Babel

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«Du!», rief Naomi Rosario zu. «Wer war das?»
Rosario saß auf ihrem Bett und kämmte sich die Haare.
«Wovon sprichst du?», sagte sie.
Zu diesem Zeitpunkt waren noch vier andere Mädchen im Saal: Maria, Deborah, Christel und Tu. Keine von ihnen hob den Kopf. Ihre Gleichgültigkeit verriet ihre Mitwisserschaft.
«Davon», sagte Naomi. Sie fasste Rosario am Arm und schleifte sie zu dem nassen Bett.
«Bist du verrückt geworden? Lass mich los!»
Sie warf Rosario auf das Bett und setzte sich auf sie.
«Was soll das, Neue? Lass sie los!»
Die anderen Mädchen sprangen von ihren Betten.
«Noch einen Schritt näher, und ich breche ihr den Arm», sagte Naomi.
Sie verdrehte Rosario den Arm, bis diese aufschrie.
«Was fühlst du?»
«Lass mich los!»
«Was fühlst du?»
«Es ist nass.»
«Wie kommt das?»
«Ich weiß es nicht.»
«Wenn du mir sagst, wer es war, lasse ich dich los. Sonst …»
«Au! Das ist unfair! Ich war es nicht. Ich habe nichts damit zu tun!»
«So einfach kommst du nicht davon. Du kannst nicht die Augen schließen und sagen, du wüsstest von nichts. Wenn du weißt, wer es war, und schweigst, dann bist du mitschuldig.»
«Es langt jetzt, Neue», sagte Deborah. «Lass sie los.» Sie kam auf Naomi zu.
«Wenn ich dir den Arm breche, Rosario, dann deshalb, weil Deborah es so will. Das verstehst du doch?»
Naomi drehte Rosarios Arm noch mehr zu ihrem Nacken hin. Rosario schrie aus Leibeskräften.
«Es war Deborah! Es war Deborah!»
Naomi ließ Rosario los und ging zu Deborahs Bett.
«Was hast du vor?»
«Na, was wohl? Ich gehe schlafen. Es war ein langer Tag.»
Naomi knotete ruhig die Ärmel ihrer Bluse auf.
«Geh von meinem Bett, bevor ein Unglück geschieht, Neue.»
«Wenn du Probleme mit meiner Bettwahl hast, kannst du das ja sofort Frau Prynne erzählen.» Naomi deutete mit einem Kopfnicken auf einen Schatten hinter Deborah.
Deborah war erstaunt, dass Frau Prynne zu dieser Zeit im Schlafsaal sein sollte, und drehte sich um.
Naomi fasste sie an den Haaren und knallte sie dreimal fest mit dem Kopf auf das Fußende des Betts. Als sie Deborah losließ, fiel diese stöhnend zu Boden. Maria und Tu rannten zu ihrer Freundin und versuchten, sie hochzuziehen.
«Du hast mir den Kiefer gebrochen, du Fotze! Ich gehe zu Prynne! Das kostet dich deinen Kopf!»
«Nur zu!», rief Naomi. «Und bitte sie auch gleich, den Reserveschlüssel zu deinem Spind mitzubringen. Ich kenne sie nicht so gut wie ihr, aber mir scheint, sie fasst einen Streit zwischen Subs nicht so schwer auf wie den Diebstahl von Babels Eigentum.»
«Du durchgeknallte Fotze!», rief Deborah.
«Schlaf gut», sagte Naomi. Sie stieg aus ihrem Rock, faltete ihn zusammen, legte ihn auf Deborahs Nachtschrank und kroch unter die Bettdecke. Deborah hielt sich den Kopf mit beiden Händen und machte sich im Saal auf die Suche nach einem trockenen Bett. Gefolgt von Lisbeth.
An ihren freien Nachmittagen saß Naomi meistens auf einer Bank in einem Park unweit des Turms. Sie kaufte Obst an einem Stand neben dem Eingang zum Park und beobachtete Frisbee-Fanatiker, Hundespaziergänger, Mütter mit klebrigen Kindern, schwänzende Schüler, Alkoholkranke und Baseballspieler. Sobald der Schatten des Turms auf ihre Bank fiel, wusste sie, dass es Zeit wurde zurückzukehren.
