Babel

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«Jetzt unsere neue A», sagte die Stimme.
Naomi folgte Prynnes Beispiel. Das Metall fühlte sich kalt an. Das Licht wurde rot.
«Und jetzt?», sagte Prynne. «Soll ich hier bis ans Ende der Zeiten stehen bleiben?»
«Keine Panik, Frau Prynne, das kann für Sie nicht mehr so lange dauern», sagte die Stimme.
Der Spiegel schob sich zur Seite, und fünf Männer in schwarzen Maßanzügen kamen auf sie zu. Naomi wurde gebeten, die Arme in die Höhe zu strecken, und wurde dann professionell abgetastet. Frau Prynne tippte ungeduldig mit ihren manikürten Nägeln gegen die Fahrstuhlwand. Einer der Männer, blond und breit und mit einer von seiner linken Schläfe bis zu seinem Mundwinkel verlaufenden Narbe, drehte sich zu ihr um.
«Sparen Sie sich dieses Gehabe, Frau Prynne. Ich tue meine Arbeit. Und Sie sollten das besser auch tun. Ich habe keine Formulare im Zusammenhang mit einer neuen Putzhilfe erhalten.»
«Sie ist eine zeitweilige Vertretung. Sie kommt aus dem Waisenhaus. Sie wurde gründlich durchleuchtet. Sie ist clean.»
«Behaupten Sie.»
«Willst du lieber selbst die Zimmer putzen, Hans?»
Sie starrten sich gegenseitig an.
«Also gut. Heute kann sie so hinein, aber bis morgen will ich alle Papiere auf meinem Schreibtisch haben, sonst wandert sie zurück nach unten.»
«Das werden wir ja sehen», sagte Prynne und schob Naomi weiter durch einen Metalldetektor und das Zimmer der Wachleute.
Da ging sie also, hinein in das höchste, teuerste, exklusivste Apartment der Welt. Nicht, dass sie viel von dem Luxus bemerkt hätte, denn die Flure, durch die Prynne sie führte, waren für das Personal gedacht und nicht für die Bewohner. Die Flure waren zwar nicht kahl und giftgrün wie unten, sondern breit und warm mit indirekter Beleuchtung und Drucken an den Wänden – es waren immerhin die Räumlichkeiten Babels –, aber dennoch lediglich Flure, die genau wie die Wasserleitungen oder die Strom- und Glasfaserkabel hinter dem wirklichen Leben in den Apartments entlangführten.
Prynne lotste sie in ein großes Zimmer, das nach Lavendel roch. Hier standen die Putzmittel, alle säuberlich angeordnet und etikettiert. Frau Prynne schnurrte die Etiketten herunter: B für Badezimmer, O für Orangerie, G2 für das zweite Gästezimmer, F3 für Flur drei, By für den Byzantinischen Saal und so weiter. Es war nicht sonderlich schwer. Im Zweifelsfall konnte sie die Räume immer auf dem Etagenplan finden, der an der Wand hing.
«Wo sind wir jetzt?», fragte Naomi.
«Hier.» Frau Prynne bohrte ihren spitzen Fingernagel in eines der kleinen Quadrate auf dem Plan.
«Ist dieses Apartment so groß, dass es einen Plan dafür braucht?»
Die kalten Lippen von Frau Prynne kräuselten sich zu einem Lächeln.
«Komm», sagte sie bloß, und wieder folgte Naomi ihr wie ein Hündchen. Etwa dreißig Meter weiter stieß Frau Prynne eine Tür auf.
«Nach dir.»
Naomi lugte in das Zimmer. Das Flurlicht drang lediglich einige Meter in den Raum hinein, und das Einzige, was Naomi dort sehen konnte, war ihr eigener zögerlicher Schatten auf den kleinen blauen Fliesen zu ihren Füßen.
«Los, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.»
Was war das für ein Geruch? Ihre Hände suchten vergeblich nach einem Lichtschalter.
Prynne klatschte in die Hände, und das Licht sprang an.
«Oh», sagte Naomi.
«Olympische Dimensionen natürlich», sagte Frau Prynne. «Nicht, dass hier jemals Wettkämpfe stattfinden würden, aber auch hier gilt das Prinzip: Wenn schon, dann lieber gleich anständig.»
