Babel

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«Das ist nicht nötig», sagte Naomi.
«Wenn du deine freien Tage hergibst, sitzt du ununterbrochen in den Kellern, ohne jemals die Sonne zu sehen.»
«Ich brauche keine Sonne.»
«Du nimmst deine freien Tage, genau wie alle anderen», sagte Frau Prynne. «Ich will nicht, dass jemand behauptet, wir würden unser Personal ausbeuten. Wenn du keine Nachmittage wählst, Naomi, dann wähle ich sie für dich.»
«Vielen Dank», sagte Naomi.
«Komm mit, dann zeige ich dir, wo das Material liegt und wie du mit den Putzmaschinen umgehen musst.»
An diesem Nachmittag putzte sie zusammen mit Lisbeth und Maria und Rosario, zwei weiteren Subs, die zwölf Dienstaufzüge. Im Gegensatz zu den Fahrstühlen, die die Besucher und die Bewohner benutzten, fuhren diese Aufzüge bis in die Keller des Turms hinab. Sie mussten sich beeilen, denn jeder Lift stand nur zehn Minuten still.
«Du brauchst keine Angst zu haben, dass wir plötzlich nach oben rauschen», sagte Lisbeth, als sie sah, dass Naomi, den Lappen in der Hand, bei einer Tastatur zögerte. «Alles wird von der Überwachung kontrolliert. Es ist egal, worauf wir drücken. Die Dinger fahren erst wieder, wenn die da oben es wollen.» Sie zeigte auf eine Kamera in der Ecke des Aufzugs. «Glaubst du mir nicht? In welches Stockwerk würdest du wollen?»
«Keine Ahnung.»
«Nein? Immer, wenn ich die Aufzüge putze, frage ich mich, wo ich wohl herauskommen würde, falls ich zufällig doch nach oben fahren würde. Ob ich wohl in einer Botschaft oder im Palast von einem dieser Ölscheichs lande? Oder vielleicht im Stadtmuseum?»
«Ein Museum? Hier im Turm?»
«Das hier ist nicht einfach irgendein Gebäude, Naomi! Es ist eine vertikale Stadt. Eine, aus der jeglicher Unrat ferngehalten wird. Hier findest du keine Besoffenen, die dich belästigen oder bespucken. Hier gibt es keine Staus oder Streitigkeiten oder offenen Geschwüre, sondern nur hübsche Menschen. Alle riechen hier nach Parfüm und Aftershave und Geld.» Lisbeth seufzte. «Am liebsten würde ich in den dreihundertfünfundfünfzigsten wollen.»
«Was gibt es da zu sehen?»
«Das City View Restaurant! Das höchste Restaurant der Welt. Es hat eine unvergessliche Aussicht, heißt es.»
«Du bist noch nie dagewesen?»
«Bei unserem Lohn?»
Lisbeth tippte drei Zahlen ein.
«Hier hat nicht jedes Stockwerk eine eigene Taste. Dreihundertdreißig Tasten, das wäre wohl etwas zu viel des Guten.»
Auf dem Bildschirm neben der Tastatur erschien in großen, grünen Ziffern 325, doch der Aufzug blieb brav stehen.
«Höher kann man nicht.»
«Ich dachte, es gäbe dreihundertdreißig Stockwerke?»
«Ja, aber dieser Aufzug geht nur bis zum dreihundertfünfundzwanzigsten. Wenn du noch höher willst, musst du in einen anderen Fahrstuhl umsteigen, der bis zu Babel hinaufführt, bis in den Himmel sozusagen. Aber in den steigt man nicht einfach so. Das geht nur mit Genehmigung.»
«Wenn man eine A ist?»
«Genau.»
«Babel wohnt im höchsten Stockwerk?»
«Ja, das weiß doch jeder.»
«Und wer wohnt in den vier Stockwerken darunter?»
«Seine Enkelin hat ihre eigenen Räumlichkeiten direkt unter seinen.»
«Und der Rest? Wer wohnt da?»
«Niemand.»
«Bekommen sie die Apartments nicht vermietet?»
«Bist du verrückt? Für die Apartments in Babel gibt es eine Warteliste von anderthalb Jahren. Du hast keine Ahnung, was die Leute dafür übrighaben, hier zu wohnen.»
