Babel

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«Würdest du mir einen Gefallen tun, Naomi? Es juckt mich so am Fuß. Würdest du mich da kratzen?»
«Was?»
Sie zeigte auf die Stelle unter ihrer Bettdecke, wo sich ihre Füße befinden mussten.
«Mich juckt es am Fuß.»
Das Mädchen schaute sie an. Wenn Blicke töten könnten!
«Na los. Heb die Decke hoch.»
«Welcher Fuß ist es?»
«Kratz mich einfach an beiden.»
Naomi hob ihren linken Fuß hoch.
«Ist das gut so?»
«Fester», sagte Alice.
«Ist es so besser?»
«Fester!», rief Alice.
Sie betrachtete diesen störrischen Mund, diese Rehaugen, die vor Wut loderten. Ach, dieses Wesen hasste sie, das war klar. Wie schnell waren sie von zwei Mädchen in einem zu großen Zimmer zur Herrin und Dienerin hinabgesunken. Sie hat recht, wenn sie mich hasst, dachte Alice, und ich habe recht, wenn ich sie vor mir knien lasse. Sie hat ihren Gott, aber ich habe das Geld.
Dann ließ das Mädchen ihren Fuß fallen.
«Was ist?», fragte sie.
Naomi hatte Blut an den Händen. Sie hatte so fest gekratzt, dass sie die Haut der Fußsohle verletzt hatte. Das war nicht unnormal, ihre Haut dort war dünn wie Papier. Aber das konnte das Mädchen nicht wissen.
Sie drückte das Bettlaken gegen Alices Fußsohle, und das Blut färbte es sofort rot.
«Es hört nicht auf!»
Sie konnte Naomi beichten, dass sie ohnehin nichts davon spürte, dass sie es noch nicht einmal bemerken würde, wenn ihre Unterschenkel in Flammen stünden. Sie konnte Naomi beruhigen. Aber sie tat es nicht. Sie wusste selbst nicht, was in sie gefahren war.
«Leck es auf», sagte sie.
«Was?»
«Das Blut. Leck es auf!», sagte sie.
Nie im Leben würde sie erklären können, warum sie das verlangte. Warum wollte sie das Mädchen so demütigen? Was hatte die Kleine ihr angetan? Aber Naomi nahm ihren Fuß schon in beide Hände und ließ ohne Flehen oder sonstige Bemerkungen ihre Zunge über die Fußsohle gleiten.
Ein Schock durchfuhr Alice. Es war ein elektrischer Strom, der ihr Rückgrat entlangschoss und kribbelnd bis hinauf in ihre Fingerspitzen, bis in die Dunkelheit unter ihrem Schädel, wo sie für einen Moment kleine Sterne davonsausen sah. Naomi leckte ihr Blut – Blut, das rote Flecken auf ihren Lippen und ihrem Kinn zurückließ, und einen Moment lang dachte sie, was für Krankheiten bekomme ich von diesem Speichel, nein, das dachte sie nicht, das dachte sie erst später, jetzt versuchte sie nur, nicht laut aufzuschreien.
«Was ist denn das hier?»
Bert und Leonard standen im Zimmer. Alice hatte sie noch nie so groß und blond gesehen. Zwei Racheengel.
Naomi ließ ihren Fuß fallen. Die Männer starrten auf das Mädchen in ihrem BH, mit Blut auf den Lippen.
«Wo ist Frau Holtby?», fragte Bert.
«Die hat die Grippe», sagte Alice.
Sie versuchte, gleichgültig dreinzuschauen, aber dieser elektrische Strom wogte noch nach. Als wäre sie bis ins Tiefste ihres Körpers berührt worden. Als hätte Naomis Gott ihr mit Seinem Finger die Eingeweide durchwühlt.
«Ich habe gerade eine der Angestellten gebeten, mir aus dem Bett zu helfen, aber offenbar bluten meine Füße. Zum Glück seid ihr hier.»
Sie bedachte das Mädchen mit einem kurzen Kopfnicken.
«Das ist alles, Naomi. Du kannst gehen.»
Das Mädchen hob den Schwamm vom Boden auf und huschte davon.
Wer ist Abraham Babel?