Naomi erkannte den Geruch von Chlor. Sie stand am Rand eines immensen Schwimmbeckens. Sie schaute zu Frau Prynne, die sich keine Mühe gab zu verbergen, wie sehr sie Naomis Verwunderung genoss.
«Was willst du wissen? Wieso eine Schwimmhalle von diesen Ausmaßen wie selbstverständlich an der Spitze des höchsten Gebäudes der Welt zu finden ist? Ganz simpel, Mädchen. Mit Geld kann man alles. Hast du irgendeine Vorstellung, wie viel diese abertausend Liter Wasser wiegen?»
Naomi ging um das Schwimmbecken herum. Bei jedem Schritt, den sie machte, leuchteten nicht nur an den Wänden, sondern auch unten im Wasser Lichtspots auf. Der Boden war mit goldenen Mosaiken ausgelegt. Durch die Lichtwellen hindurch sah sie, wie schwarze Wale Schiffe verschlangen, und ein hölzernes Hausboot, durch dessen Dach Elefantenrüssel und Giraffenhälse ragten.
Noch außergewöhnlicher als die Ausmaße war die Leere der Schwimmhalle. Keine halbstarken Jungs, keine schreienden Babys und keine alten Frauen mit beblümten, an verdorrte Brautsträuße erinnernden Badekappen, wie sie jedes Schwimmbad bevölkerten. Hier war alles Ruhe, Luxus und Überfluss.
Naomi tauchte ihre Hand in das Wasser. Lichtkräusel wogten über die Wände. Wie wunderbar musste es sein, sich hier hineingleiten zu lassen, nicht in ein Wasser, das an diesem Tag schon von Hunderten anderen benutzt worden war, sondern in ein jungfräuliches Nass, über dem einem nahezu sichtbaren Jungfernhäutchen gleich die Stille schwebte.
«Du putzt das hier, sobald du mit den Badezimmern fertig bist. Schau auf den Zeitplan. Du beginnst keine Minute früher und keine Minute später, verstanden?»
Naomi nickte. Sie gingen zurück in den Flur.
Frau Prynne klatschte zweimal in die Hände, und alle Lichter gingen aus.
Naomis erste Aufgabe war das Putzen der Bäder in den Gästezimmern. Jedes einzelne davon war größer als der Schlafsaal der Subs. Goldgerahmte Spiegel zierten die Marmorwände. Die Schränke waren aus unbekannten Holzarten gefertigt, die Handtücher so dick und weich, dass man darin versank. Die Badewanne war eine Riesenmuschel aus Marmor.
«Du hast genau achtzig Minuten pro Badezimmer. Es sind insgesamt fünf, also du weißt, was du zu tun hast. Wenn du fertig bist, gehst du zur Schwimmhalle. Die brauchst du heute lediglich zu wischen. Du hast eine halbe Stunde, was mehr als ausreichend ist. Wenn du fertig bist, verstaust du die Putzsachen und kehrst zum Aufzug zurück. Hans wird Schwierigkeiten machen, dich zuletzt aber doch hinauslassen. Morgen früh wartest du um halb neun unten bei den Aufzügen auf die A-Mannschaft. Sie werden dich mit nach oben nehmen. Hast du noch Fragen? Dann steh nicht herum wie ein Ölgötze, sondern fang an!»
Nichts war schmutzig. Da war nicht ein Fleck auf den Spiegeln, nicht ein Streifen in den Waschbecken. Naomi legte sich auf den Boden des Badezimmers, presste eine Wange auf die Fliesen, sodass sie jede Unebenheit auf dem Fußboden bemerkt hätte, und immer noch sah sie nirgendwo eine Fluse oder ein Stäubchen.
Sie knotete ihre Schuhe auf und kroch barfuß in die Riesenmuschel. Der Marmor fühlte sich kühl an. Sie schrubbte, nicht weil sie plötzlich von Menschen hinterlassene Spuren gefunden hätte, sondern weil sie davon ausging, dass Prynne sie kontrollieren würde. Ihr wurde heiß. Sie zog ihr Shirt aus und hängte es auf einen Handtuchhalter. Nach einer halben Stunde war sie mit dem Badezimmer fertig. Fünfzig Minuten zu früh.
