Babel

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«It’s a great huge game of chess that’s being played
– all over the world –
if this is the world at all, you know.»
Through the Looking-Glass, Lewis Carroll
Mein Sohn, ich sehe im Traum,
dass ich dich schlachten soll.
Siebenunddreißigste Sure
Setze mich wie ein Siegel auf dein Herz
und wie ein Siegel auf deinen Arm.
Denn Liebe ist stark wie der Tod.
Hoheslied 8,6
Wie ein schwarzes Messer glitt die Limousine durch den Verkehr. Die Insassen, geborgen in ihrer voll klimatisierten Welt, achteten kaum auf das Leben, das sich schwitzend durch die Straßen schob. Sie hatten andere Dinge im Kopf. Heute war ein freudiger Tag. Abraham Babel, der Patriarch, war gerade aus dem Krankenhaus entlassen werden. Er musste es ruhig angehen lassen, hatte die Herzattacke allerdings insgesamt gut überstanden. Seine Frau war stumm vor Glück. Denn sie hatte nicht nur ihren Mann wieder, sondern auch ihren verlorenen Sohn, ihren Joseph, der nach jahrelanger Verbannung wieder daheim war und jetzt neben ihr saß. Der kritische Zustand seines Vaters hatte ihn aus Afrika zurückgeholt, und er war nicht allein gekommen. Zwischen ihrer Schwiegertochter und einem Mann vom Sicherheitsdienst saß Alice, die Enkeltochter, die sie erst letzte Woche zum ersten Mal gesehen hatte. Sie war dankbar, dass ihr das nach all den Jahren des Hoffens vergönnt war. Der Tod hatte sie schon im Maul gehabt und doch wieder ausgespuckt. Heute war alles ein Wunder.
Als das Auto brüsk stoppte, drehte sich ihr Mann irritiert zu dem Fahrer um. Was war das Hindernis? Ein Unfall, der die ganze Straße blockierte? Er fluchte. Sie legte ihm ihre Hand aufs Knie. Was hatten die Ärzte gesagt? Er durfte sich nicht aufregen. Ihr Sohn lächelte bloß. Ihre Enkelin schaute durch die Panzerglasscheiben auf die für Neuankömmlinge so beeindruckende Stadt.
Eine Frau in einem Regenmantel und mit einem Kind auf dem Arm – eine der vielen hundert Bettelnden, die die Stadt zählte – kam auf sie zu. Breit lächelnd blieb sie neben dem Wagen stehen. Joseph öffnete das Seitenfenster. Sein Vater protestierte, doch es war schon zu spät. Die Frau, noch immer mit ihrem Lächeln auf den Lippen, warf das Kind durchs Fenster zu ihnen herein. Ihr Mantel öffnete sich. Sie sahen jetzt alle die um ihren Leib gebundenen Sprengkörper. Auch das Kind war voll davon.
Die Sicherheitsleute reagierten zu spät.
«Schießt! So schießt doch!», rief ihr Mann.
Das Letzte, was sie sah, war der ungläubige Blick auf dem Gesicht ihres Sohnes.

Als die Baupläne für den Turm bekannt wurden, brach ein Sturm von Protesten los. Anwohner sahen ihre Häuser schon unter Bulldozern verschwinden oder befürchteten, für immer im Schatten des immensen Monolithen leben zu müssen. Stadtplaner behaupteten, es gebe noch genügend Büroraum im Zentrum und somit keinerlei Grund, genau dort den höchsten Wolkenkratzer der Welt zu errichten. Architekten wiederum störte der Entwurf. In einer Stadt, die bekannt war für ihre strengen architektonischen Linien, fiel dieses gotische Monstrum mit seinen Wasserspeiern, seinen allegorischen Skulpturen und zinkverkleideten Gesimsen völlig aus dem Rahmen. Mittelständler sahen entgangene Chancen, Naturverbände befürchteten, ganze Vogelschwärme könnten sich an den für sie unsichtbaren Fenstern zu Tode fliegen, und religiöse Gruppierungen versicherten jedem, der es hören wollte, das Gebäude sei ein Dorn im Auge Gottes. Wichtiger noch war die Meinung der Investoren, die eventuelle Terroristen nicht auf katastrophale Gedanken bringen wollten und sich für unauffälligere Projekte entschieden. Bei so viel Gegenwehr schien das Gebäude nicht mehr als eine Fantasie auf Papier oder eine Welle aus Größenwahn zu sein, die an den Klippen des gesunden Menschenverstandes zerschellen musste.
