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»Dann sollten wir ihn mal besuchen.«
»Dafür gibt es nicht den geringsten Grund, Lisa.«
Ich gab Richard einen Stoß gegen die Schulter. »Dann streng dich halt ein bissle an!«
Richard fing sich mit einem raschen Schritt und schnappte meine Hand. »Das tue ich ja.« Er zog mich an sich. Ein feines Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Nur Geduld.«
Richard lächelte selten und nie aus sozialtaktischen Gründen. Er gehörte zu den Männern, die bei Begrüßungen ernst blieben, insbesondere wenn sein Gegenüber mächtig war und die Geste freundlicher Unterwerfung erwartete. Richard hielt es mit Luther, er fürchtete nur Gott, und manchmal hatte ich den Verdacht, nicht einmal den. Aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen hatte er sich jedoch vor etlichen Jahren entschlossen, sich mir mit Haut und Haaren auszuliefern. Dabei hätte er jede haben können. Er war zwar kein schöner, aber ein attraktiver Mann, eher klein, dafür gut trainiert mit sturer Stirn, bissigem Kinn, heftiger Asymmetrie um die Augen und Zähnen, die niemals von einer Zahnspange in Reih und Glied geschraubt worden waren. Wenn er sie zeigte, war er deckungslos, und ich wusste dann wieder, warum ich den Affen im Anzug in mein Leben, meine Möse und meine Wohnung gelassen hatte. Wobei Letzteres am schwersten wog.
Sonntagabend kam er besonders gern von seiner Halbhöhe in meine verkorkste Neckarstraße herab, und nicht nur, weil er dann Montag früh nur über die Straße zu gehen brauchte, um ins Amt zu kommen, sondern vermutlich weil sich ihm die teure Jugendstilmöblierung seiner Junggesellenwohnung in der Kauzenhecke am Haigst aufs Gemüt legte.
»Warst du schon mal in Neuschwanstein?«, fragte ich.
Richard lachte.
12
Ein Gespenst ging um in Stuttgart: die Bauwut. Überall verschwanden Häuser, ganze Blocks wurden zu Schutt und Staub, in den Straßen klafften Löcher, wo man gerade ein Jahr zuvor neuen Asphalt gegossen hatte, Routinegänge zum Bioladen wurden zu Slalomparcours. Auch die Gleisanlage am Stöckach unter meinem Fenster, wo die Stadtbahnen in den Osten abbogen, war eines Morgens wieder aufgerissen worden. Und jedes Mal, wenn eine Stadtbahn kam oder fuhr, stieß ein Bauarbeiter ins Signalhorn, damit die Kollegen aus den Gleisen treten konnten. Das Getröte begann morgens um sieben und wiederholte sich alle fünf bis sieben Minuten. Schon Viertel vor acht war wieder Ruhe, weil Vesperpause, ich aber wach. Eines Tages werde ich aus meinem Küchenfenster auf den Stöckach schauen, und der Hochbahnsteig ist weg, das Zeppelingymnasium von der Abrissbirne zu Staub gekloppt und der Bunker der Staatsanwaltschaft eingeebnet.