Sie betrachtete sich im Spiegel. Sie zog die Lippen hoch, klapperte mit den Zähnen und bedachte sich selbst mit einem Augenzwinkern. Naomi. Mitten im Turm von Babel.
Im Spiegel sah sie, wie sich die Türklinke bewegte. Die Tür ging auf. Es war nicht Prynne.
«Warum solche Angst?»
Lichtenstern glitt ins Zimmer, setzte sich auf die Marmorplatte des Waschtischs und besah sich im Spiegel.
«Ich bin ordentlich rasiert. Von meinen Zähnen tropft kein Blut. Ich sehe nicht ein, weshalb du dich erschrecken solltest.»
Er musterte sich weiter im Spiegel.
«Oder ist dieser Anzug zu förmlich? Besonders, wenn ich sehe, wie bequem du gekleidet bist.»
Über seine Schulter hinweg sah sie sich selbst im Spiegel, ohne Shirt, nur mit BH. Sie legte die Hand über ihre Brüste.
«Komm, nicht so bescheiden. Wie heißt es in der Bibel? Ein Mensch darf seine Talente nicht begraben.»
«Was kann ich für Sie tun, Herr Lichtenstern?»
«Setz dich. Du machst mich nervös mit diesem Blick wie von einem in die Enge getriebenen Stück Wild. Ich tue dir nichts. Ich brauche eine Frau nicht zu zwingen. Die Arbeitnehmerinnen von Babel stehen Schlange, um mir jede Annehmlichkeit zu bieten.»
«Dann würde ich sie nicht länger warten lassen», sagte Naomi.
Seine Augenbraue wanderte in die Höhe.
«Möchtest du denn nicht von dieser einmaligen Gelegenheit profitieren? Du brauchst keine Angst zu haben, Prynne könnte hier jeden Moment eindringen. Wir werden von niemandem gestört werden. Du kannst so laut schreien, wie du willst.»
Er fuhr sich mit beiden Zeigefingern über die Lippen.
«Nicht zu trocken. Nicht zu feucht. Genau richtig.»
Er drehte sich vom Spiegel weg und schaute sie an. Den einen Arm noch immer vor ihren Brüsten, machte sie einen Schritt zurück, bis ihr Rücken die Badezimmerwand berührte. Mit ihrer freien Hand griff sie nach der Handbrause.
«Was hast du vor? Mich nass sprühen, bis ich schmelze?»
«Ich muss weiter mit meiner Arbeit, Herr Lichtenstern.»
Er kam auf sie zu. Der Duschkopf in ihrer Hand zitterte.
«Findest du mich denn nicht anziehend, Naomi? Nein? Du brichst mir das Herz.»
Er grinste.
«Etwas mehr Dankbarkeit hatte ich schon erwartet. Ohne mich wärst du gar nicht hier! Zugegeben, dieser Putzjob ist nur vorübergehend, aber wenn du freundlich zu mir bist, könnte ich für eine dauerhafte Beförderung sorgen. Nicht sofort als A natürlich. Aber alles ist besser, als eine Sub zu bleiben, nicht?»
«Mir gefällt es dort ausgezeichnet», sagte Naomi.
«Findest du mich so abstoßend? Was für ein Schlag für mein Ego! Oder willst du irgendeinem pickligen Teenager treu bleiben, der draußen auf dich wartet? Nein, da ist niemand, ich spüre es. Magst du keine Männer, Naomi? Hast du andere Interessen? Ich denke nicht. Aber du hast Angst vor uns. Warum? Schlechte Erfahrungen?»
Er stand jetzt am Rand der Badewannenmuschel.
«Ich könnte dir sagen, dass nicht alle Männer gleich sind, aber aus meinem Mund würde sich das merkwürdig anhören. Ich weiß, was über mich gesagt wird.»
«Alles gelogen natürlich», sagte Naomi.
«Nicht alles.»
Er setzte sich auf den Rand der Muschel.
