Herzensöffnung (2): Versöhnung

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„Sie helfen uns schon so sehr“, sagte Ivonne unterwürfig.
„Bitte, Ivonne, ich bin nichts Besonderes. Betrachten Sie mich als einen guten Freund. Ich würde das für jeden meiner Freunde tun. Das ist doch selbstverständlich“, wehrte Wolfram ab.
„Hier gibt es einige Familien, die Hilfe sehr dringend brauchen. Sie alle vertrauen Ihnen und Maria. Es wäre für sie furchtbar, wenn die Sache nicht ehrlich wäre“, sagte Olaf sorgenvoll.
„Olaf, sollte irgendjemand finanziell benachteiligt werden, dann hafte ich mit meinem Privatvermögen. Das sage ich nur Ihnen. Aber ich werde es tun! Wissen Sie, ich empfinde Betrug als etwas Abscheuliches. Fragen Sie Maria. Sie kennt mich am besten.“
Da griff Maria in das Gespräch ein: „Wolfram ist genauso ehrlich wie ich! Im Scherz flunkert er auch mal, aber nie, wenn es ernst ist. Er hasst Lügen! Und wenn er sagt, er haftet im Notfall mit seinem Privatvermögen, dann ist das ernst gemeint.“
„Aber das können wir doch von euch nicht verlangen“, meinte nun Ivonne.
Da sagte Wolfram: „Darum geht es nicht. Ich trage hier eine Verantwortung. Deshalb muss ich auch dafür sorgen, dass alles so sein wird, wie ich es versprochen habe. Und ich werde dafür sorgen! Darauf können Sie sich verlassen!“
Olaf und vor allem Ivonne waren verwundert über diese Reaktion. Das passte so gar nicht zu dem, was sie über die Deutschen wussten. Und so sagte Ivonne zu Maria: „Ich verstehe dich immer mehr, weshalb du Wolfram liebst. Im Februar habe ich dich nicht verstanden. Ich glaubte, dass es wieder …“ Erschrocken hielt sie inne und blickte ängstlich zu Wolfram. Plötzlich war ihr bewusst geworden, dass er sie ja verstehen konnte.
Ihm war das nicht entgangen. Er sah Ivonne an und sagte dann: „Ich verstehe Sie sehr gut. Niemand konnte wissen, ob ich ehrlich bin oder nicht. Außer Maria und Andrea hat mir hier wohl niemand vertraut. Ich habe das vor einem Jahr sehr deutlich gefühlt. Besonders Marias Vater war sehr gegen die Verbindung zwischen Maria und mir. Heute ist er froh, dass er sich geirrt hat. Ich verstehe die Menschen hier sehr gut, die mit ansehen mussten, wie Maria immer wieder betrogen wurde. Wir haben uns ausführlich darüber unterhalten. Es ist einfach schlimm, dass es immer wieder Menschen gibt, die andere nur zu ihrem eigenen Vorteil ausnutzen. Besonders schlimm ist es, wenn das Frauen trifft, weil sie es ungleich schwerer haben. Das kann ihr ganzes Leben zerstören. Ich verstehe nicht, warum Männer so sein können.“
„Dann haben Sie Maria aus Mitleid geheiratet?“, fragte Ivonne.
Olaf wies sie sofort zurecht: „Ivonne!“
„Olaf, lassen Sie Ihre Frau. Die Frage ist doch berechtigt. Ivonne, ich hätte Maria auf jeden Fall geholfen, so gut es mir möglich gewesen wäre. Aber geheiratet hätte ich sie deshalb nicht. Man kann keine Beziehung auf Mitleid aufbauen. Eine solche Beziehung hält nicht ewig. Sie wird früher oder später zerbrechen. Damit wäre Maria ganz sicher nicht geholfen gewesen.“
„Sie sind anders als die Männer hier“, stellte Ivonne fest. Sie wollte noch mehr sagen, aber als sie dem Blick ihres Mannes begegnete, schwieg sie lieber.