Ich fuhr raus aus dem Krach und Staub über den Riegel der Schwäbischen Alb durch Trochtelfingen nach Sigmaringen und fragte mich in der Altstadt auf dem Hügel rund ums Schloss herum durch Bäckereien, Metzger, Friseurläden bis in die Nachbarschaft des Hauses, in dem die Adoptiveltern von Juri Katzenjacob gelebt hatten. Ein Metzger erzählte mir, der Juri habe eine Lehre bei ihm begonnen, sei aber immer unpünktlich gewesen. Davon, dass er leidenschaftlich gern Viecher ausnahm, habe er nichts bemerkt, er habe aber ordentlich zupacken können und gegen das Töten nichts gehabt. Er habe sich dann aber immer wieder für länger krankgemeldet. Angeblich Allergie. Mit dem Kerle habe was nicht gestimmt. Angeblich habe es Schwierigkeiten daheim gegeben, er habe sich dann verliebt und sei mit 18 ausgezogen. »Bei Adoptivkindern weiß ma halt id, was ma krieget. Wer weiß, was der Kerle in Rumänien schon elles erlebet hätt.«
In der Nachbarschaft lebte auch ein inzwischen pensionierter Hauptschullehrer. Der hatte den Journalisten gleich nach der Verhaftung erzählt, dass Juri schon als Kind seine Stallhasen gestohlen habe, später habe er sie völlig zerfleddert gefunden. Das sei mehr als nur ein Bubenstreich gewesen. Der Junge sei krank, das habe er immer schon gefunden. »Übrigens ein schlauer Bub, aber jesusmäßig faul, und zwar im Kopf faul. Keine Lust zu denken, wie bei allen jungen Leuten. Die daddeln sich das Hirn weg an den Computern. Wenn der Juri sich nur ein bisschen angestrengt hätte, dann hätte er auch das Abitur geschafft und studieren können.«
Ins Schwäbische Allgäu hinüber brauchte ich anderthalb Stunden. Die Sonne warf schon sehr lange Schatten, als ich meine Charlotte ein paar Kilometer von Wangen im Allgäu in dem Ort namens Sommers abstellte und die Landstraße entlangspazierte, wo Juris Adoptiveltern den Tod gefunden hatten. Das Schild mit der Aufschrift »Totensteige« wies in einen Feldweg, der zwischen Maisanbau einen Hang hinauf in den Himmel führte. Hier musste es passiert sein. Warum, verriet die sanft geschwungene, etwas abschüssige Straße nicht. Charlotte hatte währenddessen einigen älteren Herren schöne Augen gemacht und ließ sich vom Dorfvolk bewundern. Einer der Männer erinnerte sich an den Unfall. Er deutete in die Senke. »Die send von außerhalb gsi. Wahrscheins hat die Sonn sie blendet. Da hats die neibetschet. Sofort tot.«
Das brachte alles nicht viel.
Ich rief beim Hamburger Abendblatt an. Nach einigen »Ich stell Sie mal durch« hatte ich einen Lokalreporter dran, der Oiger Groschenkamp kannte. »Ja, er legt größten Wert darauf, dass er auf keinem Foto drauf ist. Und wir dürfen ihn in keinem Artikel namentlich nennen. Er sei nicht wichtig, erklärt er. Er lehnt auch jede Ehrung ab. Er tut ja viel für sozial Schwächere, er vergibt Kleinkredite.« Der Reporter beschrieb Groschenkamp als unauffälligen Mann um die achtzig. »Es geht übrigens die Rede, er leide unter Agoraphobie. Aber bestätigen kann ich das nicht.« Über die Edmund-Gurney-Stiftung wusste der Reporter nichts. »Ich glaube, ich weiß, welche Villa an der Elbchaussee das ist. Sie hat auffällig viele Blitzableiter, sie ist förmlich überzogen damit.«
Ich bedankte mich, holte mir von der Seite der Koestler Parapsychology Unit in Edinburgh die E-Mail-Adresse von Prof. Dr. Finley McPierson und schickte ihm eine journalistische Interviewanfrage für ein Buchprojekt über die Parapsychologie zwischen Gauklerei und Quantenphysik.
Beim Senden brachte mir mein Mailprogramm die Anfrage der Chefredakteurin der Sonntagsbeilage, ob mein Artikel über Parapsychologie bis Donnerstag fertig werde. Man wolle ihn nun am Sonntag endlich mal bringen.
Ich sagte zu und flüchtete in Recherchen über die Edmund-Gurney-Stiftung und das Kalteneck-Experiment, fand aber nichts. Also begab ich mich auf die elegante und mit bläulichen Bildern von Frieden und Freiheit durch technischen Fortschritt bestückte Netzseite von QarQ. Unter dem Link Presse verbarg sich wie bei Industriekonzernen üblich nicht die Presseabteilung, sondern eine Sammlung von Presseartikeln über den Konzern. Erst im Impressum gab sich die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit zu erkennen. An oberster Stelle von fünf Gesichtern stand ein dicklicher Jungkarrierist namens Ingmar Neuner mit E-Mail-Adresse und Telefonnummer.
Ich wählte die Nummer und meldete mich als Journalistin.