«Weißt du, was das Problem ist? Frauen finden, dass ich zu schnell vorgehe. Ich bin genau wie du, Naomi. Direkt. Frauen wollen das nicht. Obwohl ich ihnen damit einen großen Dienst erweise. Ich verzichte gern auf diese ersten Dates, die Verabredungen zum Essen oder fürs Kino, und erst recht auf die langen Gespräche, um sich gegenseitig besser kennenzulernen. Ich gönne Frauen die nötige Distanz. Sie können sein, wer sie sein wollen. Tausende von Frauenrollen können sie annehmen, die eine noch mysteriöser als die andere. Aber nein, mit jeder Frage nach meiner Lieblingsfarbe, mit jedem Aufstoßen ihrer unverdauten Vergangenheit, mit jeder schlechten Erfahrung im Job und mit jeder zutiefst persönlichen Meinung, die sie mit dem Rest der Weltbevölkerung teilen, schrumpfen sie, bis sie weiter nichts mehr sind als ein banales Stück Fleisch, aus dem sich sämtlicher Biss und Geschmack verflüchtigt hat. Ich gebe ihnen Unmengen an Gold und Glamour, und sie geben mir Nachbarschaftsstreitigkeiten und verschlissenes Bettzeug. Das ist kein fairer Tausch.»
Er streckte seine Hand nach ihr aus.
«Bist du eine von ihnen, Naomi? Will du mich auch mit deinen trivialen Träumen und deiner tristen Vergangenheit langweilen? Oder willst du im Hier und Jetzt leben? Den Augenblick genießen, der sich uns bietet?»
Sie berührte seine ausgestreckte Hand nicht.
«Hat diese Ansprache jemals funktioniert?», fragte sie ihn.
Er ließ seine Hand sinken.
«Öfter, als du dir vielleicht vorstellst.»
Er betrachtete seine Fingernägel.
«Du kannst die Brause ruhig zurückhängen. Es muss anstrengend sein, das Ding so lange zu umklammern. Und deinen anderen Arm darfst du auch sinken lassen.»
Naomi bewegte sich nicht.
«Auch gut. Misstrauen über allem.»
Er stand auf und entfernte sich. An der Badezimmertür drehte er sich um.
«Was erwartest du vom Leben, Naomi?»
«In Ruhe gelassen zu werden.»
Er lachte.
«Ein unmöglicher Wunsch. Das Leben lässt einen nicht in Ruhe. Es ist ein wilder Ritt, aus dem man nur auf eine Weise aussteigen kann, und die ist wiederum zu ruhig, selbst für dich.»
«Ich liebe die Ruhe.»
«Dann darfst du aber nicht so aussehen, wie du aussiehst, und nicht so aus den Augen schauen, wie du es tust.»
«Wie denn?»
«Schlummernd. Wie ein Vulkan oder ein Selbstmordterrorist auf dem Weg zu seinem Ziel. Oder wie eine Frau, kurz bevor sie sich über ihre letzten Bedenken hinwegsetzt.»
«Ich bin nichts von alledem.»
«Schade. Das war ein interessantes Gespräch, Naomi. Das Resultat war zwar nicht das, was ich mir erhofft hatte, aber ich freue mich auf unsere nächste Begegnung.»
Die Tür fiel ins Schloss.
Sie wartete eine Viertelstunde, öffnete dann vorsichtig die Badezimmertür und schaute hinaus in den Flur. Alles war ruhig. Keine Prynne und kein Lichtenstern zu sehen. Sie schlich hinaus, und keine maskierten Wachleute kamen auf sie zu gerannt. Vor einer der Türen blieb sie stehen und drückte auf die Klinke. Die Tür war nicht abgeschlossen. Leise schob sie sie einen Spaltbreit auf. Ein weißes Licht fiel auf den Flur. Es dauerte etwas, bis ihr bewusst wurde, was sie sah, und dann trat sie fasziniert in das Zimmer.

Sobald die Frau auftauchte, schwoll die Panik an. Alice wusste, was passieren würde. Sie wollte ihren Vater warnen, aber die Angst ließ sie gefrieren. Sie konnte sie alle retten. Sie brauchte nur ihre Hand auf seinen Arm zu legen, mehr nicht. Aber sie war erstarrt. Gelähmt. Sie wollte schreien, aber ihre Kiefer klemmten.