„Olaf. Ich möchte nicht, dass durch dieses Gespräch Probleme zwischen Ihnen entstanden sind. Bitte glauben Sie mir. Es ist besser, seine Frau nicht von oben herab zu betrachten. Ich habe hier im Dorf gesehen, dass sich fast alle Männer über ihre Frauen stellen. Von Maria weiß ich, dass das hier normal ist. Versuchen Sie mal, Ihre Frau gleichwertig zu sehen. Sie würden sich wundern, wie das eine Beziehung festigt. Vielleicht unterhalten wir uns ein andermal ausführlicher darüber. Wir werden drüben bei Marias Eltern erwartet.“
„Ja, natürlich“, sagte Olaf versonnen. Irgendwie gaben ihm Wolframs Worte zu denken.
Da klopfte es an die Haustür. Es war Julia. Sie hatte ausgeschlafen und wollte jetzt mit den anderen spielen.
Wolfram klopfte Olaf auf die Schulter. „Sie haben eine wundervolle Frau. Seien Sie stolz auf sie und verwöhnen Sie sie ruhig ein wenig. Ich glaube, sie wird es Ihnen tausendfach danken. Bei uns sind die Frauen anders. Sie sind sehr selbstbewusst. Manchmal stört mich das auch, aber sie haben das gleiche Recht wie wir Männer. Keiner ist besser als der andere. Das bedeutet natürlich nicht, dass sie gleich sind. Frauen und Männer sind sehr unterschiedlich. Die einen können dieses besser, die anderen jenes. Nur wenn beide Hand in Hand arbeiten und sich gegenseitig respektieren, wird ihre Beziehung zu ungeahnter Größe wachsen.“
„Jetzt hast du Olaf genug Tipps gegeben“, sagte Maria lachend. „Am besten wäre es, wenn ihr euch das selbst mal anschaut. So, wie Wolfram gestern gesagt hat, ist es sowieso notwendig, dass du, Olaf, deinen neuen Arbeitgeber persönlich kennenlernen musst. Sicher wird man dich irgendwann einladen. Na ja, im Winter vermutlich nicht, aber vielleicht im Sommer. Dann könnt ihr alle zusammen kommen und bei uns wohnen. Und glaube mir, nicht nur unsere Kinder würden sich freuen. Dazu wäre es vielleicht nützlich, wenn ihr etwas Deutsch lernen würdet.“
„Wo sollen wir denn das lernen? Du weißt doch, was Unterricht kostet!“
„Ivonne, bei Andrea und meiner Mutter kostet das gar nichts. Und selbst Sven, Andreas Mann, würde euch sicher helfen. Es ist doch keine Bedingung, sondern nur ein Vorschlag.“
Ivonne war etwas verwirrt. Noch vor Tagen hatten sie Wolfram und Maria vorgerechnet, dass sie es sich nie leisten könnten, nach Deutschland zu fahren, und jetzt war es schon fast sicher, dass sie hinfahren würden. Vorsichtig fragte Ivonne Maria: „Glaubst du wirklich, dass sie Olaf einladen werden?“
Maria lächelte. „Ganz sicher. Und oft laden sie die ganze Familie ein. Damit musst du rechnen.“
„Die ganze Familie? Aber wieso?“
„Unsere Firma macht sehr viel für die Familien der Belegschaft. Vor Weihnachten zum Beispiel gab es eine Weihnachtsfeier, bei der jedes Kind, dessen Eltern in unserer Firma arbeiteten, ein Geschenk bekam.“
„Ja, Tante Ivonne“, bestätigte Eva. „Wir durften alle auf die Bühne und dort hat sich jeder ein Spielzeug heraussuchen dürfen. Ich habe mir eine Barbie genommen.“
„Und ich einen Ken“, sagte Laura.
„Ich eine Puppe“, meldete sich jetzt auch Julia.
„Siehst du, dass ich recht habe?“, fragte Maria. „Und was meinst du, weshalb sie diese Ferienhäuser hier bauen wollen? Sie werden alle mit Kinderzimmern ausgestattet sein, damit Familien hier Urlaub machen können. Im Hotel ist doch alles so unpersönlich.“
„Ich weiß nicht“, gab Ivonne zu. „Ich war noch nie in einem Hotel.“
„Apropos Hotel“, klinkte sich Wolfram in das Gespräch ein. „Wir müssen wieder rüber ins Hotel. Schließlich warten Manfred und Dagmar auf uns.“ Maria nickte und Wolfram erklärte: „Morgen hat Mamma Geburtstag. Könnte ich morgen Früh so gegen 10.00 Uhr mal kurz auf Sie zurückgreifen, Olaf? Es wäre nett, wenn das möglich wäre. Es ist nur für zehn Minuten. Und bitte vergessen Sie nicht das Treffen übermorgen um zehn in der Dorfschenke. Der Bürgermeister sollte auch anwesend sein.“
Sie verabschiedeten sich und gingen noch mal kurz zu Marias Eltern.