Man vergaß dabei allerdings: Der Auftraggeber war Abraham Babel. Und Babels Wille war Gesetz. Seine Gegner hatten zwar recht und zudem die öffentliche Meinung auf ihrer Seite, aber Babel besaß die Mittel. Bevor sich die Stadt von dem Schock erholt hatte, dass die Baupläne genehmigt worden waren, hatten die Arbeiten bereits begonnen. Im ersten Jahr war es noch ein gigantisches Loch im Erdboden, als ob sich die Arbeiter einen Weg in die Hölle gruben; ein Jahr später bauten sie schon am dreißigsten Stockwerk. Ein derartiges Tempo konnte in dieser Stadt nur eines bedeuten: Geld. Geld, das für die nötigen Genehmigungen sorgte und die Proteststimmen zum Verstummen brachte, Geld, das ganze Busse voll illegaler Arbeitnehmer herbeischaffte, die zwischen den Rippen aus Stahlbeton und unter riesigen Kränen ihr Leben aufs Spiel setzten – unter den Dinosauriern des einundzwanzigsten Jahrhunderts, die triumphierend ihre Herrschaft über die Stadt hinausschrien. Drei Jahre, nachdem der erste Protestmarsch vor das Rathaus gezogen war, um dieser Gotteslästerung Einhalt zu gebieten, war der Turm eine Tatsache. Dreihundertdreißig Stockwerke zählte dieser Gräuel offiziell, aber die Religiösen waren sich sicher, dass es dreihundertdreiunddreißig waren, hinauf und wieder herunter ergab das sechshundertsechsundsechzig Stopps, die Zahl des Tieres. Dies sei überdeutlich das Werk des Teufels, der hier dem Allerhöchsten einen arroganten Finger entgegenstreckte. Zum Glück werde Gott schnell reagieren. Katastrophen würden sich über der Stadt zusammenbrauen, und dann werde man ja sehen. Der Fall des Turms sei eine Frage von Monaten.
Zu ihrem Bedauern war das Gebäude, das offiziell Global Business Building hieß, im Volksmund aber unvermeidlich der Turm von Babel genannt wurde, nach fünf Jahren noch immer nicht vom Erdboden verschluckt. Im Gegenteil, es war zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Der Schatten, den es an sonnigen Tagen über die Stadt warf, wurde zur Sehenswürdigkeit; zu etwas, das die wachsenden Touristenströme zum Staunen brachte und den Städtern, die es bereits gewohnt waren, von dieser riesigen Sonnenuhr zu profitieren, nur mehr ein Achselzucken entlockte. Alle großen Organisationen hatten dort ihren Sitz und die meisten Länder ihre Botschaften. Man fand dort die exklusivsten Geschäfte. Die Leute gönnten sich einen Film in einem der fünf Kinokomplexe des Turms, und zu besonderen Gelegenheiten dinierten sie im City View Restaurant mit der Stadt zu ihren Füßen. Der Handel nahm zu, die Mittelständler in der Umgebung machten goldene Geschäfte, zu vorsichtige Investoren fluchten, Vögel passten ihre Routen an, und die Rache des Allerhöchsten blieb aus. Gott hat alle Zeit der Welt, aber als nach fünf Jahren noch immer keine Risse in der Fassade auftauchten, als keiner der potthässlichen Wasserspeier sich löste, um einen Bus mit Schulkindern unter sich zu zermalmen, und auch nicht ein sich selbst respektierender Geschäftsmann schreiend aus dem Fenster gesprungen war, da wurden die Gegner des Turms ungeduldig.