An einem dieser freien Tage wurde sie von Geschrei aufgeschreckt. Es kam von der anderen Seite des Parks. Über den Rasen, im Slalom zwischen ballspielenden Kindern, kam ein Jugendlicher in ihre Richtung gerannt. Er stolperte, rappelte sich wieder auf und rannte wie ein Besessener weiter.
Kurz darauf wurde klar, warum. Zwei Polizisten waren hinter ihm her. Alter und Donuts hatten ihren Tribut gefordert, aber sie gaben nicht auf, und das Meer der Parkbesucher teilte sich, als sie vorbeistolperten. Der Jugendliche rannte an Naomis Bank vorbei. Ihre Blicke kreuzten sich. Er zögerte und sprang dann in das Gebüsch hinter ihrer Bank.
Sofort darauf keuchten die Polizisten an ihr vorüber. Als sie merkten, dass sie den Jungen aus den Augen verloren hatten, blieben sie stehen. Der Ältere der beiden, rot angelaufen, die Hand auf seiner Pistolentasche, wandte sich zu ihr.
«Wohin ist er verschwunden?»
«Der Junge, der gerade hier vorbeigelaufen kam?», fragte Naomi.
«Wer sonst?»
«Er ist über die Hecke gesprungen. In diese Richtung.»
«Unmöglich. So schnell kann er nicht gewesen sein.»
Naomi zuckte mit den Schultern.
«Du musst doch gesehen haben, wohin er verschwunden ist!»
«Über die Hecke. Vielleicht können Sie ihn noch einholen, aber ich bezweifle es. Er war sehr schnell. Was hat er denn ausgefressen?»
«Das geht dich nichts an. Ich will von dir lediglich wissen, wo er ist.»
Sie stand auf. Ihre Jacke öffnete sich, und der Turm, der sich über ihre Brüste spannte, konnte dem Blick der Polizisten unmöglich entgehen.
«Du bist eine von Babel», sagte der Jüngere von ihnen. «Wie ist es denn da oben?»
«Harry!»
«Was denn? Es ist das erste Mal, dass ich eine von denen treffe. Ich bin neugierig!»
«Deswegen sind wir nicht hier.»
«Es tut mir leid», sagte Naomi, «aber er ist wirklich über die Hecke gesprungen. Weshalb sollte ich Sie anlügen?»
Die Männer tauschten einen Blick.
«Wo genau ist er denn rübergesprungen?»
Sie zeigte auf eine Senkung in der Hecke.
Der Jüngere tippte sich an die Mütze und rannte los. Der Ältere schaute sich noch einige Male um und folgte ihm dann.
Sie setzte sich wieder, nahm die Tüte mit Kirschen auf den Schoß und angelte sich seelenruhig eine heraus.
«Sind sie weg?»
«Sie sind auf die andere Straßenseite.»
«Danke.»
Sie hörte ein Rascheln. Dann saß er neben ihr.
«Naomi, nicht wahr?»
«Ja.»
«Ich bin’s, Aziz.»
«Ich weiß, wer du bist», sagte sie und hielt ihm die Tüte hin.
«Vielen Dank.» Er nahm sich eine Faust voll Kirschen.
«Dann weißt du auch, warum ich abgehauen bin.»
«Ja», sagte sie.
«Und du bist nicht angeekelt von mir?»
«Es geht mich nichts an.»
«Erst ging es ja auch nur mich etwas an. Und dann plötzlich alle.»
«Nimm die ganze Tüte», sagte Naomi. «Ich habe genug.»
«Willst du nicht aus einer Tüte mit mir essen? Angst, ich könnte dich anstecken?»
Sie musterte ihn kurz, pflückte sich eine Kirsche, die zwischen seinen Fingern baumelte, und steckte sie sich in den Mund.
«Entschuldige. Du hast mir vorhin geholfen, also müsste ich es eigentlich besser wissen. Aber auf die Dauer … Du bist immer anders gewesen als die anderen, Naomi. Still. Man konnte merken, dass du deinen eigenen Gedanken folgtest. Du bist keine Mitläuferin. Nicht wie …»
«Meine Mutter?»