Woher kam Abraham Babel? Die offizielle Biografie erwähnte eine wenig auffällige Jugend in einem der Stadtviertel, in dem hauptsächlich Beamte und kleine Selbstständige wohnten. Als einziger Sohn von Rebecca und Ezra Babel trug Abraham Babel sämtliche elterlichen Erwartungen auf seinen zarten Schultern. Er hatte sich angestrengt in der Schule, musste dann aber aufgrund einer schleppenden Krankheit, die ihn von seinem siebzehnten bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr ans Bett gefesselt hielt, auf weiteren Unterricht leider verzichten. Diese drei Jahre der erzwungenen Ruhe hatten seine Gier nach dem Leben verschärft, und als er endlich genesen war, beschloss er, keine weitere Zeit auf der Schule zu vergeuden. Er ging arbeiten, zunächst als Verkäufer in einem Geschäft, das hauptsächlich Radios und später die erste Generation von Fernsehgeräten verkaufte. Von seinem ersten Geld kaufte er sich nicht – wie die anderen jungen Männer seiner Umgebung – einen imposanten Buick, sondern Aktien einer großen Elektronikfirma. Nach dem plötzlichen Tod seiner Eltern beschloss er, das elterliche Haus zu vermieten, und landete so fast zufällig im Immobiliensektor, dem er später einen Großteil seines Vermögens zu verdanken haben sollte. Mit dreißig besaß er nicht nur drei Mietshäuser, sondern auch ein interessantes Aktienportefeuille. Nicht schlecht für jemanden, der mit so wenig angefangen hatte. Ein anderer Mann hätte ruhig den einmal eingeschlagenen Weg weiterverfolgt, aber Babel verkaufte seine Häuser und nahm einen großen Kredit auf, um damit ein paar verfallene Gebäude in Hafennähe aufzukaufen. Irgendwann einmal war von einer Hafenerweiterung die Rede gewesen, aber die meisten Spekulanten, die für zu viel Geld die alten Fabriken und bodenverseuchten Grundstücke in der Hoffnung aufgekauft hatten, sich an dem Projekt zu bereichern, waren nach zwanzig Jahren das Warten leid und verkauften ihr wertloses Eigentum nur zu gern an Babel. Er selbst, so ließ er verlauten, habe vor, dort ein Wohnviertel zu errichten. Alle wünschten ihm viel Erfolg. Niemand glaubte an die Zukunft eines Viertels, das mitten im kriminellen Herzen dieser Stadt lag, aber niemand fühlte sich verpflichtet, diese Zweifel mit dem naiven Babel zu teilen. Noch bevor die Vorbereitungen für das Wohnviertel starteten, beschloss ein neuer Bürgermeister, die alten, schon eingestaubten Pläne für die Hafenerweiterung wieder hervorzuholen. Kurzfristig würde das eine Stange Geld kosten, aber langfristig käme es der Stadt eindeutig zugute.
Die Spekulanten beeilten sich, ihre Vereinbarungen mit Babel aufzukündigen, aber die Verträge waren unterzeichnet, und nach all den Jahren fruchtlosen Wartens mussten sie zusehen, wie ein anderer ihre Gewinne einstrich. Sie setzten Himmel und Hölle in Bewegung, aber zu spät. Mit einem Schlag war Babel nicht mehr der armselige Besitzer einiger Häuser in den Außenvierteln, sondern ein wichtiger Player auf dem Immobilienmarkt. Wie Babel es einmal in einem Interview beschrieb: Er fühlte sich für sein soziales Engagement belohnt. Aus dem Wohnviertel würde zwar nichts mehr werden, aber es gebe andere Orte und andere Projekte, an denen er seine Menschenliebe ausleben könne. Die Tatsache, dass er mit einem Schlag zum Millionär geworden sei, habe nichts mit pfiffigen Entscheidungen oder Glück zu tun, nein, der Finger Gottes habe ihm gezeigt, welche Richtung er mit seinem Leben einschlagen sollte, und er, Babel, werde die Talente, die er besaß, nicht einfach begraben.
So weit die offiziellen Biografien. Die übrigens reißenden Absatz fanden. Wer wollte schließlich nicht von einem Burschen lesen, der durch harte Arbeit und kluge Investitionen zu einem der großen Akteure dieser Stadt aufgestiegen war? Babel war der fleischgewordene kapitalistische Traum. Und die Verlockung des Traums war simpel: Wenn er es fertiggebracht hatte, dann konnten sie es auch. Dass er sein Glück in religiöse Begrifflichkeiten übersetzte, damit konnten sie leben. Auch sie hielten ja irgendwo einen Gott in der Hinterhand.