„Wann dürfen wir morgen kommen, Mamma?“, fragte Maria.
„Von mir aus könnt ihr gleich nach dem Aufstehen kommen. Dann frühstücken wir zusammen.“
„Gut, dann bis zum Frühstück“, sagte Wolfram.
Daraufhin verabschiedeten sie sich und gingen mit ihren Kindern zurück zum Hotel. Unterdessen unterhielten sich Olaf und Ivonne noch einige Zeit über Wolfram und Maria.
„Manchmal kommt es mir so vor, als ob dieser Wolfram bei Maria unterm Pantoffel steht. Hast du nicht gesehen, wie sie diskutiert, ohne ihn zu fragen?“, meinte Olaf.
„Das kann ich mir nicht vorstellen“, sagte sie. „Wolfram ist bestimmt nicht der Mensch, der sich unterdrücken lässt. Maria hat mir erzählt, wie er mit Kjeld umgegangen ist. Ich glaube eher, dass Wolfram ein Mensch ist, der genau weiß, was er will. Maria meinte mal zu mir, dass man bei ihm immer auf Überraschungen gefasst sein muss. Aber dass er unter ihrem Pantoffel steht, kann ich mir nicht vorstellen. Ich denke, dass es das ist, was er vorhin sagte, als er davon sprach, dass viele Deutsche ihre Frauen gleichberechtigt sehen.“ Dabei sah sie ihren Mann sehr vielsagend an.
„Bei ihnen mag das vielleicht gehen“, verteidigte sich Olaf. „Aber hier ist alles anders. Weißt du, was die Leute im Dorf sagen, wenn ich das so mache, wie Wolfram erzählt hat?“
„Glaubst du? Ihm nimmt man das nicht übel. Wenn du mal genau hinsiehst, dann kannst du erkennen, dass dieser Sven aus dem Hotel mit Andrea ähnlich umgeht wie Wolfram mit Maria. Ist dir das noch nicht aufgefallen?“
„Ja, schon, aber ich weiß ja nicht, wie er war, bevor er Andrea kennengelernt hat.“
„Maria hat mir erzählt, dass er durch den Urlaub in Deutschland so geworden ist. Ich bin schon richtig gespannt auf Deutschland. Wolfram hat doch gesagt, dass seine Firma uns einladen wird.“
„Vielleicht, hat er gesagt. Und wenn du dann auch so aufmüpfig wirst, dann überlege ich es mir noch, ob ich euch mitnehme“, sagte Olaf mit einem spitzbübischen Lächeln im Gesicht.
Ivonne übersah das einfach und meinte: „Ich denke nicht, dass sich Andrea verändert hat. Eher denke ich, dass Sven sich dort in Deutschland geändert hat. Vielleicht leben sie gar nicht so weltfremd, eben nur anders. Ich bin so froh, dass du jetzt auch im Winter Geld verdienen wirst und wenn das mit dem Ferienhaus irgendwann losgeht, werde ich für die Touristen so viel Essen machen, wie sie wollen. Stell dir mal vor, ich mache für sie täglich Frühstück und Abendbrot. Das sind am Tag 150,- Kronen. Das Ganze einen Monat lang, dann sind es 4.500,- Kronen. Und wenn sie Mittag essen, kommt noch etwas dazu. Olaf, stell dir das nur mal vor.“
Olaf nickte und meinte: „Meine 4.500,- Kronen kommen ja noch dazu. Ich glaube, ich werde Wolfram wohl mehr zuhören müssen. Ohne ihn hätten wir das alles nicht. Wer hätte das gedacht, dass gerade ein Deutscher uns und den anderen hier im Dorf so hilft.“
„Ja, Olaf. Vielleicht sind sie doch anders, als wir immer dachten.“
Am Freitag gingen Maria und Wolfram mit ihren Kindern nicht im Hotel frühstücken, sondern wie verabredet bei Mamma im Dorf. Sie hatte Geburtstag. Von Sven bekamen sie einen Beutel mit frischen Brötchen aus der Hotelküche und einen großen Strauß Blumen, den Sven aus Bergen mitgebracht hatte. Dann gingen sie in die Tiefgarage und fuhren mit ihrem Leihwagen rüber ins Dorf.