Sie sah, wie die Frau mit dem Kind in den Armen auf das Auto zukam, wie ihr Vater das Fenster hinunterließ und wie Großvater eine Warnung schrie. Ihr blieb genügend Zeit, alle noch ein letztes Mal anzusehen – die erstaunten Gesichter ihrer Mutter und Großmutter, als sich der Mantel der Frau öffnete. Danach weckte der Lärm der Explosion sie auf, so wie fast jeden Tag.
Meistens war sie erleichtert, wenn sie die vertraute Umgebung wiedererkannte. Aber heute fühlte sich das Zimmer fremd an. Bestimmt kam es daher, weil ihre Routine durcheinandergebracht war. An anderen Tagen blieb ihr morgens kaum Zeit, den letzten Zipfel ihres Croissants hinunterzuwürgen, bevor Betty und Anika bereitstanden, um sie zu waschen, schnellschnell, denn jeden Augenblick konnte die alte Frau Holtby mit einer neuen Ladung Unterrichtsstoff ins Zimmer treten, noch bevor Bert und Leonard sie für ihre Übungen holen kamen.
Aber Frau Holtby war krank. Das hatte sie gestern von einer überarbeiteten Anika vernommen, die nicht wusste, wo ihr der Kopf stand, nachdem die Grippe jetzt auch Betty und den Großteil des A-Personals niedergestreckt hatte. Keinen Unterricht? Das musste sie ausnutzen. Sie würde den ganzen Morgen im Bett bleiben.
Ihr Blick folgte einem dünnen Sonnenstrahl, der durch die Vorhänge gedrungen war und jetzt über das Parkett kroch; ein goldener Finger aus Licht und tanzendem Staub.
Die Routine, die sie wie eine eiserne Lunge umschloss, war das Werk ihres Großvaters. Er wollte vermeiden, dass sie in düstere Gedanken verfiel. Als ob die sich zurückhalten ließen. Sie war gefangen in ihrem Körper, einem Klumpen Fleisch, der von anderen gewaschen und angekleidet werden musste.
Alle taten so, als ob sie noch eine Zukunft hätte. Holtby bereitete sie auf die Universität vor. Dachten sie denn wirklich, sie käme mitsamt ihrem Bett in den Hörsaal gefahren? Auf beiden Füßen oder gar nicht, Großvater!
Ja, ihren Großvater, den hatte sie noch. Sein Geld und seine Liebe hielten sie am Leben – und seine Trauer, die auch die ihre war und über die sie nie sprachen. Er war der letzte Faden, mit dem sie noch am Leben hing. Wenn er verschwand, dann würde sie zusammen mit dem herrenlosen Müll in den gleichgültigen Straßen verwehen. Er war der Grund, weshalb sie nicht aufgab, weshalb sie sich zusammen mit Holtby über die Broschüren der verschiedenen Universitäten beugte und Tag für Tag die Physiotherapeuten an ihrem Leib herummurksen ließ.
Aber heute genügte auch er nicht, um weiterzumachen. Sie hätte umkommen sollen, zusammen mit ihren Eltern. Dieses Leben war ein Aufschub. Die Monate der Rehabilitation, die Operationen, die Routine, der Anschein von Normalität, es war nichts mehr als Wassertreten. Es wurde Zeit, dass sie der Wahrheit ins Auge blickte.
Ihre Finger glitten über das Kontrollpanel auf der rechten Seite ihres Betts, und die Vorhänge schoben sich zur Seite. Die bleichen Gebeine des gigantischen Walskeletts, das die Hälfte des Zimmers füllte, schimmerten im Sonnenlicht. Wurde es nicht Zeit, dass sie es irgendeinem Museum schenkte? Es war eine Laune gewesen, und wie alle Launen hatte es seine Magie verloren, nachdem ihr stattgegeben worden war. Es stand im Weg und es irritierte Anika. Sie fuhr das Bett dorthin, bis sie wie ein fauler Jona im Bauch des Walfischs lag. Könnte er sie nur bis in die eiskalten Polarmeere mitnehmen, wo seltsame, fluoreszierende Wesen zur Seite hin wegschossen, während er bis zum Boden tauchte!
Es war ein Trost zu wissen, dass irgendwo auf der Welt derartige magische Wesen existierten, auch wenn sie sie nie mit eigenen Augen würde sehen können.