«Warum steht dann so viel leer?», fragte Naomi.
«Herr Babel hat gern etwas Platz zwischen sich und den übrigen Bewohnern des Turms. Es ist eine Frage der Sicherheit. – Reine Wichtigtuerei, wenn du mich fragst», flüsterte Lisbeth. «Um zu zeigen, wie reich er ist.»
«Als ob jemand das bezweifeln würde», sagte Naomi.
«Du müsstest mal seine Räume sehen», sagte Lisbeth. «Überall Gold und Marmorbrunnen und Möbel, die aus alten Palästen zusammengeraubt sind, und die Flure vollgestopft mit teurer Kunst.»
«Hast du das selbst gesehen?»
«Pah!», kam es aus dem anderen Aufzug. «Lisbeth in Babels Räumlichkeiten? Glaub bloß nicht alles, was sie dir sagt, Neue. Sie redet einfach irgendwas daher. Nicht ein Sub kommt jemals da hinauf.»
«Ach wirklich, Rosario?», rief Lisbeth zurück. «Und was ist mit Betty?» Sie wandte sich zu Naomi. «Betty ist eine Freundin von mir. Sie ist eine A.»
«Wenn Betty wirklich eine A wäre, wie sie behauptet, warum isst sie dann noch unten im Speisesaal?», rief Rosario.
«Weil sie noch in der Probezeit ist.»
«Probezeit? Weißt du, was ich von deiner Probezeit und deiner Freundin denke?»
Durch den Aufzug ging ein Ruck. Die Mädchen verstummten.
«Die Überwachung wird ungeduldig», sagte Lisbeth. «Wir sollten uns beeilen.»
Als sie mit den Aufzügen fertig waren, nahm Lisbeth Naomi mit zum Speisesaal. Naomi zögerte an der Tür, aber Lisbeth zog sie weiter.
«Es sieht kompliziert aus, aber ich zeige dir, wie es geht.»
Wie viele Menschen saßen hier an den niedrigen Tischen? Tausende? Die Stimmen, das Geschirr und scharrende Stühle machten einen solchen Lärm, dass Lisbeth Naomi anschreien musste.
«Hast du besondere Essgewohnheiten?»
«Was?», rief Naomi.
«Gibt es Dinge, die du nicht essen magst oder darfst? Die Reihe da ist halal und dort in der anderen Ecke ist es koscher. Vernünftig, die beiden nicht zu nahe beieinander zu platzieren. Vegetarier und Veganer können links ihr Essen finden, und wenn du Laktose-, Gluten- oder Zuckerfreies suchst, musst du in die Allergiker-Ecke. Bist du gegen irgendwas allergisch?»
«Nein.»
«Keine religiösen Essenseinschränkungen?»
Naomi schüttelte den Kopf.
«Perfekt. Dann können wir uns bei der leckeren Reihe anstellen.»
Alle Kontinente waren hier vertreten und sämtliche Hautschattierungen, von Honiggelb bis hin zu einem so tiefen Schwarz, dass das Licht sich darin spiegelte. Naomi sah Reihen glänzender Zähne, Berge von eingeöltem Haar, Wälder von Henna und Meere von Schleiern. An Halsketten baumelten Kruzifixe, Sicheln, Sterne, goldene Hände, steinerne Augen, Haifischzähne und astrologische Symbole. Tätowierungen schlängelten sich in Nacken und verschwanden unter Ärmeln. Sie schritt durch eine Wolke blumig duftender Französinnen und zwängte sich an Deutschen mit kräftigen Masseurarmen vorbei. Thailändische Mädchen, zerbrechlich wie Lilien, aber mit stählernen Augen, schirmten sie gegen einen von Männern besetzten Tisch ab, die ihr mit zugekniffenen Augen folgten. Mit ihren breiten Kiefern, kohlschwarzen Augen und dicken Schnurrbärten ähnelten die Männer einer Räuberbande aus dem Märchen.
Als sie an der Reihe war, wusste Naomi kaum, was sie wollte. Lisbeth bemerkte ihre Verwirrung und übernahm die Regie. Sie wählte für sie beide Suppe, Püree und Huhn.
«Den Nachtisch und den Kaffee holen wir uns später», sagte sie.