Der Chef der Pressestelle war in einer Besprechung. Worum es denn gehe, fragte mich seine Vorzimmerdame. Ich wolle Herrn Neuner fragen, erklärte ich, warum das Unternehmen die Edmund-Gurney-Stiftung unterstützt. Was für eine Stiftung? Wie die sich denn schreibe? Ich diktierte es ihr. Sie versprach, Herr Neuner werde mich baldmöglichst zurückrufen.
Heute weiß ich, dieser Tag, dessen Datum ich nicht mehr fixieren kann, war der point of no return. Ich hatte nach Berlin, Hamburg und Edinburgh rückverfolgbare Signale geschickt, dass in Stuttgart eine Schwabenreporterin Lisa Nerz angefangen hatte, sich für die Kalteneck-Experimente zu interessieren. Während ich die Vorschläge meiner Facebook-Gemeinde zum Problem der Leiche im verschlossenen Raum las – sie reichten von Zauberei bis lockere Latte in der Zimmerdecke – und auf den Anruf des Pressefritzen von QarQ wartete, begannen andernorts ein paar Neuronen zu funken, ein Mensch wurde nervös und nahm Kontakt mit anderen auf. Etwas Neues entstand, formierte und organisierte sich. Am Abend war angelaufen, was wir jetzt nicht mehr kontrollieren können.
Ingmar Neuner rief nach etwa einer halben Stunde an. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen«, sagte er mit geölter Konzernrhetorik. »Meine Assistentin sagte mir, Sie möchten etwas über unser Engagement in der Edmund-Gurney-Stiftung wissen. Wir unterstützen diese Stiftung, das ist richtig, aber im Detail bin ich damit nicht befasst, und ich wollte mir erst die Unterlagen heraussuchen lassen. Sie möchten wissen, warum der QarQ-Konzern die parapsychologischen Forschungen unterstützt. Wir fördern vielfältige wissenschaftliche Aktivitäten, wie Sie vermutlich wissen. Im Fall der Edmund-Gurney-Stiftung handelt es sich, soweit ich das erkennen kann, um eine einmalige Zahlung in den Stiftungsfonds im Jahr 2009, die im Übrigen nicht hier im Mutterhaus geleistet wurde, sondern von unserem Tochterunternehmen Inter-Q-Orporate. Über die genauen Gründe kann also auch ich nur spekulieren. Aber wie Sie vielleicht wissen, ist Inter-Q-Orporate ein international agierendes Kommunikationsunternehmen. Und bei diesen parapsychologischen Phänomenen«, er lachte kurz, »handelt es sich gewissermaßen um einen Sonderfall der Kommunikation. Und wie gesagt, die Förderung zukunftsweisender Forschung halten wir ganz grundsätzlich für außerordentlich relevant. Wir dürfen neue Technologien und Entwicklungen nicht den Russen oder Chinesen überlassen. Ich hoffe, ich konnte Ihnen damit weiterhelfen, Frau Nerz.«
Dass ich noch drankommen würde, hatte ich nicht mehr zu hoffen gewagt. »Danke«, sagte ich. »Eine Frage hätte ich noch. Die Edmund-Gurney-Stiftung hat eine Million Euro ausgelobt für denjenigen, dessen paranormale Fähigkeiten einer Überprüfung unter Laborbedingungen standhalten.«
»Wenn Sie es sagen.«
»Diese Experimente wurden im Institut für Grenzwissenschaften in Holzgerlingen durchgeführt. Das ist ein kleiner Ort bei Stuttgart.«
»Und wie kann ich Ihnen in der Frage weiterhelfen?« Seine Stimme hatte sich einen Tick bedeckt.
»Sollte diese Million eines Tages ausbezahlt werden müssen, wer bringt sie auf? Sind Sie daran beteiligt, ich meine QarQ oder Inter-Q-Orporate?«
»Da müsste ich mich kundig machen. Aber wenn diese Experimente, wie Sie eben sagten, durchgeführt wurden, dann stellt sich die Frage wohl nicht unmittelbar.«
Hui. »Sie passen aber genau auf!«
»Das ist mein Job.«
»Sicher kein einfacher Job bei einem Unternehmen wie QarQ, das ja nun hin und wieder in die Kritik gerät.«
»Wenn alle Jobs einfach sein müssten, dann säßen wir heute noch auf den Bäumen. Haben Sie sonst noch Fragen?«
So gefragt, fiel mir keine mehr ein.
