sich und geleitete Schachner zur Tür. Dort drehte sich dieser noch einmal um und sagte: „Ich kann mich doch darauf verlassen, dass niemand von dieser Aussage erfährt, vor allem mein Chef nicht?!“ „Klare Sache“, nickte Kellert ihm zu, „ist doch selbstverständlich. Auf Wiedersehen!“