Naomi steuerte einen freien Platz an einem Tisch an, aber Lisbeth hielt sie zurück.
«Nicht zu nah bei den Männern. Es ist nicht unwichtig, wohin und zu wem du dich hier setzt. Du musst die Augen offenhalten.»
Lisbeth drehte sich um und stieß mit ihrem Tablett gegen eine hinter ihr stehende Frau. Die Suppe spritzte in alle Richtungen.
«Dumme Kuh! Gib Acht, wohin du trittst!»
Naomi spürte Hunderte von brennenden Blicken auf sich.
«Meine Bluse! Meine Schuhe!», rief die Frau.
«Entschuldige, Betty, ich hatte dich nicht gesehen.»
«Was? Was nimmst du dir da heraus?»
«Entschuldigung, Frau Tarris.»
«Ich brauche deine Entschuldigung nicht, dumme Sub! Du hättest mich verbrennen können mit dieser heißen Suppe!»
«Es tut mir leid, Frau Tarris.»
«Und was ist mit den Flecken auf meinen Schuhen?»
Lisbeth ging in die Hocke, knöpfte ihre Bluse los und tupfte damit die Schuhe ab.
«Betty, lass gut sein!», rief jemand.
Die Frau drehte sich wütend um.
«Habt ihr keine Augen im Kopf? Oder könnt ihr es durch die Flecken vielleicht nicht mehr lesen?» Sie deutete auf ihre Brust. «Das hier ist ein A. Ein A!»
Lisbeths Tränen tropften auf die Schuhe.
«Genug, Sub! Du machst alles nur noch schlimmer.»
Die Frau zog ihren Fuß weg, sodass Lisbeth das Gleichgewicht verlor und in die verschüttete Suppe fiel.
«Es kostet mich zehn Minuten, mich umzuziehen. Wenn ich dadurch in Schwierigkeiten gerate, dann werde ich es dir heimzahlen!» Sie stieg über Lisbeth hinweg und verließ den Saal.
Naomi stellte ihr Tablett auf den Boden und half Lisbeth auf.
«Setz dich. Ich bringe dir einen neuen Teller.»
«Ich habe keinen rechten Appetit», sagte Lisbeth. «Ich denke, ich lasse das Essen ausfallen.» Sie rannte aus dem Saal.
Naomi nahm ihr Tablett. Die Köpfe wandten sich wieder ihren eigenen Tellern zu, und die Ränge schlossen sich, als sie an den Tischen entlangging. Schließlich fand sie am äußeren Ende eines Tischs noch einen leeren Platz.
Zwei Mädchen, das F3 deutlich lesbar auf ihren Shirts, wischten das verkleckerte Essen fachgerecht und schnell auf.
«Was habe ich gehört, Lisbeth?», fragte Deborah abends im Schlafsaal. «Du bist heute deiner guten Freundin Betty in die Arme gelaufen?»
Die anderen Mädchen kicherten in ihr Bettzeug.
«Hat sie dir schon Bescheid gegeben, wann du nach oben darfst? Sie wollte doch ein gutes Wort für dich einlegen, als beste Freundin?», setzte Glenda in dem Bett neben Deborah noch eins drauf.
«Wie schön, dass man auch befördert werden kann, ohne gleich auf die Knie zu sinken», sagte Deborah. «Ohne sich dafür erniedrigen zu müssen.»
So ging es noch eine Weile weiter.
Lisbeth biss in ihr Kissen, bis die Mädchen allmählich genug hatten.
«Naomi?», flüsterte sie, als leises Schnarchen ihren Teil des Saals erfüllte. «Bist du wach? Was heute im Speisesaal passiert ist …»
«Ich habe es schon vergessen», sagte Naomi. «Das solltest du besser auch tun und jetzt schlafen.»
«Aber ich kann nicht schlafen, bevor ich dir erklärt habe, wie es zwischen Betty und mir ist.»
«Ich kenne Betty nicht», sagte Naomi.
«Du kennst mich», sagte Lisbeth.
«Ja», seufzte Naomi, «ich kenne dich.»