«Ich habe es gehört.»
«Die ganze Welt hat es gehört.»
«Entschuldige.»
Naomi zuckte mit den Schultern. Er zeigte auf ihr Shirt.
«Jetzt arbeitest du bei Babel.»
Sie zog ihre Jacke zu.
«Schon gut. Ich brauche nichts zu wissen. Ich habe andere Dinge um die Ohren.»
«Warum waren sie hinter dir her?»
Der Junge zog eine Jeanshose unter seinem Pulli hervor.
«Geklaut?»
«Ja, ich bin ein Dieb geworden. Warum nicht? Der Mensch muss leben, und Klauen ist die geringste meiner Sünden. Du bist nicht schockiert?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Lass mich raten: Es geht dich nichts an.»
Sie lächelte.
«Was für eine interessante Art, das Leben zu betrachten. Hätte ich das früher gewusst, dann hätte ich dir mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Aus uns hätte ein schönes Paar werden können.»
Sie runzelte die Stirn.
«Nein? Nein, du hast recht. Es hätte nicht funktioniert. Obwohl ich den Eindruck hatte, dass du nichts lieber wolltest, als den ganzen Kram hinter dir zu lassen.»
Er spuckte die Kerne vor sich aus.
«Hörst du manchmal noch etwas von ihnen?», fragte er, als die Tüte fast leer war. «Von der Familie? Meiner Mutter?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Nichts? Niemand?»
«Und du?», fragte sie.
«Ich? Für sie bin ich tot. Und wenn ich so dumm wäre, zu ihnen zurückzugehen, dann würden sie dafür sorgen, dass ich echt draufgehe.»
«Das würden sie nie tun.»
«Egal. Ich habe jetzt ein neues Leben. Ich bin frei. Werde geliebt. Ja, ich, der dumme Aziz, werde geliebt. Wer hätte das gedacht?»
«Schön für dich.»
Er beugte sich zu ihr und küsste sie auf die Wange, noch bevor sie sich wegdrehen konnte.
«Kann ich irgendwas für dich tun? Gibt es etwas, das ich für dich stehlen kann?»
«Nein, vielen Dank.»
«Weißt du …»
Er riss ein Stück von der Tüte und schrieb mit Kirschsaft eine Adresse darauf.
«Hier. Falls du mich mal brauchst, oder …» Er zögerte. «Falls du irgendwas von meiner Mutter hören solltest. Man weiß ja nie. Dann gib mir Bescheid. Danke für die Kirschen.»
Er rannte davon.
Sie wartete nicht auf den Schatten des Turms, bevor sie den Park verließ.
Naomi arbeitete schon lange genug in Babel, um gleich beim Aufwachen zu wissen, dass etwas Ungewöhnliches in der Luft hing. An anderen Tagen stolperten alle gleichzeitig zu den Waschräumen, aber diesmal blieben die Mädchen in ihren Betten liegen. Lisbeth, die halb betäubt aus dem Bett gekrochen war, blieb mitten im Saal stehen und blickte um sich. Warum folgten die anderen Subs nicht?
Naomi schaute zu Deborah. Die war zu still, zu achtlos.
«Maria, was tust du, wenn du deine Familie vermisst?», fragte Deborah.
«Dann frage ich Prynne, ob ich sie anrufen darf.»
«Und du, Naomi, was tust du?»
Deborah sagte nicht «Neue», sondern «Naomi.» Zu freundlich.
Naomi warf die Bettdecke von sich ab.
«Ich kann mich erinnern, wie schwer ich es hatte, als ich gerade hier anfing», sagte Deborah zu niemanden im Besonderen. «Ich vermisste meine Familie enorm. Manchmal hatte ich Angst, ich könnte vergessen, wie sie aussahen. Zum Glück hatte ich Fotos von ihnen. Fotos können eine enorme Stütze sein, nicht wahr, Naomi?»
«Vielleicht», sagte Naomi.
«Natürlich hast du als Waise solche Probleme nicht. Du brauchst keine Fotos mit dir herumzuschleppen, denn sie sind ohnehin alle tot. Du bist eine der Glücklichen, hab’ ich recht, Naomi?»