»Dann darf ich Ihnen eine Frage stellen. Warum interessieren Sie sich für die Stiftung? Meine Assistentin sagte mir, Sie arbeiten für den Stuttgarter Anzeiger ?«
»Nicht direkt. Ich bin freie Journalistin.« Nicht, dass er noch in der Redaktion anrief, um sich über mich zu beschweren. »Ich arbeite an einem größeren Artikel über Parapsychologie. Er soll am Sonntag in der Sonntagsbeilage erscheinen. Wir haben hier eine Agentur, die eine Geisterbeschwörung im Schloss Ludwigsburg veranstaltet hat …«
»Ihr Interesse hat nicht zufällig etwas mit dem Tod von Professor Rosenfeld zu tun? Der ist doch aufgeklärt. Ein junger Mann sitzt in Untersuchungshaft. Und die Staatsanwaltschaft wird demnächst Anklage erheben.«
»Ach, das hat man in Berlin alles so im Detail mitbekommen?«
Zum ersten Mal kam er ins Schleudern. »Man … liest auch hier Zeitung.«
»Unsere Staatsanwaltschaft ist gerade bei diesem Fall außerordentlich zurückhaltend. Aber als Pressesprecher lesen Sie vermutlich alle lokalen Blätter.«
»Nun, nicht alle. Aber … ich habe in Hohenheim Publizistik studiert. Sie denken vermutlich, dass ich dann besser über diese Stiftung Bescheid wissen müsste. Aber sehen Sie, die Sache ist sowohl von der Summe als auch von der Thematik her ein Exot, wenn Sie so wollen. Ich persönlich glaube nicht an diesen Hokuspokus. Zudem war die Spende an die Edmund-Gurney-Stiftung einmalig und liegt drei Jahre zurück. Von einem Engagement des Konzerns beim Thema Parapsychologie kann keine Rede sein. Das interessiert uns null.«
»Es könnte Sie aber interessieren, wenn es einen gäbe, der per Geisteskraft technische Systeme beeinflussen kann.«
»Inwiefern? Helfen Sie mir auf die Sprünge, Frau Nerz. Ich fürchte, ich habe nicht genug Phantasie. Flugzeuge per Geisteskraft abstürzen lassen? Das Riesenrad in London umstürzen? Das käme Terror gleich. Und ich wüsste nicht, inwiefern das dem QarQ-Konzern von Nutzen sein sollte. Wir liefern Technik, die funktioniert, nicht solche, die havariert.«
»Na, sie funktioniert doch ganz gut, Ihre Phantasie«, sagte ich.
Ingmar Neuner lachte. Ich bedankte mich. Wir schieden.
Schluss für heute mit dem Telefonieren, fang an, den Artikel zu schreiben, sonst wird das nichts. Aber Facebook hatte noch Nachrichten für mich. Meine FreundInnen hatten die Kommentarliste unter meiner Rätselfrage nach der Leiche im geschlossenen Raum verlängert.
Steffi Pelzer-Bartosch: Wie ist das mit dem Paranuss-Psychologen, der da in dem hermetisch verschlossenen Zimmer vor sich hin gammelt? Muss ich bei Conan Doyle nachlesen? (Dir, Dora Asemwald, Axel Starke und 15 weiteren gefällt das.)
Lisa Nerz: Ihr nehmt mich nicht ernst! (Dora Asemwald, Steffi Pelzer-Bartosch, Maria Lehmann, Berufsdemonstrant Schroeder und 3 weiteren gefällt das.)
Dora Asemwald: Und wie! Die Paranuss war hier. (Peter Schlegel gefällt das.)