«Du musst wissen, dass Betty eine von uns war. Keine dumme Sub wie Deborah, die stolz ist, dass sie hier die Drecksarbeit tun darf, solange sie nur draußen erzählen kann, dass sie für Babel arbeitet. Betty hatte Ehrgeiz. Sie wollte aufsteigen. Wenn man sie sah, wusste man, sie würde es schaffen. Sie war passioniert. Sie konnte selbst Frau Prynne um den Finger wickeln. Die hat sogar einmal fallenlassen, Betty könnte irgendwann einmal vielleicht ihren Platz einnehmen, wenn sie sich weiter so ins Zeug legte. Und Frau Prynne ist ein C1! Betty hatte Frau Prynne gegenüber genickt und getan, als wäre es zu viel der Ehre, aber hinter ihrem Rücken war sie wütend. Dachte diese Prynne, sie, Betty, würde sich mit einem C zufriedengeben? Sie würde es noch sehr viel weiterbringen. Betty hat sich getraut, solche Sachen zu sagen, weil wir Freundinnen waren, verstehst du? Ich habe sie unter meine Fittiche genommen, als sie ganz neu war. Wir waren ein Team. Ich habe manchmal ihre Arbeit gemacht, damit sie versuchen konnte, eine obere Arbeit zu bekommen.»
«Eine obere Arbeit?»
«Eine Arbeit über der Erde. Ihrer Meinung nach war das die einzige Möglichkeit, befördert zu werden. Sie würde sich nicht in den Kellern von Babel begraben, bis sie alt und hässlich war, also verbarg sie ihr Sub-Shirt unter einer Jacke und nahm die Touristenaufzüge. Ich weiß nicht, wie sie sich das vorstellte, von jemandem bemerkt zu werden, aber ich wusste auch, dass sie recht hatte und dass Putzen und Bettenmachen nicht die beste Art war, etwas zu erreichen. In den fünf Jahren, die ich hier arbeite, habe ich es noch keinen Schritt weiter geschafft. Betty war meine Chance, höher hinaus zu kommen.»
«Ihr ist es gelungen. Sie ist jetzt eine A.»
«Ja, sie ist eine A. Sie selbst hätte nie anzunehmen gewagt, dass es so schnell gehen würde.»
«Ist sie irgendwem aufgefallen?»
«Nicht einfach irgendwem!»
«Babel etwa?»
«Babel?»
Lisbeth kicherte.
«Was soll ein Mann wie Herr Babel mit einer wie Betty? Er kann durchaus etwas Besseres kriegen. Übrigens, Herr Babel trauert noch um seine Frau. Und er ist alt.»
«Alte Männer haben auch Augen im Kopf.»
«Herr Babel würde nie etwas mit seinem Personal anfangen.»
«Du kennst ihn gut.»
«In diesem Gebäude geschieht nichts, was die Subs nicht wissen. Falls jemals etwas Derartiges passiert wäre, dann hätte ich es gehört.»
«Wem ist Betty denn aufgefallen?», fragte Naomi.
«Lichtenstern natürlich.»
«Wer ist das?»
«Was? Du hast noch nie von Lichtenstern gehört?»
Dass sie von Lichtenstern erzählen konnte, ließ Lisbeth die Demütigung des Nachmittags vergessen. Es war klar, dass sie viele Nächte dagelegen und an Lichtenstern gedacht hatte. Er war Babels Vertrauter, obwohl er noch nicht so lange in dessen Diensten stand. Das an sich war schon ein Wunder, wenn man wusste, wie misstrauisch der alte Mann war. Aber Lichtenstern hatte ihn verzaubert. Wo Babel ging und stand, sah man Lichtenstern. Sie nannten ihn Babels Schatten. Oder auch «den Vampir».
«Warum?»
«Warte, bis du ihn irgendwann einmal siehst. Dann wirst du es verstehen.»
«Ich brauche ihn nicht zu sehen», sagte Naomi.
«Auch nicht, wenn er aus dir vom einen auf den anderen Tag eine A machen kann? Glaube mir, seit Betty das hinbekommen hat, erliegen ihm die Frauen noch schneller.»
«Dass er aussieht wie ein Vampir, schreckt sie nicht ab?»
«Er sieht nicht aus wie ein Vampir. Er hat keine scharfen Eckzähne oder so, aber er ist sehr blass, und seine traurigen schwarzen Augen scheinen dich geradewegs zu durchleuchten.»
«Das klingt nicht so schlimm.»