Manche Journalisten hatten ihre Mühe mit dieser geradezu filmischen Biografie und machten sich daran, in der Vergangenheit des erfolgreichen Mannes zu graben. Sie fanden keine soliden Eltern in einem der ärmeren Viertel dieser Stadt, sondern das Grab einer gewissen Rebecca Babel, einer Waschfrau und unverheirateten Mutter eines Sohnes, den sie noch vor ihrer Flucht aus Polen auf den Namen Abraham hatte taufen lassen. Schulzeugnisse des guten Schülers Abraham Babel blieben unauffindbar; stattdessen stieß man auf das Strafregister eines Gleichnamigen, der von seinem siebzehnten bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr wegen Hehlerei im Gefängnis gesessen hatte.
Es war verführerisch, in diesem kriminellen Abraham den erfolgreichen Immobilienhändler auszumachen, aber letztendlich gab es zu wenig harte Beweise, die eine unumstößliche Identifizierung ermöglicht hätten. Klarer wurde die Rolle des neuen Bürgermeisters bei der Hafenerweiterung. Nach jahrelangen Untersuchungen stellte sich heraus, dass er einer von Babels Geldgebern gewesen war, als dieser die wertlosen Häuser aufgekauft hatte. Aber zu diesem Zeitpunkt war es schon zu spät und Babel bereits zu mächtig.
Das soziale Engagement, das er angekündigt hatte, nahm recht eigenwillige Formen an. Er kaufte tatsächlich Straßenzüge in fast nicht mehr bewohnbaren Vierteln auf, in die sich weder das Gesetz noch vornehme Bürger hineinwagten, aber anstelle von besseren Häusern kamen Bulldozer, Industrieparks, Überwachungskameras und Zwangsräumungen. Der kapitalistische Traum war eindeutig nicht jedem beschieden. Mit dreißig Jahren heiratete er Anna Glück, die Tochter eines Industriellen, der genau wie Babel ein Selfmademan war. Es wurde eine Märchenhochzeit, komplett mitsamt der bösen Fee in Form der Schwester der Braut. Myriam Glück, so wurde geflüstert, war offenbar Babels erste Wahl gewesen. Bis er dahinterkam, dass sie keine Kinder bekommen konnte. Woraufhin er sein amouröses Augenmerk mühelos auf die jüngere Schwester verlagert hatte.
Es war eine Entscheidung gewesen, die Früchte abwarf. Ein Jahr später wurde Joseph Babel geboren. Dieses ganze finanzielle und häusliche Glück hatte seine Auswirkungen auf Abraham Babel. Der Herr hatte ihm so viel geschenkt. Wie konnte er seine Zukunft absichern? Wie konnte er den Herrn so weit bringen, dass Dieser ihm das Glück nicht wieder nahm?
Er beschloss, den Herrn mit Opfern zufriedenzustellen. Es hatte bei Abel funktioniert, warum also nicht auch bei Babel? Großzügige Schenkungen aller Art fanden ihren Weg in religiöse sowie wohltätige Einrichtungen. Gute Aussichten für Abraham Babel also nicht nur in diesem, sondern auch für das nächste Leben.
Fast mühelos wurde er reicher und mächtiger.
Zum ersten Missklang in dem schönen Lied kam es, als der Sohnemann einen eigenen Willen an den Tag legte und nicht in die Fußspuren seines Vaters treten wollte. Der junge Bursche interessierte sich für die Wissenschaft. Was an und für sich nicht schlimm war, solange er dabei den wichtigsten Daseinsgrund, nämlich die Anhäufung von Geld, nicht aus dem Auge verlor. Joseph Babel sprach jedoch vom Promovieren. Von Ausgrabungen. Von einer wissenschaftlichen Laufbahn.
Abraham Babel ergriff sofort Maßnahmen und drehte ihm den Geldhahn zu. Dem Jungen musste klarwerden, dass die Zeit des Spiels vorbei war. Entweder er fügte sich den Wünschen seines Vaters, oder er würde keinen Cent des von Babel angehäuften immensen Vermögens mehr zu Gesicht bekommen.