Am Haus von Marias Eltern stellten sie das Auto ab und gratulierten erst einmal der Mamma und Oma. Dann wurde sie von allen einzeln umarmt, bekam den Blumenstrauß und die frischen Brötchen fürs Frühstück.
„Die Brötchen hätten nicht sein müssen. Ich habe extra Brot aufgeschnitten.“
„Mamma“, sagte Maria, „wann habt ihr schon mal die Möglichkeit, frische Brötchen zu essen?“
Annefried lächelte glücklich. Ihre Tochter hatte ja so recht. Als die Brötchen auf den Tisch kamen, freute sich sogar Kjeld. Auch Andrea war begeistert. Und so aßen sie alle und hörten erst auf, als kein Brötchen mehr da war.
Wolfram entschuldigte sich mit den Worten: „Ich muss bloß mal kurz rüber zu Olaf. Das dauert höchstens zehn Minuten.“ Und schon hatte er das Haus verlassen.
„Schade, dass Wolfram auch heute arbeiten muss. Es ist doch mein erster Geburtstag, den ich mit ihm feiere“, sagte Annefried traurig. Maria lächelte, wusste sie doch, weshalb Wolfram gegangen war.
Kurz darauf klopfte es an die Tür. Annefried öffnete und herein kamen Wolfram und Olaf mit einer Waschmaschine in der Hand. Die Mamma machte große Augen und wusste nicht, was das bedeuten sollte.
„Das ist unser Geburtstagsgeschenk für dich“, sagte Maria von hinten.
„Für mich … eine neue Waschmaschine … ihr seid verrückt. Wie könnt ihr nur so viel Geld ausgeben?“
„Aber Mamma. Sie ist aus unserer Firma und im Werksverkauf ist sie wesentlich günstiger“, versicherte Maria.
„Ach so!“, entfuhr es ihrer Mutter.
Nun drängelte Wolfram: „Wo sollen wir die Waschmaschine hinstellen? Sie ist schwer.“
„In den Keller, wo unsere alte steht.“
Olaf und Wolfram trugen sie vorsichtig in den Keller und stellten sie ab. Dann rückten sie die alte zur Seite und schlossen die neue Waschmaschine an. Zum Schluss trugen sie die alte hoch und stellten sie vors Haus. Sven kannte eine Familie im Dorf, deren Waschmaschine schon seit Wochen kaputt war, und für eine neue war kein Geld da. Ihnen wollte er Bescheid sagen, dass sie diese Maschine bekommen konnten.
Wolfram ging wieder ins Wohnzimmer zurück und gab der Mamma die Bedienungsanleitung. Diese war zwar nicht auf Norwegisch, aber das Deutsch stellte in diesem Haus ja kein Problem dar. Marias Mutter saß im Sessel und musste sich erst an den Gedanken gewöhnen, dass sie jetzt eine neue Waschmaschine hatte. Sie blätterte in der Beschreibung und stutzte plötzlich. „Was bedeutet integrierter Trockner?“
Maria sprang ein. „Das heißt, dass diese Waschmaschine die Wäsche auch gleich trocknet. So musst du sie nur kurz aufhängen und dann ist sie bügelfertig. Das ist sicher auch für Andrea interessant.“
„Aber Andrea wohnt doch seit diesem Jahr bei Sven“, sagte ihre Mutter.
„Daran habe ich gar nicht gedacht. Du hast ja recht. Aber ihr Büro muss sie ab und zu besetzen.“
„Das habe ich schon mit Sven abgesprochen“, sagte Andrea. „Er bringt mich früh und nimmt mich abends wieder mit zurück. Sicher werde ich nicht jeden Tag hier sein können, aber öfter. Wenn ein Telefonanruf kommt und ich nicht da bin, gehen Mamma oder Pappa ran und sagen Sven im Hotel Bescheid. Dann komme ich am nächsten Tag. Reicht das so, Wolfram?“, fragte Andrea etwas bange.