Aus: Babel, ein Traum von Macht, Thomas Rosen & Aziz al-Kashani
Naomi starrte auf den Turm auf der anderen Straßenseite, der sie erwartete. Vielleicht war es ein Scherz, aber die Baumeister hatten die Fassade des Turms so entworfen, dass sie dem riesigen Kopf eines mythologischen Tieres glich. Die grün getönten Fenster im ersten Stock ergaben die Augen des Monsters, und die vergoldete Drehtür auf Straßenebene war das Maul, in dem die eine Beute nach der anderen verschwand. Manchmal spie das Monster eine verschmähte Beute wieder aus, die dann verstört hinaus ins Freie gewankt kam.
Sie durfte nicht länger zögern. Das Gebäude beobachtete sie. Wie ein Taucher, der sich zum Sprung bereitmacht, atmete sie tief ein, huschte zwischen Autos und Taxis hindurch und zwang sich hinein in das Maul.
Drinnen war alles gigantisch. Die Eingangshalle, gepflastert mit weißem Marmor, war größer als ein Fußballfeld. Eine Reihe identischer Frauen in identischen weißen Blusen mit identischen Mini-Headsets und Augen, die im Licht ihrer Laptops glänzten, gönnte ihr einen gelangweilten Blick, als sie zum Schalter ging. Gewohnt, die Berühmten und Mächtigen der Erde an ihrem Desk vorbeiflanieren zu sehen, zeigten sie sich von einem Mädchen mit einem billigen kleinen Koffer in der Hand nicht beeindruckt. Herrenloser Müll.
Naomi holte einen dünnen Papierstapel aus dem Koffer und legte ihn auf den Schalter. Eine der Frauen warf einen Blick auf die Dokumente.
«Personalangelegenheiten werden zwei Blocks weiter behandelt. Hast du das nicht gewusst?»
Naomi schüttelte den Kopf.
«Du kannst froh sein, dass ich heute so gut drauf bin.»
Die Frau tippte mehrere Nummern ein.
«Keine Ahnung. Knapp fünfzehn, vermute ich», redete sie in ihr Headset. «Das Übliche. Waisenhauspapiere. Nein, sauber ist sie.»
Die Frau schob die Papiere zurück.
«Warte hier. Jemand kommt dich holen.»
Zehn Minuten später kam eine andere Frau auf Naomi zu. Alles an ihr war streng und gestrafft, angefangen vom weißen Hosenanzug, der ihren mageren Leib umschloss, bis hin zu ihrer Gesichtshaut – was ihren Augen etwas Orientalisches verlieh. Ihr Mund war ein giftiger roter Strich. «Papiere.» Sie spie das Wort förmlich aus.
Naomi überreichte ihr das Bündel.
Die Frau schaute von den Papieren zu Naomi und zurück.
«Komm mit», sagte sie und verschwand durch eine Tür hinter dem Schalter.
Naomi folgte ihr in einen dämmrigen Flur. Eine zweite Tür führte zu einer Treppe. In dem kahlen Neonlicht stiegen sie hinab. Es folgten weitere Flure und Treppen, tiefer und tiefer, weiter weg von dem Sonnenlicht und dem Leben, bis sie zuletzt in den Kellern des Turms ein fensterloses Büro betraten.
«Setzen!», sagte die Frau und glitt hinter ihren Schreibtisch. Das Zimmer sah genauso streng und beherrscht wie sie selbst aus.
«Woher kommst du?»
«Aus dem Waisenhaus.»
«Hat man dir da keine Manieren beigebracht? Man antwortet niemals ohne Anrede.»
«Ja, Frau … »
«Mein Name ist Prynne. Merk dir das. Was waren deine Eltern?»
«Meine Eltern sind tot, Frau Prynne.»
«Das ist mir klar, Kind, sonst kämst du nicht aus dem Waisenhaus. Ich will wissen, was sie waren, als sie noch lebten.»
«Mein Vater hat bei der Metro gearbeitet. Meine Mutter war Hausfrau.»
«Geschwister?»
Naomi zögerte etwas.
«Weißt du es nicht sicher?»
«Ich hatte eine kleine Schwester», sagte Naomi. «Aber sie ist auch tot.»
«Großeltern?»
Naomi schüttelte den Kopf.