Das Unglaubliche geschah. Joseph Babel – oder Joe, wie er sich selbst mittlerweile nannte – brauchte kein Vermögen. Ebenso wenig brauchte er die Bräute, die seine Mutter für ihn aussuchte. Er hatte eine Frau kennengelernt, die seine Leidenschaft für Archäologie teilte und sich ebenso wenig wie er vom Geld blenden ließ.
Abraham Babel regte sich nicht weiter auf. Niemand verschmäht ein Leben voll ungeahntem Luxus, um irgendwo im staubigen Afrika alte Gebeine auszugraben. Er gab seinem Sohn sechs Monate Zeit, um nachzudenken und das Rebellische abzulegen. Derweil war Joe mit seiner frisch gebackenen Braut nach Afrika gezogen, wo er fünfzehn Jahre lang bleiben sollte.
In all den Jahren hatte es keinen Kontakt zwischen Vater und Sohn gegeben. Sofern es Kontakte zwischen Mutter und Sohn gab, geschah dies ohne Abrahams Mitwissen. Joe Babel bekam eine Tochter, aber auch diese freudige Nachricht vermochte die Mauer des Schweigens zwischen beiden Männern nicht einzureißen.
Es war der Herzattacke des Vaters zu verdanken, dass sie sich am Krankenbett einer Abteilung wiedertrafen, die Abraham Babel dem Krankenhaus als Schenkung vermacht hatte.
Der Anblick des Todes tut wundersame Dinge mit einem Mann. Morphium tut noch wundersamere Dinge. Babel verstand gar nicht mehr, warum er diesem fremden, sonnengebräunten Mann, der jetzt mit Tränen in den Augen an seinem Bett stand, so lange böse gewesen war. Er hatte die Hand seines Sohnes schon ergriffen und eine Art von Vergebung gemurmelt, bevor ihm wieder einfiel, dass er keinen Ungehorsam duldete. Aber da war es schon zu spät gewesen. Da hatte seine Frau sich ihrem verlorenen Sohn bereits um den Hals geschlungen. Danach hatten sie alle seine Frau kennengelernt, und fataler als alles Vorangegangene: Dann hatten sie die Perle gesehen, die am Fußende des Bettes stand und alles mit großen Augen in sich aufnahm, ihr ureigenes Enkelkind, die mysteriöse Alice, zu intelligent für ihr Alter, zu fremdartig für ihre Herkunft mit ihren blonden Haaren und blauen Augen und einem Mund wie einer Wüstenrose. Abraham und seine Frau verliebten sich auf der Stelle in sie. Von Abtretung und Abschied konnte keine Rede mehr sein. Nach all den Jahren würden sie ihrem Sohn endlich das geben, was ihm zustand. Ach, natürlich konnte er wieder nach Afrika, wenn er das wirklich wollte. Aber war er es seiner Frau und Tochter nicht schuldig, ihnen das Allerbeste zu geben? Joseph und seine Familie konnten im Babel Tower wohnen. Sie bekamen ein ganzes Stockwerk für sich allein. Sie würden doch noch etwas bleiben? Konnte der Sohn dem Vater, der gerade dem Tod ins Auge geblickt hatte, diesen Wunsch versagen? Doch gewiss nicht.
Die jungen Babels ließen sich überreden.
An dem Tag, als Abraham Babel aus dem Krankenhaus entlassen wurde, saßen sie alle zusammen in der riesigen Limousine, die sie zum Babel Tower, jenem Wunder des einundzwanzigsten Jahrhunderts, bringen würde. Endlich, dachte Babel, während er sich an sein schmerzendes Herz fasste, waren sie wieder komplett. War er wieder komplett. Er konnte einfach nicht genug bekommen von den lachenden Gesichtern, den glänzenden Augen seiner Nachkommen. Er trank die Männlichkeit seines Sohnes und die Schönheit seiner Enkelin. Er saugte ihr Leben in sich auf. Sie waren im idealen Augenblick gekommen. Seine Kräfte waren beinahe versiegt, aber sie gaben ihm neue Vitalität. Für seinen Sohn, für Alice würde er den Himmel erobern. Er hatte noch so viele Pläne.
Sie waren keine drei Straßen mehr vom Turm entfernt – die Limousine brummte ungeduldig im Stau –, als die junge Frau auf sie zukam und Joe trotz des Protests seines Vaters das Fenster herunterließ.