Doch dieser nickte nur und lächelte. Natürlich wollten Andrea und Sven nach der Hochzeit zusammenwohnen. Das war doch verständlich.
Annefried blätterte immer noch in der Beschreibung. Vieles von dem, was diese neue Waschmaschine konnte, war neu für sie. Dass Maria und Wolfram ein Spitzenmodell aus ihrer Produktion ausgewählt hatten, wusste hier niemand. Wolfram hatte vor Tagen zu Maria gemeint, dass wäre besser so.
Maria ging mit ihrer Mutter und Andrea noch einmal in den Keller und erklärte anhand der Beschreibung, was die Waschmaschine alles konnte. Andrea war begeistert. Für ihre Mutter war das alles noch etwas befremdlich. Maria selbst hatte in ihrem Haus in Sonnenberg ein ähnliches Modell gehabt, deshalb war ihr vieles vertraut. Nur konnte ihre in Sonnenberg nicht so viel wie diese neue Maschine.
Wolfram fragte inzwischen Pappa, wie er mit dem Videorecorder zurechtkam. „Er macht nicht immer das, was ich will. Doch langsam begreife ich, welche Taste wofür ist“, sagte Kjeld stolz.
Als sich die drei Frauen von der neuen Waschmaschine losgerissen hatten und wieder nach oben kamen, gingen sie gleich in die Küche. Es war inzwischen Mittag und somit bald Essenszeit. Die beiden Töchter halfen ihrer Mutter, so gut sie konnten, und so stand schon bald das Essen auf dem Tisch. Nach dem Essen legte Maria Julia ins Bett, während Eva und Laura wieder zu den Nachbarn gingen, um mit Gerda und Kai zu spielen.
Wolfram fragte: „Wie geht es jetzt bei dir weiter, Andrea? Mit dem Arbeitsvertrag hast du ja auch Pflichten. Das Büro ist hier, aber du kannst doch nicht ein Leben lang immer hin und her fahren?“
„Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Aber wir haben keine andere Lösung.“
„Und wenn ihr hierher nach Håp Land zieht?“
Kjeld rief entrüstet: „Das kommt gar nicht infrage. Du gehörst zu deinem Mann. Kauft euch ein Haus. Das von Sörensens steht leer. Dort könnt ihr meinetwegen einziehen. Ich bin froh, dass wir keine kleinen Kinder mehr im Haus haben. Wir werden auch älter und wollen unsere Ruhe.“
Andrea sah Wolfram schulterzuckend an.
„Hier gibt es ein Haus, welches zum Verkauf steht?“, fragte er.
„Ja. Das steht schon vier Jahre leer. Die Sörensens sind gestorben und ihre Kinder wohnen in Bergen“, meinte Andrea.
„Wäre denn das nichts für euch? Eigene vier Wände sind immer besser, als bei den Eltern zu wohnen. Da muss ich deinem Vater recht geben. Bei uns sagt man, Alt und Jung gehören nicht zusammen!“
„Aber das Haus ist doch alt und es müsste vieles gemacht werden. Wovon sollen wir denn das bezahlen?“
Maria kam gerade zur Tür herein, hörte den letzten Satz und fragte Andrea: „Was sollt ihr denn bezahlen?“
„Wolfram meinte, Sven und ich sollten das Haus von den Sörensens kaufen und dort wohnen.“
„Andrea, das ist doch die Lösung! Dann habt ihr etwas Eigenes“, begeisterte sich Maria.
„Ja? Sagst du mir vielleicht auch, wovon wir das bezahlen sollen?“
Maria sah ihren Mann an, welcher prompt reagierte: „Das ist alles kein Problem, wenn ihr euch gleich entschließt, ein Ferienhaus auf das Grundstück zu setzen. Damit erschließt ihr euch einen Kredit, den ihr ganz bequem abarbeiten könnt. Und wenn wir in den Vertrag den Ausbau des Hauses integrieren, dann läuft er vielleicht zwei oder vier Jahre länger, aber ihr habt ein modernes Haus. Ihr solltet darüber nachdenken. Vielleicht sprechen wir heute Abend noch mal darüber, wenn auch Sven da ist.“
„Das ist sicher eine gute Idee“, antwortete Andrea.