«Glücklich genug, keine Zeit mit offenbar endlosen Grübeleien zu verlieren.»
Sie ging an Lisbeth vorbei, die aus Angst vor dem, was kommen würde, noch wie erstarrt im Schlafsaal stand.
«So glücklich, nicht abhängig von Fotos wie diesem zu sein», sagte Deborah.
Naomi drehte sich um. Deborah hatte ein Foto in der Hand.
«Das habe ich in deinem Koffer gefunden. Im Futter versteckt. Vermutlich von einem früheren Besitzer des Koffers. Oder bedeutet dieses Foto dir etwas, Naomi?»
Deborah hielt das Foto in die Höhe und zeigte es den anderen Mädchen. Auf ihm war eine junge Frau zu sehen, die Haare unter einem stramm über die Stirn gebundenen Schal verborgen. Sie hatte die Armen um die Schultern von zwei Mädchen gelegt. Das jüngere Mädchen, ein Kind noch, war etwas dunkler als die Frau, aber dennoch deutlich ihre Tochter. Das andere Mädchen war ungefähr zwölf Jahre alt. Sie war blass, so als sähe sie selten die Sonne. Mutter und jüngere Tochter lachten. Die ältere Tochter schaute ernst. Es war unverkennbar eine junge Naomi.
«Das ist doch kein Foto von deiner Familie, Naomi? Nein? Arme Naomi. Die, ohne es zu wissen, ein Foto von einer glücklichen Familie mit sich herumschleppt. Nun, dafür habe ich eine Lösung.»
Deborah zog ein Feuerzeug hervor. «Oder hättest du das Foto gern wieder, Naomi? Dann komm und hol es dir.»
Naomi bewegte sich nicht. Es war Lisbeth, die zum Erstaunen aller auf Deborah zulief.
«Gib das Foto zurück, Deborah. Es gehört dir nicht.»
«Sieh an! Der Hund bellt.»
Die anderen Mädchen lachten.
«Pfeif sie zurück, Naomi, oder das Foto geht in Flammen auf.»
Alle schauten jetzt auf Naomi. Was würde sie tun? Ein Flämmchen flackerte über dem Feuerzeug, nah an einer Ecke des Fotos.
«Eine kleine Entschuldigung genügt, Naomi. Mehr nicht. Dann bekommst du es zurück.»
«Tu, was du nicht lassen kannst», sagte Naomi. Sie drehte sich um und ging zu den Duschen. Sie hatte den Saal noch nicht verlassen, da kroch ihr der Geruch von verbranntem Fotopapier schon in die Nase.
Sie blieb länger als sonst unter der Dusche. Sie fühlte, wie ihr die Tropfen über die Wangen rannen.
«Das zahlen wir ihr heim», sagte Lisbeth am Nachmittag, als sie die Aufzüge putzten, in sicherer Entfernung von Maria und Rosario, die mit den Aufzügen am anderen Ende des Flurs angefangen hatten.
«Lass gut sein», sagte Naomi, «sie hat mir einen Dienst erwiesen.»
Lisbeth schaute sie verwundert an.
«Ist doch egal, ob sie dir damit einen Dienst erwiesen hat. Sie wollte dir wehtun.»
«Ich kann ihr nicht immer mit Prynne drohen. Sie ist schlau genug, die Sachen, die sie uns gestohlen hat, nicht mehr in ihrem Spind aufzubewahren.»
«Ich kann mit Betty reden.»
«Mit Betty?»
Es war das erste Mal seit dem Zwischenfall mit der Suppe, dass Lisbeth diesen Namen fallenließ.
«Ja, sie ist wieder unten.»
«Sie ist kein A mehr?»
«Doch. Aber sie ist krank. Da oben ist eine Grippeepidemie ausgebrochen, und alle, die krank sind, werden sofort weggeschickt, damit sie den alten Mann und seine Enkelin nicht anstecken.»
«Steht Immunität vor der Grippe denn nicht in seinem Pakt mit dem Teufel?»
«Lach du nur; das kann unsere Chance sein, uns Betty zu nähern. Ihr Zimmer befindet sich in dem Stockwerk über uns. Wir können sie ganz einfach besuchen. Außer dem Arzt sieht sie nicht viele Leute. Sie hat sich nämlich nicht viele Freunde gemacht, seit sie eine A ist.»