«Lass dich durch sein Äußeres nicht irreführen. Er ist ein berechnender und gnadenloser Mann. ‹Der mit den kalten Händen› wird er auch genannt.»
«Solange ich die nicht zu spüren brauche, bin ich zufrieden», sagte Naomi und drehte sich weg von Lisbeth.
«Du weißt nie, ob du sie nicht zu spüren bekommst», beeilte sich Lisbeth zu sagen. «Es heißt, er kommt manchmal hier herunter in die Schlafsäle. Er wartet, bis wir schlafen, und dann schleicht er sich ein. Kannst du dir vorstellen, wie es sich anfühlt, plötzlich seine kalten Hände auf deinem Körper zu spüren?»
«Ich versuche mir lediglich vorzustellen, wie es sich anfühlt zu schlafen», sagte Naomi.
Lisbeth schwieg.
«Na ja», sagte sie eine Weile später, «Betty ist ihm einfach im Foyer in die Arme gelaufen. Niemand weiß, was sie gesagt hat, aber vom einen auf den anderen Tag war sie eine A. Es ging so schnell, dass sie nicht mal mehr Zeit hatte, sich von mir zu verabschieden. Das ist jetzt zwei Monate her. Ich war nicht beunruhigt, als ich nicht sofort etwas von ihr hörte. Sie braucht Zeit, um sich einzuarbeiten. Sie würde mich nicht vergessen. Nach heute bin ich mir da nicht mehr sicher. Was meinst du, wie lange muss ich noch warten?»
Naomi antwortete nicht.
Am nächsten Morgen erkämpfte sich Naomi im Dampfnebel einen Weg zwischen den halbnackten Frauen hindurch zu den Spiegeln in den Waschräumen. Sie sah die verschlafenen Gesichter, die wieder mühsam in Fasson gebracht wurden; Knitterleinwände, die als Untergrund für neue Gesichter mit volleren Lippen, einer glatteren Haut und dichteren Wimpern herhalten mussten. Haare in allen möglichen Farben, Längen und Formen fanden ihren Weg in die Abflusslöcher der Duschen, aus denen Naomi sie später herauszupfen durfte, um sie anschließend noch nass und klebrig in Plastiksäcke zu werfen, in denen auch Tampon-Verpackungen, leere Tuben, Kaugummi, Zahnseide, Deo-Sticks und Wattestäbchen landeten; die Überbleibsel der täglichen Schlacht gegen die Zeit.
Auch im Speisesaal herrschte Betrieb. Die Männer waren mit dem Trimmen und Rasieren schneller fertig als die Frauen und saßen schon beim Kaffee. Manche hoben die Köpfe, als sie hereinkamen, anderen beugten sich über ihre Zeitungen, ihre Karten, ihre Gebetbücher oder ihren letzten Toast. An den Frauen, die trotz der Vorbereitungen in der Dusche den Schlendrian der Nacht noch nicht ganz von sich abgestreift hatten, schienen sie morgens weniger interessiert zu sein.
Hier und da hatten sich Pärchen abgesondert. Manche passten vom Alter und der Hautfarbe gut zusammen, aber es gab auch weniger naheliegende Kombinationen. An dem Tisch, zu dem Lisbeth Naomi lotste, saß ein Mann mit einem riesigen gelben Turban und einem noch riesigeren schwarzen Bart. Seine Nachbarin war eine zierliche Asiatin. Die beiden schienen die Sprache des jeweils anderen kaum zu verstehen, doch das war nicht nötig; das Paar orientierte sich offensichtlich am Klang der Worte. Der Mann klang brüsk. Er schlug mit der Hand auf den Tisch. Die Frau nahm die Hand, drehte sie um und zeichnete etwas mit dem Finger auf seine Handfläche. War es eine Wegbeschreibung? Sie tippte auf ihre Armbanduhr und zeigte neun Finger. Er nickte und drückte ihre Hand an seine Lippen. Die weiße Hand verschwand fast in seinem schwarzen Barthaar.
«Sie starren dich an.»
«Wer?»
«Wer?», wiederholte Lisbeth. «Die Männer im Saal, merkst du das denn nicht?»
Naomi beugte sich über ihr Frühstück. Lisbeth besaß weniger Scheu und blickte schamlos um sich.