Nein, sie würde das Skelett noch eine Weile stehen lassen.
Sie fuhr weiter bis zu den Fenstern und blickte über die Stadt. Wenn man Großvater glauben konnte, dann war das da draußen ein Dschungel.
Sie sah kein Grün. Es war ein Wald aus Wolkenkratzern mit Hubschraubern wie exotischen Libellen und ganz unten im Schatten der Gebäude einem unablässigen Strom von Ameisen in sämtlichen Farben.
Babel war der Waldriese. Die anderen Bauten zitterten in seinem Schatten. Sie und ihr Bett befanden sich an der höchsten Stelle in dieser Stadt. Ihr Haar würde niemals den Fuß des Turmes berühren, und wenn sie es tausend Jahre hindurch wachsen ließ.
Falls überhaupt ein Prinz dort unten auf sie wartete – und mit einem, der sich mit einer gelähmten Prinzessin zufriedengab, wäre es wohl auch nicht weit her –, dann würde sie ihn nicht einmal sehen, denn aus dieser Höhe konnte man kaum eine Bewegung am Boden unterscheiden. Für die Bewohner des Turms war das ein Bonus. Sie brauchten den schlechten Atem und den Schweiß des Pöbels nicht zu riechen, die lahmenden Beine, die fingerlosen Hände, die Geschwüre und Beulen, die billige synthetische Kleidung, die Löcher in ihren Hosen und ihren Seelen nicht zu sehen. Die Apartments des Turms waren nicht deshalb begehrt, weil man näher bei den Göttern wohnte, sondern lediglich weiter weg von den anderen war, die das Unglück besaßen, nicht in Babel zu residieren.
Alice hätte mit jedem von ihnen tauschen mögen, sämtliche Beulen eingeschlossen. Die Eigentümer der Beine, die dort durch die Straßen gingen, machten sich nicht klar, wie glücklich sie waren.
Sie fuhr das Bett zurück zur Wand. Sie brauchte die Stadt nicht zu sehen. Der Glanz des Meeres in der Ferne genügte ihr. Von hier aus konnte man beobachten, dass der Horizont keine gerade Linie, sondern ein Bogen war. Die Erde war nicht flach, was immer die alten Bücher auch behaupteten. Kein Wunder, dass die religiösen Irren den Turm weghaben wollten. Er kratzte an ihrem Weltbild.
Ein Vogel schoss vor das Fenster. Ein Schatten, ein Bündel Federn, ein Auge, ein Schnabel; dann war er wieder weg. Sie sah ihn etwas weiter entfernt mühelos auf dem Wind gleiten. Die launischen Böen zwischen den Wolkenkratzern kümmerten ihn nicht. Er war eines der vielen wilden Tiere, die immer öfter in der Stadt auftauchten. Wohin sollten sie sonst, nachdem die Stadt die Natur verdrängt hatte? Hasen und Wildschweine suchten genau wie die anderen Wohnungslosen ihr Heil in den Straßen, Hirsche kauten an Müllsäcken, Füchse stritten sich mit zahnlosen Alkoholkranken um irgendwelche Hühnerknochenreste, Falken lebten von den verwilderten Tauben, Dachse gruben sich Burgen in Abwasserkanäle, und die Wölfe hatten schon bald gelernt, aufrecht zu gehen.
Der Vogel schwebte da immer noch. Sie wusste nicht, wie er das machte, aber plötzlich stand er still, eine Stecknadel in diesem blauen Himmel. Sie hielt den Atem an. Sie hätte ihn gern so festgehalten, reglos, die Nabe des Himmels. Solange er dort hing, stand die Zeit still.
Er blieb hängen, bis sie blinzeln musste und ein Zittern ihn durchfuhr. Er tauchte, riss einen Streif in den Himmel, und die Stadt kam in Bewegung. Autos schossen vorwärts, Lichter sprangen an, und irgendwo tief unten erklang der Schrei eines Hasen in Todesangst.
Da erst bemerkte sie das Mädchen, das in ihrem Zimmer stand. Es war unmöglich, dass eine Unbekannte bis in ihr Zimmer vordrang. Sie wurde besser bewacht als das Gold in der Nationalbank. Aber egal ob unmöglich oder nicht, da stand dennoch ein Mädchen, und außerdem auch noch in einem weißen BH, und starrte nach draußen, wo ihr die Stadt in all ihrer Herrlichkeit zu Füßen lag.