«Ich hoffe, du gehst etwas weniger leichtsinnig mit deinem Leben um als der Rest deiner Familie. Immer wieder neues Personal abzurichten passt mir nicht.»
Sie besah die Papiere. «Du liebe Güte, derartige Banalitäten kann man sich nicht ausdenken. Ein Spüllappen hat ein spannenderes Leben.» Sie hob den Kopf. «Zum Glück für dich hat diese Alltäglichkeit jetzt ein Ende. Ab heute arbeitest du für einen ganz besonderen Arbeitgeber.»
«Sie, Frau Prynne?», fragte Naomi.
Einen Moment lang schien sich der rote Strich zu einem Lächeln verziehen zu wollen, aber Prynnes Augen blieben kalt.
«Ich spreche von Abraham Babel, Kind! Dem Finanzgenie, das diese Stadt vor dem Untergang gerettet hat, dem Mann, der dem erschöpften Kapital neues Leben eingehaucht und ganz allein die bereits in ihren Grundfesten erschütterten Banken gestützt hat.» Sie nagelte Naomi mit ihrem Blick fest. «Gestern warst du ein Niemand. Heute erhältst du Zutritt zu dem exklusivsten Ort des Landes. Ist dir eigentlich klar, welche Ehre das ist? Wenn du hart arbeitest, kannst du es weit bringen. Nicht sofort natürlich. Man steigt nicht mühelos die Leiter hinauf, und nicht jeder schafft es, denn viele sind berufen … Aber wenn du nicht aufgibst, hast du eine Chance. Ich hoffe, du bist dankbar für das, was das Schicksal dir zugedacht hat.»
Naomi nickte.
«Hier gilt lediglich eine Regel: Man macht keine Fehler. Niemals. Ich toleriere keine Entschuldigungen, verstanden? Es stehen genug Mädchen bereit, deinen Platz einzunehmen. Du bekommst zwei Nachmittage im Monat frei. Ansonsten ist es dir zu keinem Zeitpunkt gestattet, das Gebäude ohne Erlaubnis zu verlassen. Manche deiner Kolleginnen dachten, sie bräuchten sich um diese Regel nicht zu scheren. Sie haben falsch gedacht. Du erhältst keinen Besuch. Solange du unter mir arbeitest, sind Handys oder Laptops verboten. Freundschaften kannst du besser drangeben, solange du hier tätig bist.»
«Ich habe keine Freunde, Frau Prynne.»
«Sehr gut», sagte diese und schaute auf ihre Armbanduhr. «Dann bring ich dich jetzt zur Garderobe.»
Naomi folgte ihr abermals durch ein Gewirr von Fluren.
Die Garderobe erwies sich als riesige Lagerhalle, vollgestopft mit Kleiderregalen.
«Frau Hu!», rief Frau Prynne. «Haben Sie einen Moment für uns?»
Eine kleine Frau mit hervorstehenden Augen hinter dicken Brillengläsern tauchte zwischen den Regalen auf.
«Ein Neuzugang, Frau Prynne?»
«Eine Sub. Medium, schätze ich. Sie braucht die gesamte Ausstattung: Schuhe, Socken, Unterwäsche und natürlich Hosen und Hemden.»
Frau Hu griff nach dem Bandmaß, das sie um den Hals trug, und schlang es um Naomis Taille.
«Einatmen. Ja, so. Jetzt ausatmen. Sehr gut.»
Sie nahm Maß an Naomis Brust und Schultern und kniete sich anschließend hin, um Naomis Beine zu messen.
«Perfekte Figur. Sie könnte direkt auf den Laufsteg.»
Frau Prynne schnaubte.
«Dafür ist sie zu dick.»
«Zu dick?»
«Schauen Sie sich die Brüste an. So etwas sieht man auf keinem Catwalk.»
Frau Hu verschwand in der Dunkelheit der Regale.
«In diesem Gebäude herrscht eine strikte Ordnung», sagte Frau Prynne. «Du gehorchst Arbeitnehmern mit einem höheren Rang. In deinem Fall sind das alle.»