«Diese ersten Tage sind wichtig, Naomi. Sie haben Frischfleisch gerochen. Erscheinst du jetzt zu entgegenkommend, werden sie dich fortwährend belästigen. Schau sie nicht an.»
«Das tue ich nicht», sagte Naomi, «aber du.»
«Ach, mich kennen sie, ich laufe keine Gefahr. Solange ich in deiner Nähe bin, werden sie dich in Ruhe lassen. Jedenfalls, solange du sie nicht irgendwie ermunterst.»
«Ich ermuntere niemanden», sagte Naomi, «aber manche Leute drängen sich einem auf.»
Lisbeth schien sich nicht an Naomis wortkargen Antworten zu stören. Sie hatte immer etwas zu erzählen. Es gab Lieblingsthemen wie ihre Familie in der Stadt und natürlich ihre Meinung über die anderen Mädchen. Oder wie großartig es sei, für Babel zu arbeiten. Das merke sie, wenn sie an ihren freien Tagen durch die Stadt ging. Es war dem Personal verboten, in Arbeitskleidung nach draußen zu gehen, aber manchmal vergesse sie das, besonders an heißen Tagen, wenn man in seinem Dienstshirt auf einer Bank sitzen und die Reaktionen der Passanten beobachten konnte, sobald deren Auge auf den gestickten Turm fiel. Man sehe zuerst das Erstaunen, dann die Erkenntnis, dass sie es mit einer von Babels Arbeitnehmerinnen zu tun hatten. Naomi habe ja keine Ahnung, wie viele Männer sich ihr, Lisbeth, schon aufdrängen wollten, nachdem sie den magischen Turm gesehen hätten. Nicht dass sie auf diese Avancen eingegangen wäre. Sie sei doch nicht verrückt. Sie würde sich nicht an Männer verschwenden, die genug Zeit hatten, ihre Nachmittage im Park zu verbringen.
«Ich verstehe es nicht. Es ist doch nur ein Gebäude», sagte Naomi.
Lisbeth erschrak und schaute in die Luft, als könnten sie jeden Moment vom Blitz getroffen werden.
«Es ist nicht einfach nur ein Gebäude! Es ist eine Energie. Hast du das denn nicht gespürt, als du zum ersten Mal hier hereingekommen bist? Ich war so nervös, dass ich dachte, ich würde ohnmächtig werden.»
Babel sei das Zentrum der Welt. Hier passiere es. Hier drängten sich die Filmstars, die Medaillengewinner und die Banker, um dazuzugehören. Hier werde über das Leben von Millionen Menschen entschieden. Jedes Wort, das ein Minister oder auch nur eine Sekretärin womöglich fallen ließ, könne das Ende einer Regierung oder das Aufblühen einer Volkswirtschaft bedeuten. Eine sich öffnende Tür, ein herumliegender Brief oder eine Begegnung in einem der Aufzüge könne die Weltkarte neu zeichnen. Lieber werde sie ihr Leben feudelnd und schrubbend in den Kellern von Babel verbringen, als irgendwo anders einen gut bezahlten Bürojob anzunehmen. Manchmal lege sie ihre Hand an die Wände, und dann fühle sie es durch das Gebäude rasen.
«Was?»
«Elektrizität. Die Fäden des Lebens, die flimmern, die singen, die nach oben fliegen und wie Schnüre in den Händen von Abraham Babel zusammenkommen.»
«Du tust so, als wäre er ein Gott.»
«Ja, aber das ist er auch.»
«Ich habe einmal ein Foto von ihm gesehen», sagte Naomi. «Er ist nur ein alter Mann.»
«Genau», sagte Lisbeth. «Ein alter Mann, der trotz der ganzen harten Arbeit, trotz der vielen Entscheidungen und Sitzungen und Attentate weiterlebt und weiterarbeitet. Was denkst du: Wie alt ist er?»
«Siebzig?»
«Pah! Eher hundert. Oder zweihundert. Niemand kennt sein wahres Alter. Niemand weiß, woher er kommt. Er ist ein Mysterium, ein Unsterblicher. Es ist nicht normal, dass ein Mann so viel Geld und Macht hat. Das bekommt man nicht einfach so. Er muss einen Pakt geschlossen haben mit …» Sie zeigte auf den Boden.
«Was meinst du?»