Das Mädchen hatte sie eindeutig noch nicht bemerkt, so fasziniert war sie von der Aussicht.
Alice griff nach dem Kontrollpanel, bereit, den Wachdienst zu alarmieren.
«Wie gefällt dir der Ausblick?», fragte sie.
Das Mädchen erschrak und drehte sich um.
«Kommst du, um mich umzubringen?»
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
«Schön. Damit wäre das schon mal abgehakt.»
Das Mädchen schien etwas älter als sie selbst zu sein. Ihr langer, schwarzer Zopf lag ihr wie eine Schlange im Nacken.
«Was hast du hier zu suchen?»
Es klang unfreundlicher, als sie es beabsichtigt hatte. Sie wusste, was das Mädchen hier tat. Der Schwamm in ihrer Hand verriet einiges. Die Grippeepidemie erklärte den Rest. Dieses Mädchen war die Vertretung der Putzhilfe. Darauf hätte sie auch sofort kommen können, aber in ihrer Überraschung hatte sie nicht nachgedacht. Sie hatte keine Ahnung, warum das Mädchen hier in ihrem BH herumlief, aber vielleicht konnte Hans ihr das erklären. Er hatte so seine eigenen Methoden, das weibliche Personal zu kontrollieren. Wahrscheinlich war sie, des Putzens überdrüssig, auf Erkundung ausgegangen. Welches Mädchen konnte einer geschlossenen Tür widerstehen? Aber schlau war es nicht. Prynne war recht unsanft zu Personal, das Eigeninitiativen entwickelte.
«Wolltest du einmal aus dem Fenster schauen?»
«Es tut mir leid», sagte das Mädchen. «Ich bin neu hier. Würden Sie bitte niemandem sagen, dass ich hier war, Frau …?»
Frau! Das war der Gipfel.
«Wie heißt du?»
«Naomi.»
Keine unnütze Anrede diesmal.
«Leg den Schwamm auf den Boden und hilf mir, mich hinzusetzen.»
Das Mädchen zog sie an den Armen nach vorn und schob ihr ein Kissen hinter den Rücken. Sie roch nach Lavendel.
«Wie gefällt dir die Aussicht?», fragte sie.
Genau in diesem Moment schoben sich dicke Wolken vor die Sonne. Ein goldener Balken spielte über der Stadt, ein Laser Gottes auf der Suche nach dem letzten Rechtschaffenen.
«Ich weiß es nicht», sagte das Mädchen.
«Du weißt es nicht?», fragte Alice. «Dann bist du die Erste. Hier ist noch nie jemand gewesen, der nicht sofort von der Aussicht angefangen hätte. Alle finden sie unbezahlbar. Diese Idioten. Natürlich ist sie bezahlbar. Woher sonst sollte Großvater sein Geld nehmen?» Sie redete zu viel, sie hörte es selbst. Das Mädchen starrte sie an.
«Was denkst du?»
«Es ist hoch», sagte das Mädchen.
«Nein, im Ernst? Du befindest dich an der Spitze der Welt, und alles, was dir dazu einfällt, ist, dass es hoch ist? Niemand auf der ganzen Welt befindet sich höher als wir. Ausgenommen natürlich die Passagiere in Flugzeugen.»
«Und Gott», sagte das Mädchen.
Da lag sie also und bekam ungebeten Gott ins Gesicht geschleudert. Sie wusste nicht, warum, aber diese Naomi irritierte sie. Sie gab sich nur wenig Mühe, sich zu entschuldigen, dass sie hier ungebeten stand, sie schämte sich nicht für die Tatsache, dass sie in ihrer Unterwäsche herumlief, sie war nicht beeindruckt von der Aussicht oder von der Situation und noch am wenigsten von dem armen, gelähmten Mädchen in dem Bett. War ihr denn nicht klar, dass Alice sie stehenden Fußes entlassen konnte? Sie brauchte nur mit den Fingern zu schnippen! Es wurde Zeit, dass jemand sie in ihre Schranken wies.