„Da fällt mir noch etwas Wichtiges ein, Andrea. Ich denke, dass ich deinen neuen Arbeitgeber überzeugen werden muss, dass du hier einen Firmenwagen brauchst. Du und Olaf, ihr müsst beweglicher sein. Wenn der Bau losgeht, könnt ihr nicht mehr auf den Bus angewiesen sein, wenn Olaf zum Beispiel nach Bergen muss.“
„Aber er kann doch gar nicht Auto fahren“, entgegnete Andrea.
„Stimmt! Deshalb müsst ihr beide den Führerschein machen. Da das für eure Arbeit ist, wird es die Firma schon finanzieren. Ich denke, das bekomme ich durch. Schließlich bin ich der Einzige in unserer Firma, der die Situation hier kennt. Man vertraut mir.“
Maria schmunzelte vor sich hin. So hat er damals auch mich eingewickelt, dachte sie. Dabei war das, was er sagte, nicht einmal gelogen.
Andrea hingegen erwiderte ängstlich: „Ich soll auch Fahrschule machen?“
„Ja, und das so schnell wie möglich. Im achten Monat wird es dir sicher schwerer fallen. Bis dahin solltest du die Fahrschule schon hinter dir haben. Am besten, ich rede morgen noch einmal mit Olaf. Er könnte euch in Bergen anmelden. Übrigens weiß er von diesem Plan auch noch nichts. Da wird er aber ganz schön gucken.“
Sie besprachen diese neue Idee noch lange. Dabei wurden sie nur durch das Kaffeetrinken mit einer herrlichen Torte unterbrochen. Anschließend ging die Debatte weiter. Als Sven am Abend kam, wurde er gleich eingeweiht. Anfangs sträubte er sich gegen diesen Gedanken, doch dann kam er nach und nach dahinter, dass dieses alte Haus hier in Håp Land die beste Lösung für sie wäre.
Wolfram meinte: „Wenn ihr euch dazu entschließt, dann werde ich bei uns im Betrieb durchsetzen, dass das Haus zusätzlich einen Büroanbau und zwei Garagen bekommt. Eine gehört zum Ferienhaus und die zweite ist für den Betriebs-Pkw. Am besten sollte es ein Kombi sein. Vielleicht so einer wie unser jetziger Leihwagen.“
Sven rief erstaunt: „Was denn, so ein großes Auto? Wer weiß, ob Andrea damit überhaupt zurechtkommt?“
„Wenn ich das schaffe, dann schafft das Andrea auch“, sagte Maria voller Stolz.
„Meinst du?“, fragte Andrea ängstlich.
„Na klar! Das ist gar nicht so schwer. Ich hatte am Anfang auch Angst. Heute bin ich froh, dass Wolfram darauf keine Rücksicht genommen hat.“
„Dann wäre es gut, wenn ihr beide morgen zu der Veranstaltung in der Dorfschenke kommen würdet. Dort werden die ersten Verträge unterschrieben, auch der Bürgermeister wird anwesend sein. Mit ihm könnt ihr gleich die Sache mit dem Haus klären. Wenn es schon so lange leer steht, dann ist es sicher preiswert zu haben.“
Nun wendete sich Wolfram an Kjeld: „Pappa, wie ist das eigentlich mit euch. Werdet ihr euch auch für ein Ferienhaus entscheiden?“
„Ich will das erst mal bei den anderen sehen. Oder muss ich mich unbedingt bis morgen entscheiden?“
„Nein! Es ist jedem seine eigene Entscheidung. Es wäre unfair, jemanden zu bedrängen.“
Kjeld nickte. Er war froh, dass er sich noch nicht entscheiden musste. Besonders geheuer war ihm die ganze Sache nicht. Aber das wollte er gegenüber seinem deutschen Schwiegersohn nicht zugeben.
Als die Kinder vom Spielen zurückkamen, bereitete ihre Oma das Abendbrot zu. Ihre beiden Töchter halfen wieder. Die Männer hingegen hatten nur noch ein Thema: den Hauskauf und wie es dann weiterging. Sven meinte, dass dann auch die vielen Kilometer zwischen Urke und Håp Land wegfielen.