Anna sah die Bombe an ihrem Körper als Erste und schrie.
Babel warf sich über Alice.
Joe verstand noch immer nicht, was Sache war, als die Explosion die Limousine in Stücke zerriss. Kurz darauf fielen die Körperteile aus dem Himmel.
Joe war tot. Seine Frau war tot. Anna war tot. Alice blieb gelähmt, nachdem sie aus dem Auto geschleudert worden und mit einem Knall auf dem Beton gelandet war. Und Babel, der Mann, der schon sein ganzes Leben lang den Finger Gottes auf sich hatte lasten fühlen, kam mit einigen blauen Flecken und einem zweiten Herzanfall davon.
Seine Strafe war es, das Attentat überleben und begreifen zu müssen, was er verloren hatte.
Er zog sich zurück in seinen Turm, legte sich eine kleine Privatarmee zu und verließ kaum mehr seine gesicherte Festung. Der Einsiedler des Turms von Babel war geboren.
Aus: Babel, ein Traum von Macht, Thomas Rosen & Aziz al-Kashani
Naomi war unterwegs zu einem weiteren Badezimmer, als sie jemanden schreien hörte. Es kam aus der Schwimmhalle. Sie ließ ihr Putzzeug fallen und rannte durch die Flure. Im Schwimmbecken sah sie zwei Männer im Wasser. Es waren dieselben, die eine halbe Stunde zuvor plötzlich im Schlafzimmer von Alice Babel gestanden hatten. Einer von ihnen schlug wie wild um sich, als würden Elektroschocks seinen Körper durchzucken. Der andere Mann versuchte, ihn über Wasser zu halten. Er war es, der schrie, der Naomi bemerkte und sie anflehte, ihm zu helfen, den Mann an den Rand zu ziehen, bevor es zu spät war. Aber etwas weiter im Becken strampelte Alice Babel. Sie hielt sich noch über Wasser, konnte aber jeden Moment untergehen.
Naomi sprang in das Becken und schwamm zu dem Mädchen, das in diesem Moment ganz unter Wasser geriet. Alice schlang in Panik beide Arme um Naomis Hals. Es war eine würgende Umarmung, ein totes Gewicht, das sie nach unten zog. Naomi versuchte, sie beide über Wasser zu halten, aber sie sanken, und das Geschrei des Mannes verschwand in der Unterwasserstille.
Naomi konnte sich nicht von den Armen befreien, wie sehr sie auch zerrte. «Lass los!», rief sie. Ein Vorhang aus Luftblasen schob sich zwischen sie. Sie berührten den Boden. Einen Augenblick lang blieben sie stehen – Partnerinnen in einem zu intimen Tanz. Dann sank Alice in die Knie und zog Naomi noch weiter hinab. Naomi biss so fest sie konnte in den Arm, der sie erstickte. Alice ließ los. Naomi schoss nach oben, brach durch die Wasseroberfläche und schlang die Luft in sich hinein. Das Schwimmbad hallte immer noch von dem Geschrei des Mannes wider. Sie saugte ihre Lungen voll und tauchte wieder hinab. Alice lag auf dem Boden, die Arme ausgestreckt und die Beine gekreuzt, als läge sie auf einer Wiese und würde zum Wolkenhimmel aufschauen. Ihre Augen waren geschlossen.
Naomi fasste sie bei den Haaren und zerrte sie nach oben. Mit allerletzter Kraft erreichte sie den Rand. Sie schlang ihren Arm um Alices Taille und zog sich Zentimeter für Zentimeter weiter am Rand entlang, bis sie zu der Treppe kam.
«Leg die Arme um mich», rief sie.
Aber das Mädchen bewegte sich nicht.
Naomi schürfte sich die Knie auf, während sie Stufe um Stufe weiterkroch. Sie schleppte Alice weiter, bis sie beide am Rand des Schwimmbeckens lagen. Auf der anderen Seite vollzog sich ein gleichartiges Ringen. Der Mann schrie noch immer um Hilfe, aber Naomi sah nur das kalte, weiße Gesicht von Alice. Atmete sie noch? Sie rappelte sich hoch und beugte sich über sie, aber in diesem Moment flogen die Türen zur Schwimmhalle auf. Vier Wachleute kamen auf sie zu gerannt und schubsten sie unsanft zur Seite.