Frau Hu kam mit einem ganzen Kleiderstapel zurück. Alles war dunkelgrau, bis auf die weiße Unterwäsche. Frau Prynne nahm ein Shirt vom Stapel.
«Siehst du das hier?»
Auf dem Shirt war oben links die Abbildung eines schwarzen Turms zu sehen. Unter dem Turm waren mit rotem Garn die Buchstaben «Sub» in das graue Material gestickt.
«Das ist dein Rang. Du bist eine Sub. Direkt über dir sind die F5-er. Die putzen die Gemeinschaftsräume der unteren dreißig Etagen. Über ihnen stehen die F4-er. Was sind die noch mal, Hu? Die Fahrer?»
«Die Laufburschen, glaube ich.»
«Egal. F3 steht über F4, E5 über F1 und so weiter. Je höher der Rang, desto besser ausgebildet, desto mehr Erfahrung beziehungsweise Verantwortung.»
Sie knöpfte ihre Jacke auf.
«Ich selbst bin C1, und Frau Hu» – sie zeigte auf das dunkelgrüne Shirt von Frau Hu – «ist eine E2.»
«Wer sind die A-s?», fragte Naomi.
«Die Kleine ist ehrgeizig», sagte Frau Hu.
«Unwissend, wollten Sie sagen. Die A-s arbeiten oben im Turm, in den Räumlichkeiten von Abraham Babel oder besser in denen seiner Enkelin. Mach dir keine Sorgen, mit ihnen wirst du nichts zu tun haben.» Frau Prynne fischte einen Schlüssel aus ihrer Jackentasche. «Das hier ist der Schlüssel zu deinem Spind. Da hinein legst du deine restliche Kleidung. Frau Hu zeigt dir, wo es ist und wohin du mit deiner schmutzigen Wäsche musst. Keine Ahnung, was du aus dem Heim gewohnt bist, aber hier erscheinst du jeden Tag in frischen Sachen.»
Naomi nickte.
«Ab heute fängt dein neues Leben an. Es ist dir vielleicht nicht bewusst, aber falls du dir Mühe gibst, sind deine Nöte vorbei. Hier bei Babel kümmern wir uns um alles. Du bekommst eine Gratis-Zahnversorgung und einen zweimonatigen Gesundheitscheck bei den besten Ärzten. Kost, Logis und Kleidung hast du frei, und dein Lohn wird am ersten Tag des Monats auf dein Konto überwiesen.»
«Ich habe kein Konto, Frau Prynne», sagte Naomi.
«Dann bekommst du das Geld in einem Umschlag, bis du eins eröffnet hast. Wichtig ist, dir darüber klar zu sein, dass du in eine neue Familie aufgenommen bist, die für dich sorgt und die darauf achten wird, dass dir nichts zustößt. Im Tausch für diese Fürsorge erwartet Babel Loyalität.»
«Loyalität?»
«Treue, wenn du das Wort besser verstehst! Babel kommt an allererster Stelle. Er kommt vor deiner Mutter, vor deinem Gott und vor deinen Träumen. Wenn Babel etwas von dir will, dann gibst du ihm das. Verlangt er von dir zu springen, dann springst du, selbst wenn es vom Dach des Turms wäre. Und mit Babel meine ich nicht nur den Mann ganz oben an der Spitze. Wir alle sind Babel.» Sie zeigte auf den roten Buchstaben auf ihrer Bluse. «Ich bin Babel. Frau Hu ist Babel. Mach uns glücklich und du machst Abraham Babel glücklich. Aber wenn du uns unglücklich machst …»
«Machen Sie der Kleinen keine Angst», sagte Frau Hu.
«Sie soll wissen, woran sie hier ist. Sie ist kein Model auf einem Catwalk, sondern eine Putzhilfe.»
Sie wandte sich wieder zu Naomi.
«Du arbeitest schnell. Du stellst keine Fragen. Du schaust niemandem in die Augen. Du redest nicht. Du atmest nicht. Du bist unsichtbar, verstanden?»
«Ja, Frau Prynne.»
«Enttäusche mich nicht. Nicht wie deine Vorgängerin.»