«… dem Teufel. Nein, Naomi, lach jetzt nicht. Es ist mein Ernst. Denk mal darüber nach. Wie sonst wird man so reich? Und jetzt läuft sein Vertrag bald aus. Darum ist Lichtenstern hier. Um ein Auge darauf zu haben, dass er nicht entwischt.»
«Lichtenstern ist der Teufel? Und der läuft hier herum?»
«Warte nur, bis du ihn siehst.»
«Prynne ist mir schon Teufel genug. Wir sollten besser weiterarbeiten, wenn wir nicht wollen, dass sie uns demnächst im Nacken sitzt.»
Neben dem Tratsch über Babel und die anderen Mädchen hatte Lisbeth ein unerschöpfliches Thema, und zwar, wie reich und erfolgreich sie später sein würde. Ihr jetziges Leben sei lediglich eine Probezeit. Irgendwann werde sie irgendwer aus diesem abstumpfenden Dasein pflücken. Einen Grund dafür, warum ausgerechnet sie und nicht eine der anderen Subs das verdient haben sollte, nannte sie nie. Nein, sie zweifle nicht daran, dass es so kommen werde. Sie kenne das Muster: Erst musste man wie ein modernes Aschenputtel in den Kellern arbeiten und die Demütigungen ertragen. Das Wichtigste sei, nicht in Zweifel zu verfallen, denn wenn man nicht fest genug daran glaube, dann konnte das Glück einem am Ende doch noch entwischen.
Lisbeth zweifelte nicht, das konnte sie sich nicht erlauben. Wie sollte sie ohne Hoffnung in den dunklen Tiefen überleben? Wenn man genug Entbehrungen ertragen hatte und nicht mehr tiefer sinken konnte, dann würde das Wunder geschehen. Meistens war es ein Mann, der ihr frisches kleines Gesicht unter den Rußflecken aufschimmern sähe. Manchmal war dieser Mann Lichtenstern, und dann vergaß sie einstweilen, dass sie ihn gerade noch als fleischgeworden Teufel abgestempelt hatte. Es gab Tage, an denen sie ihre Fantasien in eine praktischere Richtung dirigierte. Dann träumte sie, beim Putzen einmal ein Diamantarmband oder wichtige Papiere zu finden. Als ehrliche Finderin würde sie daraufhin nicht nur mit genügend Geld, sondern auch mit einer Stelle in einem der oberirdischen Büros belohnt. Einer Stelle, die sich zuletzt auch nur als eine Gelegenheit herausstellen würde, einen erfolgreichen Mann kennenzulernen. Darauf zu bauen, dass harte Arbeit ihr den Weg nach oben ebnen würde, hätte Verrat an ihren Träumen bedeutet. Lisbeths Haltung war «Alles oder nichts», und weil es jetzt schon fünf Jahre lang «nichts» gewesen war, bestärkte sie das nur noch in der Überzeugung, das «Alles» noch vor sich zu haben. Dass sie von Hunderten anderer Frauen umgeben war, die es auch nirgendwohin schafften, schien sie nicht zu entmutigen.
In der Zwischenzeit machten die anderen Subs ihr das Leben sauer. Deren Kommentare konnte sie ignorieren, aber die Schikanen nicht. Oft war abends ihr Kopfkissen oder ihre Bettdecke verschwunden. Sie wurde in den Duschen eingesperrt oder nachts unsanft geweckt, und auch Naomi als Lisbeths «Busenfreundin» wurde schon bald drangsaliert.
Es begann mit einer Haarbürste, die von ihrem Nachtschrank verschwand. Naomi fragte am nächsten Morgen, ob jemand wisse, wohin sie verschwunden sei, aber die Mädchen mimten die Ahnungslosen. Sie bekam von Frau Prynne eine neue Bürste und eine negative Beurteilung.
Seitdem packte sie ihre Sachen in ihren Spind, aber es gab andere Möglichkeiten der Schikane.
Als sie von einer Abendschicht zurückkehrten, waren ihr Bett und das von Lisbeth klatschnass. Jemand hatte einen Eimer Wasser über Bettzeug und Matratzen ausgekippt. Lisbeth versuchte zu tun, als ob nichts wäre, aber Naomi sah die Tränen in ihren Augen.