Hans kniete neben dem Mädchen und drückte auf ihren Kiefer, bis sich ihr Mund öffnete. Seine nikotingelben Finger verschwanden zwischen ihren Lippen. Ein anderer Wachmann zog Naomi auf die Füße. Noch mehr Leute kamen ins Schwimmbad gerannt und sprachen in unsichtbare Mikrofone. Schon bald war Alice in einer Gruppe breitschultriger Männer verschwunden.
Jemand legte ihr eine Hand auf die Schulter. Prynne.
«Geh in eines der Gästezimmer und bleib dort. Los, wir können hier keinen zusätzlichen Trubel gebrauchen!»
Auf der anderen Seite des Schwimmbeckens hämmerte der Mann auf die breite Brust seines Kollegen. «Leonard! Leonard!», schrie er wieder und wieder. Naomi sah noch, wie die Lippen des einen Mannes die kalten Lippen des anderen fanden, dann wurde sie von Prynne aus der Schwimmhalle geschoben.
Sie stieg gerade aus ihrem nassen Rock, als Hans ins Zimmer trat. Schnell zog sie ein Bettlaken über sich.
«Du hast nichts gesehen und nichts gehört. Was du gerade gesehen hast, ist nicht passiert. Verstanden?»
«Lebt sie noch?»
«So besorgt um deine Arbeitgeberin. Das ehrt dich. Und was dich auch ziert, ist dieses Laken. Ich an deiner Stelle würde es nicht zu eng an mich ziehen. Dein nasser Leib lässt nicht mehr viel Platz für die Fantasie. Männer mit weniger Selbstdisziplin könnten dadurch auf dumme Gedanken kommen.»
Er kam auf sie zu. Sie schrak zurück, rutschte an der Wand entlang, bis ihr ein Schränkchen den Weg versperrte. Mit ihrer freien Hand ergriff sie einen Kerzenleuchter.
«Was hast du vor? Du wirst doch nicht den Wachdienst von Babel angreifen, Mädchen?»
«Hans!»
Frau Prynne stand in der Türöffnung.
«Was ist hier los?»
«Ich habe der neuen Putzhilfe gerade erzählt, dass sie besser nicht herumposaunt, was sie gesehen hat. Aus Sicherheitsgründen», sagte Hans.
«Der Putzdienst fällt unter meine Verantwortung. Deine Verantwortung ist es zu überprüfen, warum es so lange dauern musste, bis Hilfe aufgetaucht ist. Es gibt doch keinen faulen Apfel im Korb, Hans?»
«Ich habe die Männer des Wachdienstes eigenhändig ausgesucht und ausgebildet, Hilda.»
«Dann bleibt mir nur der Schluss, dass es irgendwo an der Auswahl oder Ausbildung hapert, Hans.»
Er wollte etwas sagen, verkniff es sich dann aber, knallte die Hacken zusammen, verbeugte sich andeutungsweise vor Naomi und Prynne und verließ das Zimmer.
Die Frauen schauten ihm kurz hinterher. Naomi stellte den Leuchter zurück auf einen Beistelltisch.
«Ist alles in Ordnung, Frau Prynne?», fragte sie. «Lebt sie noch?»
«Fräulein Alice lebt noch. Sie wird jetzt für weitere Untersuchungen ins Krankenhaus gebracht. Hans hat recht: Es ist besser, wenn möglichst wenig Leute wissen, dass sie nicht im Turm ist. Wir können sie im Krankenhaus nicht so gründlich bewachen wie hier, und wir wollen niemanden auf dumme Gedanken bringen.»
«Ich habe nichts gesehen», sagte Naomi.
«Sehr gut», sagte Frau Prynne. «Du lernst schnell. Ich freue mich, dass ich auf deine Diskretion zählen kann. Was hältst du davon, nach der Vertretung hier in der Logistik zu arbeiten? Jemand mit deinen Qualitäten und schnellen Reaktionen ist auf Sub-Niveau nicht an seinem Platz. Ich denke, du hast da unten schon alles gelernt, was es zu lernen gibt, und gehe davon aus, du wirst nicht traurig sein, die nassen Matratzen und Lisbeths hinter dir zu lassen. Was? Guck nicht so erstaunt. Glaubst du, ich weiß nicht, was sich in den Schlafsälen abspielt? Nicht dass es mich irgendwie kümmert, solange die Arbeit nicht darunter leidet.»