Naomi verkniff sich die Frage, was mit ihr geschehen war.
Frau Hu zeigte ihr die Duschen und die Spinde. Naomis Spindnummer war 1014.
«Arbeiten hier mehr als tausend Leute?»
«Kind! Hier arbeiten Tau-sen-de von Menschen! Natürlich übernachtet das Personal aus den Büros und Geschäften nicht im Turm. Diese Ehre ist nur Babels direkten Arbeitnehmern vorbehalten.»
Und sie musste diese Ehre mit jeder Menge anderer Menschen teilen, begriff Naomi, als sie ihren Schlafplatz sah. Dutzende von Betten waren in Reihen in einem großen unterirdischen Saal aufgestellt.
«Schlafe ich hier?»
«Du schläfst hinten, bei den anderen Subs», sagte Frau Hu. Sie gingen durch den Schlafsaal. Hier und da lagen Mädchen und Frauen auf ihren Betten. Manche schliefen oder lasen, andere schienen zu beten, starrten die Decke oder auch Naomi und Frau Hu an. Am Ende des Raums, abgesondert von den übrigen, standen zwölf Betten. Auf zwei davon lagen Mädchen. Frau Hu nickte ihnen zu, und beide nickten kurz zurück. Vor dem letzten Bett an der Wand blieben sie stehen.
«1014», sagte Frau Hu. «Hier schlief deine Vorgängerin.»
In einer Schublade unter ihrem Bett konnte Naomi ihren Koffer verstauen. Sie legte die Kleidung, die sie auf Anraten von Frau Hu mit hierher genommen hatte, auf das Bett.
«Sonst musst du wieder den ganzen Weg zu den Spinden zurückgehen, um dich umzuziehen», sagte Frau Hu. «Hier hast du auch etwas mehr Privatsphäre.»
Sie deutete auf einen Vorhang, der um das Bett gezogen werden konnte.
«Frau Prynne kommt gleich, um dir deine ersten Aufgaben zu erläutern. Besser, du bist dann schon in Uniform.»
Naomi nickte.
«Neue Menschen, neue Regeln und neue Kleider. So ein erster Tag ist immer schwierig, aber das gibt sich. Am Anfang hast du vielleicht noch etwas Heimweh nach Hause …»
«Ich habe kein Zuhause», sagte Naomi.
Frau Hu sagte nicht «sehr gut». Sie lächelte betrübt und ließ Naomi hinten im Saal zurück.
Kaum war Frau Hu fort, da wurde Naomi schon von dem Mädchen im Bett neben ihr angesprochen.
«Du musst die Neue sein! Ich bin Lisbeth.»
Mit ihren kurzen braunen Haaren wirkte sie zunächst wie sechzehn, aber der Blick in ihren kleinen Augen war älter. Wenn sie sprach, sah man eine Reihe kleiner, scharfer Zähne.
«Das ging schnell. Issa ist noch keine Woche verschwunden, und schon hat man sie wieder ersetzt.»
«Verschwunden?»
«Ui, habe ich das gesagt?»
Sie schaute zu dem Mädchen in dem anderen Bett, das sich schulterzuckend umdrehte und tat, als ob das Gespräch sie nicht interessierte.
«Achte nicht auf Deborah. Sie ist müde.»
«Müde von deinem Gelaber», maulte das Mädchen.
«Kann ich dir helfen?», fragte Lisbeth und hob Naomis Koffer vom Bett. «Du hast nicht viel mitgebracht von zu Hause. Ach ja, stimmt auch, du kommst sicher aus dem Heim wie deine Vorgängerin. Das tut mir so furchtbar leid für dich.»
«Nicht nötig», sagte Naomi. Sie nahm Lisbeth den Koffer aus der Hand und verstaute ihn in der Schublade unter dem Bett.
«Ich darf gar nicht daran denken», sagte Lisbeth. «Natürlich hoffst du manchmal heimlich, deine Eltern wären nicht deine wirklichen Eltern, sondern eines Tages würde ein schickes Auto in deiner Straße halten, aus dem deine richtige Mutter gerannt kommt, um dich mitzunehmen in dein neues Leben. Sie war früher arm, aber jetzt ist sie reich und mächtig und bereut es, dass sie dich jemals weggegeben hat. Und du weißt endlich, wer deine Eltern sind.»