«Wie könnte sie uns denn helfen?»
«Ein Wort von Lichtenstern zu Prynne, und Deborah wird entlassen.»
«Du würdest so weit gehen?»
«Du nicht? Auch nicht nach der Sache mit dem Foto?»
«Wird Betty sich nicht wundern, wenn wir vorbeikommen?»
«Sie wird sich über ein bekanntes Gesicht freuen.»
«Ich bin kein bekanntes Gesicht.»
«Wir sind ein Team», sagte Lisbeth und fasste Naomi am Arm. «Mitgefangen, mitgehangen.»
«Es wäre einen Versuch wert», sagte Naomi. Vorsichtig zog sie ihren Arm zurück. In diesem Moment schoss der Fahrstuhl nach oben.
«Merkwürdig», sagte Lisbeth. «Wir hatten noch ein paar Minuten.»
«Wenn er weg ist, brauchen wir ihn auch nicht zu putzen», sagte Naomi. «Wenn wir uns ranhalten, ist dieser Aufzug in fünf Minuten fertig, und wir können zu Betty.»
«Besser, wir bringen ihr etwas mit. Was hältst du von Weintrauben?»
«Glaubst du, Weintrauben funktionieren noch bei einer, die den Luxus von Babel gewohnt ist?»
«Was würdest du ihr mitbringen?»
«Ein paar Modemagazine?»
«Das ist eine bessere Idee. Ich freue mich, dass du jetzt hier arbeitest, Naomi. Ich habe das Gefühl, dass wir mehr als Freundinnen sind. Es ist, als wäre unser Schicksal miteinander verbunden, empfindest du das auch so? Wir werden große Dinge erleben, wenn wir zusammenbleiben.»
In diesem Augenblick kam der Fahrstuhl wieder nach unten. Die Mädchen erschraken, als ein Mann ausstieg. Er trug einen grauen Anzug. Auf seinem blütenweißen Hemd war kein Buchstabe oder Turm auszumachen. Er war hübsch, selbst für babelsche Maßstäbe. Sein dickes schwarzes Haar hatte er nach hinten gekämmt. Die Nase war groß und streng, und seine Augen – zwei dunkle Pfuhle in einem bleichen Gesicht – waren unmöglich zu ignorieren. Sie sogen einen auf und ließen einen nicht los. Sie versengten einen. Als er Naomi von Kopf bis Fuß musterte, errötete sie bis in den Nacken.
«Herr Lichtenstern!», rief Lisbeth und machte eine kleine Verbeugung. Maria und Rosario kamen angelaufen, um das Wunder mitanzusehen.
«Wenn Sie Betty suchen», sagte Lisbeth, «die liegt auf minus vier. Ich kann Ihnen zeigen, wo es ist. Ich hatte gerade vor, sie zu besuchen.»
«Weshalb sollte ich?», sagte Lichtenstern. Seine Stimme war tief und dunkel und wie ein anschmiegsames düsteres Tier.
«Sie ist krank», sagte Maria gedankenlos.
«In der Tat», sagte Lisbeth. «und Sie dürfen keine Ansteckung riskieren. Sehr vernünftig. Vielleicht sollte ich meinen Besuch auch noch etwas aufschieben.»
Lichtenstern schaute sie an, als fragte er sich, wer sich wohl darum scheren mochte, ob dieses Mädchen die Grippe bekam oder nicht.
«Ich suche einen zeitweiligen Ersatz für Betty», sagte er. «Normalerweise macht Prynne das, aber da ich ohnehin nach unten musste, schaue ich mich selbst einmal um.»
«Tenga mi! Tenga mi!», rief Rosario, die vor Aufregung in ihre Muttersprache verfiel.
Lichtensterns Blick glitt von ihrem begierigen Gesicht zu ihren Brüsten und zurück.
«Vielleicht jemand, der eine verständliche Sprache spricht», sagte er.
«Ich spreche!», sagte Maria.
«Tja, leider», sagte Lisbeth, die zwischen Lichtenstern und Naomi glitt. «Als Bettys beste Freundin wäre es mir eine Ehre, für eine Weile ihre Tätigkeit zu übernehmen, Herr Lichtenstern.»
Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. «Nach fünf Jahren in Babel habe ich genügend Erfahrung, um befriedigende Arbeit zu liefern.»
Er schaute kurz auf die Hand und schüttelte diese dann von sich ab.
«Du da!» Er zeigte auf Naomi. «Komm her.»
«Sie ist noch neu, Herr Lichtenstern», sagte Lisbeth. «Sie weiß noch nicht richtig, wie es hier im Turm zugeht. Es mangelt ihr an der nötigen Erfahrung.»
Lichtenstern ignorierte sie.
«Wie heißt du?»
«Naomi.»
«Willst du nach oben, Naomi?»
«Was soll ich da tun?»
Er legte seinen Finger unter ihr Kinn und hob ihren Kopf an, sodass sie in seine traurigen Augen schaute.
«Pragmatisch, das liebe ich.»
Sie senkte ihren Blick als Erste.
«Such Prynne und sage ihr, dass du Betty ersetzt. Sie wird dir sagen, was du zu tun hast.»
Er stieg in den Aufzug.
«Meine Damen, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Arbeitstag.»
Er lächelte, als ob er wüsste, dass er ihre gesamte Hoffnung auf ein besseres Leben mit sich nahm. Der Fahrstuhl schloss sich, und die Mädchen sahen sich in der Metalltür widergespiegelt, verzerrt mit langen Armen, kurzen Beinen und monströsen Köpfen. Lisbeth war die Erste, die sich umdrehte. Sie zwang sich zu einem Lächeln.
«Das sind großartige Neuigkeiten, Naomi. Ganz nach oben! Wer weiß, was für Chancen du dort bekommst! Und falls es noch mehr Kranke geben sollte, weißt du, dass ich nur zu gern für jemanden einspringe. Dann können wir wieder zusammenarbeiten. Wäre das nicht großartig?»
«Mitgefangen, mitgehangen», sagte Naomi.
Lisbeth nickte.
«Genau.»
«Leider weiß ich noch nicht richtig, wie es hier im Turm so zugeht. Ich halte es für besser, du arbeitest mit einer Person zusammen, die mehr Erfahrung hat», sagte Naomi.
«Das nimmst du mir doch nicht übel, Naomi, nach allem, was wir zusammen erlebt haben? Ich habe das nur gesagt, um dich zu beschützen. Wir sind doch Freundinnen!»
Naomi entfernte sich. Maria und Rosario, noch im Schock, witterten ihre Chance, als sie merkten, dass Lisbeth allein zurückblieb. Es dauerte nicht lange, bis jemand Naomis Namen schrie. Naomi schaute sich nicht um.
Der Fahrstuhl hielt im Erdgeschoss und verschluckte dort eine Gruppe von Touristen, die sich wenig um die missbilligenden Blicke von Frau Prynne kümmerten. Sie holten Bierdosen aus ihren Rucksäcken und tönten dann in irgendeiner osteuropäischen Sprache herum.
«Abschaum», murmelte Frau Prynne.
Naomi ignorierte die Touristen und starrte auf den Plasmabildschirm, der an der Fahrstuhlwand hing und in dem Frauen, die Hände voll mit Champagner und teuren Handtaschen, Männern mit perfekt rasierten Gesichtern, gekämmten Haaren, weißen Hemden, weißen Zähnen und einer weißen Haut zulächelten. Beide Arbeitnehmerinnen ignorierten den eindringlichen Geruch von Schweiß, Bier und Salami und holten erst wieder tief Luft, als der Aufzug im dreihundertfünfundzwanzigsten Stockwerk anhielt. Der Pulk ergoss sich hinaus und rannte johlend durch den Flur, prallte jedoch beim Eingang auf den «Maître d’» des City View Restaurants, der ihnen klarmachte, dass sie ohne Krawatte und mit Bierdosen nicht eingelassen würden. Die Gruppe hatte nicht vor, es dabei zu belassen, und umzingelte den Maître d’, der ruhig blieb und Prynne zunickte, als sie und Naomi vorbeigingen. Naomi schaute durch die Glastür ins Restaurant. Es war noch vor halb zehn Uhr morgens, und doch saßen schon jede Menge Leute an den Tischen, versteckt hinter Zeitungen oder gelangweilt in ihren Tassen rührend. Niemand schien sich für die unbezahlbare Aussicht zu interessieren. Sie selbst sah vom Flur aus auch nichts durch die Außenfenster, ausgenommen das strahlende Blau des Himmels. Ein Streifen tieferes Blau ließ das Meer erahnen, aber es konnte auch eine Verfärbung der Fenster sein. Viel Zeit bekam sie nicht, das Restaurant zu bestaunen. Sie bogen links in einen Flur ein, aus dem ihnen sechs Männer mit gezückten Schlagstöcken und einem C2 auf der Uniform entgegengelaufen kamen.