«Vielen Dank», sagte Naomi.
Das Fenster des Gästezimmers bebte. Ein Helikopter flog vorbei. Sie schauten der Maschine nach, bis sie über die Spitzen des Wolkenkratzers hinweg verschwand.
«Ich schicke Anika mit trockenen Sachen», sagte Prynne dann und verließ den Raum.
Naomi schaute noch immer durchs Fenster, als eine junge Frau mit einem Stapel trockener Kleidung hereinkam.
«Naomi?»
Naomi nickte.
«Ich bin Anika.»
«Du hast große Ähnlichkeit mit …»
«Betty, ich weiß. Zwiddeldum und Zwiddeldei nennt uns Fräulein Alice. Wir sind allerdings nicht miteinander verwandt. Wenn man uns zusammen sieht, bemerkt man schon den Unterschied. Betty ist die Bitch.»
Sie warf die Anziehsachen auf einen Sessel.
«Prynne sagt, heute wäre dein erster Tag hier. Das ist schon was, nicht?» Anika deutete auf die atemberaubende Aussicht vom Gästezimmer, auf das spiegelglatte Parkett, in dem sich die weißledernen Sessel, die Kunstwerke und der enorme Kronleuchter widerspiegelten.
«Ja», sagte Naomi. Sie ließ das Bettlaken fallen und zog die trockenen Sachen an.
«Ich vermute, du hast Hans schon kennengelernt? Mach dir keine Illusionen. Falls er dir irgendwas versprochen hat …»
«Das hat er nicht», sagte Naomi.
«Gut. Babel mag keine Techtelmechtel unter dem Personal. Hans wird seinen Job so schnell nicht verlieren, aber dich», sagte Anika, bevor sie das Zimmer verließ, «dich haben sie sofort ersetzt.»
Naomi sah sich in einem der Spiegel. Ihr nasser Zopf tropfte noch nach auf ihr Shirt. Das A brannte auf ihrer Brust.
Abends wartete Lisbeth schon auf sie.
«Na, wie war’s?»
«Arbeit», sagte Naomi.
«Los, erzähl!»
Auch die anderen Mädchen starrten Naomi an, als wäre sie gerade aus dem Himmel herabgestiegen.
«Ich habe Badezimmer geputzt. Mehr nicht.»
«Du musst doch etwas gesehen haben?»
«Lass sie doch, Lisbeth. Verstehst du denn nicht? Seit sie eine A ist, sind wir ihr doch zu gering.»
Aber Lisbeth gab nicht auf.
«Hast du Babel gesehen? Oder Lichtenstern?»
«Ich habe niemanden gesehen», sagte Naomi.
Mit dem Fortschreiten des Abends sickerten die ersten Gerüchte in den Schlafsaal. Irgendetwas war in den Räumen von Alice Babel geschehen. Was, das wusste niemand so genau, aber die plötzliche Hektik verriet, dass es etwas Ungewöhnliches gewesen sein musste, und die mürrischen Mienen der Sicherheitsleute verstärkten die Vermutungen.
Prynne, die sich noch am selben Abend im Schlafsaal zeigte, wurde entsprechend mit Fragen bestürmt. Die neugierigen Reinigungsfrauen tanzten um sie herum. Prynnes Zunge, schärfer als ein Stachel, teilte gnadenlos aus. Nein, Herr Babel habe keine Herzattacke erlitten. Wie kamen sie bloß auf diesen Unsinn? Herr Babel sei gesund und wohlauf. Sie überzeugte niemanden, und als sie weg war, überschlug sich die kollektive Fantasie. Babel sei tot, aber das werde aus finanziellen Erwägungen noch geheim gehalten. Alice Babel habe sich in einen ihrer Physiotherapeuten verliebt und angekündigt, ihn heiraten zu wollen. Daher der Herzanfall des alten Mannes. Einer der Wachleute sei Mitglied einer Terrororganisation, und ein Mordversuch sei in letzter Sekunde vereitelt worden. Die Krankheit von Alices Hauslehrerin sei kein Zufall. In der Fassade der Räumlichkeiten seien Risse aufgetaucht. Das ganze Gebäude befinde sich kurz vor dem Einsturz und bedrohe die Stadt.