«Ich kenne meine Eltern», sagte Naomi.
«Ach», sagte Lisbeth. «Und wie bist du dann im Waisenhaus gelandet?»
«Sie sind tot», sagte Naomi.
«Lisbeth», rief das Mädchen in dem anderen Bett, «halt endlich den Schnabel!»
Lisbeth redete auch dann noch weiter, als Naomi den Vorhang zuzog und in ihre neue Kleidung schlüpfte. Sie erzählte, wie sie spekuliert habe, wer wohl die Neue sei, aber dass sie nie so jemand Hübsches erwartet hätte. Fand Deborah nicht auch, dass die Neue hübsch sei? Natürlich sei Schönheit nicht immer ein Vorteil, erst recht nicht hier, in den Abgründen von Babel. Denn wenn die Männer einen einmal im Visier hätten … Tiere seien sie, die immer nur an das Eine dachten. Selbst sie, Lisbeth, habe Mühe, sie sich vom Leib zu halten, und sie sei ein anständiges Mädchen, das ihre Ware nicht so sehr feilbot, falls Naomi verstand, was sie meinte.
Naomi kam hinter dem Vorhang hervor. Ihre Brüste passten perfekt in das graue Shirt. Der erste Anblick machte, dass Lisbeth ihr Lächeln entglitt.
Ja, zu hübsch zu sein sei gefährlich. Die Mädchen seien nicht mehr an einer Hand abzuzählen, die, von ihrer Schönheit verraten, die Aufmerksamkeit eines der C-s oder B-s erregt und geglaubt hätten, auf diese Weise würden sie rasch befördert. Damit gewännen sie aber keinen Respekt. Sie würden benutzt und weggeworfen wie ein billiger Putzlappen. Das werde ihr nicht passieren. Sie riet Naomi, diesen Weg nicht einzuschlagen. Denn eine Frau, die gewarnt sei …
Lisbeths Redefluss endete erst, als die Tür am anderen Ende des Saals aufging und Frau Prynne eintrat. Lisbeth war nicht die Einzige, die verstummte. Die meisten Frauen zogen rasch ein Bettlaken glatt, wischten sich die Krümel vom Shirt oder ordneten ihr Haar, als Prynne durch den Saal schritt. Bei Naomi, die neben dem Bett bereitstand, blieb sie stehen. «Ich habe mir den Stundenplan angeschaut», sagte sie, «und halte es für das Beste, wenn du vorläufig die Aufgaben deiner Vorgängerin übernimmst.»
Sie zählte die Aufgaben auf. Naomi war zusammen mit einem Teil der anderen Subs für die Sauberkeit in den Schlafsälen, den Duschen und Toiletten sowie den Freizeiträumen und Dienstaufzügen zuständig. Gearbeitet wurde im Turnus. «Deine Kolleginnen werden dir erklären, wie das funktioniert.»
«Ich helfe ihr gern», sagte Lisbeth.
«Warum wundert mich das jetzt nicht?», sagte Frau Prynne. «Einen Tag in der Woche arbeitest du in der Wäscherei. Wie ich schon sagte, hast du zwei Nachmittage im Monat frei. Es wäre praktisch, wenn du mir möglichst schnell die gewünschten Tage durchgibst. Wann willst du nach draußen?»
Naomi schüttelte den Kopf.
«Ich brauche keine freien Tage.»
Lisbeth fiel der Unterkiefer herab. Selbst Deborah drehte sich um.
«Überleg dir, was du sagst», antwortete Frau Prynne.
Lisbeth packte Naomi am Arm.
«Das kann unmöglich dein Ernst sein. Wenn du die Tage nicht nimmst, dann …»
Sie warf einen kurzen Blick zu Frau Prynne.
«Natürlich ist es eine Riesen-Ehre, hier zu arbeiten, aber manchmal muss man mal raus, und wäre es nur, um frische Luft zu schnappen oder seine Freunde zu sehen.»