«Bin gespannt, ob das Gesindel gleich auch noch so viel Spaß hat», sagte Prynne mit einem dünnen Lächeln. Sie bogen abermals nach links ab, bis sie vor einem zweiten Fahrstuhl standen.
Prynne legte ihre Hand auf eine Metallplatte in der Wand, und der Lift öffnete sich. Danach tippte sie eine Zahlenkombination ein, und der Buchstabe A flackerte grünlich auf dem Bildschirm.
«Gibt es keinen direkten Fahrstuhl von unten nach oben?», fragte Naomi.
«Doch», sagte Prynne, «aber der ist exklusiv für Abraham Babel.»
Auf dem kleinen Monitor folgten die Zahlen einander im Eiltempo: 326. 327. 328.
«Wer wohnt auf diesen Etagen?»
«Niemand.»
«Niemand?»
«Planst du, dich hier einzumieten?»
Der Fahrstuhl stoppte. Die Türen öffneten sich von selbst, aber der Ausgang wurde von einem großen Spiegel blockiert. Naomi sah sich in der neuen Kleidung, die zu ihrem zeitweiligen A-Dienstrang gehörte. Sie trug einen schwarzen Rock bis genau über die Knie, weiße Socken und weiße Filzschuhe. Im Gegensatz zu Frau Prynne, einem Muster der Restaurierungskunst, trug sie kein Make-up. Ihr dickes schwarzes Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, der neben ihrem Hals über das weiße Baumwollshirt fiel und das rote A auf ihrer rechten Brust fast bedeckte.
Ihre Finger glitten kurz über dieses A. Frau Prynne hatte ihr klargemacht, dass sie sich keine Illusionen zu machen brauche. Sie sei lediglich eine Vertretung und tue gut daran zu begreifen, dass sie jeden Moment wieder bei ihren Sub-Kolleginnen landen konnte. Je weniger sie ihren zeitweiligen Status missbrauche, desto weniger Problemen sei sie ausgesetzt, wenn sie wieder zur Putzhilfe werde.
Naomi hatte sich die Frage verkniffen, ob sie in ihrem zeitweiligen Status auch die Vorgesetzte von Frau Prynne mit «bloß» einem C war. Die A-s waren übrigens nicht der höchste Rang im Turm. Über ihnen standen unlogischerweise die B-s. Von B wie Babel. Nur sie gelangten in Abraham Babels Nähe.
Sie merkte, dass Frau Prynne sie beobachtete, und zog ihre Hand zurück.
«Knöpf dein Shirt zu.»
Naomi tat, was ihr befohlen war.
«Wie schade», tönte eine Stimme über ihnen. «Ich hätte gern etwas mehr gesehen.»
«Lass uns herein, Hans», sagte Prynne. «Wir haben zu arbeiten.»
Die Stimme fragte nach den Identifikationsdaten.
«Du weißt, wer ich bin», sagte Prynne.
«Das tut nichts zur Sache.»
Prynne seufzte.
«Bei jedem neuen Dienstmädchen immer dieselbe Routine. Du glaubst doch nicht, dass das sie beeindruckt, Hans? Diese Mädchen haben in ihrem kurzen Leben schon mehr gesehen und mehr ignoriert, als du ihnen bieten kannst.»
«Die Identifikation bitte», sagte die Stimme.
Prynne drückte ihre Hand auf die Metallplatte an der Spiegelwand. Ein grünes Licht leuchtete auf.