Als sie dann alle beim abendlichen Essen waren, fragte Wolfram Andrea, ob sie Olaf morgen noch vor der Veranstaltung sagen könne, dass er den Führerschein machen müsse. Es sei besser, wenn er das schon vor dem Treffen in der Dorfschenke wissen würde. Andrea versprach es ihm. „Am besten, wir gehen morgen zusammen von hier los. Dann kann ich es ihm unterwegs erzählen. Sven wird heute hierbleiben, sodass er morgen auch mitkommen kann.“
Andreas Mutter freute sich, dass nun auch Andrea und Sven in eine gesicherte Zukunft steuerten. Sie vertraute Wolfram, dass er Sven beim Kauf des Hauses unterstützte. Wolfram hatte erst seit einem knappen Jahr Kontakt zu ihrer Familie, doch wie viel hatte sich seitdem verändert. Sie begriff immer mehr, was er mit den Worten meinte, die Einwohner im Dorf würden umdenken müssen. Keiner sah mehr auf Maria herab. Keiner machte einen Bogen um ihre Familie. Alle waren wie aufgescheuchte Hühner und wussten nicht, wie sie Wolfram einschätzen sollten. Maria war nicht mehr Dorfgespräch. Schon dafür war Annefried Wolfram unendlich dankbar. Seiner offenen Art waren die verschlossenen Dorfbewohner nicht gewachsen. Ja, sie bewunderte ihren Schwiegersohn, auch wenn sie manches an ihm nicht verstand.
Am nächsten Morgen traf Maria mit ihrer Familie gegen 9.00 Uhr bei ihren Eltern ein. Andrea meinte: „Ich denke, ich sollte Olaf Bescheid sagen? Jetzt kannst du es doch gleich selbst machen, Wolfram.“
„Stimmt. Gestern wollte ich direkt zur Schenke, aber das geht ja wegen der Kinder nicht. Für einen Moment hatte ich sie vergessen. Ich verspreche, mich zu bessern.“ Dabei lächelte Wolfram.
Kurze Zeit später liefen sie mit Andrea und Sven rüber zu den Jansens. Maria freute sich, dass sie die Kinder wieder bei Ivonne und ihren Kindern lassen konnte. Hier waren sie sehr gut aufgehoben. „Wenn ihr uns einmal besucht, dann werden wir das alles gutmachen. Ihr habt uns die Kinder so oft abgenommen. Ihr seid wahre Freunde.“ Maria war so froh, dass die Kinder zu jeder Zeit hierherdurften.
„Aber das ist doch selbstverständlich“, antwortete Ivonne bescheiden.
„Nein, Ivonne, das ist es sicher nicht“, sagte jetzt Wolfram. „Ihr seid wirklich wertvolle Freunde.“
„Maria weiß doch, dass wir das gern tun“, sagte Olaf.
„Gerade deshalb seid ihr ja so wertvoll“, erwiderte Wolfram. „Und für die Firma sind Sie auch sehr rührig. Ich denke, Sie werden in nächster Zeit viel unterwegs sein. Schade, dass Sie kein Auto haben. Das würde Ihnen jetzt viel Zeit ersparen.“
„Wozu ein Auto? Ich kann doch gar nicht Auto fahren.“
„Hatten Sie noch nie den Wunsch, ein Auto zu fahren?“
„Als Kind habe ich es mir oft gewünscht, aber dann kamen der Beruf und die ständige Arbeitslosigkeit im Winter, die Familie und das Haus. Nein, Wolfram, so weit werden wir es wohl nie bringen.“
„Dann muss ich Sie mal aufklären. In Deutschland ist der Führerschein fast eine Bedingung für jede Arbeit. Da hier andere Bedingungen herrschen, denke ich, dass die Firma Ihnen und Andrea die Fahrschule finanzieren sollte. Sie können hier ohne Auto gar nicht richtig Ihre Aufgaben erfüllen. Bitte versprechen Sie mir, dass Sie am Montag eine Fahrschule aufsuchen und Andrea und sich dort anmelden. Lassen Sie sich die Telefonnummer und die Bankverbindung geben, damit unsere Firma den Betrag überweisen kann. Andrea wird mir am Montag alles über das Internet zukommen lassen. Glauben Sie mir, es ist Eile geboten. Ab März soll hier der Bau losgehen und bis dahin müssen Sie den Firmenwagen fahren können. Ich denke, dass die Firma bis Ende Februar einen Pkw stellen wird.“