Dem Kommentar hatte Dora einen Link angehängt zu einem Artikel der Allgäuer Zeitung vom 7. Januar mit dem Titel: »Geisterjäger in Neuschwanstein. Auch Prof. Rosenfeld kann das Phänomen des schwingenden Leuchters nicht erklären.« Das Foto zeigte Gabriel Rosenfeld in roter Trekkingjacke vor grauen Türmen. Dem Artikel zufolge sahen immer wieder mal Touristen den Kronleuchter im Thronsaal von Neuschwanstein schwingen. Ingenieure und Mechaniker waren dem Phänomen bisher nicht auf die Spur gekommen, so hatte man den Geisterexperten Rosenfeld geholt. Oder er hatte sich von sich aus angeboten. Da legte sich der Reporter nicht so genau fest. Das fiel unter die journalistische Unschärferelation, die da lautet: Wenn etwas gut klingt, dann suche nicht nach der Wahrheit.
Natürlich hatte der Kronleuchter sich nicht bewegt, als Rosenfeld dort war. Er habe es auch nicht erwartet, hatte er hinterher gesagt, Spuk sei elusiv, er sei scheu und schwer fassbar. Man dürfe ihn sich nicht als Geisterhand denken, sondern man müsse ihn sich als den Ausschlag eines komplexen, in sich geschlossenen Systems ins Unerwartete vorstellen. Dies hatte der Journalist nicht weiter zu ergründen versucht. Der Artikel verriet auch nicht, wann genau Rosenfeld seine Feldstudien im Schloss gemacht hatte. Da er nach Dreikönig erschienen war, konnte es gut sein, dass er schon lange für die Zeit nach den Feiertagen herumgelegen hatte.
Mir klopfte das Herz. So ganz verstand ich nicht, warum. Waren es die offenen Augen in Rosenfelds freundlichem Wissenschaftlergesicht, die sein Mörder mit Paketband zugeklebt hatte? Ein heller und verhaltener Blick. Oder war es, weil Neuschwanstein schon wieder aufstieg aus der Kommunikationssoße? Dora Asemwald war ein Phantom der Facebook-Welt und definitiv nicht dabei gewesen, als Neuschwanstein beim Tischrücken auf der nächtlichen Terrasse von Monrepos zu erscheinen im Begriff gewesen war. Als ob ich in eine bestimmte Richtung geschoben werden sollte. So kam es mir vor.
Ich beschloss, Gespenst zu werden und den Schwingungen zu folgen.
Zuerst rief ich in der Redaktion der Allgäuer Zeitung an. Der Autor klang jung, schimpfte aber schon wie ein alter. Er habe nur zufällig von dem Termin erfahren, von seiner Freundin, die im Schloss Führungen mache. Irgendwann kurz nach Neujahr. Man habe die Presse offenbar nicht dabeihaben wollen. Eine Pressekonferenz sei nicht geplant gewesen. Er habe auch nicht mit hineindürfen. Eine komische Aktion. Ihm sei auch bis dato nichts von einem schwingenden Kronleuchter bekannt gewesen. Ach, der Professor sei tot, ermordet? Ja, da schau her.
Man überschätzt leicht den Wissensdurst von Journalisten.
»Rosenfeld war doch sicher in Begleitung?«, stocherte ich.
»Ja, soweit ich mich erinnere, waren es vier oder fünf Leute. Techniker, hieß es.« Nein, Fotos von der Gruppe habe er nicht gemacht, soweit er sich erinnere. Er habe ja geglaubt, er könne es dann im Schloss tun. Er könne aber noch mal nachschauen.
Die bessere Quelle für Rosenfelds Reisen war wohl Dr. Barzani in Holzgerlingen. Desirée leierte den Satz »Institut für Grenzwissenschaften und Parapsychologie, guten Tag, Sie sprechen mit Frau Motzer, was kann ich für Sie tuuuuun?« herunter.
»Mein Sonnenscheinchen, ich komme«, sagte ich und legte auf.
Charlotte Brontë flog über die Autobahn. Im Rückspiegel schoben sich die dunklen Autos mit Überholprestige von der linken auf die rechte Spur, aber ein bestimmtes, das mir folgte, konnte ich nicht ausmachen. Auf der Autobahn Richtung Böblingen und weiter Richtung Singen herrschte das enge Geschiebe eines Vormittags. An der Ausfahrt Holzgerlingen löste es sich auf. Wahrscheinlich, weil ich von der Autobahn runterfuhr. Als Gespenst löst man seltsame Phänomene aus und wundert sich nicht darüber.
13
»Und hier«, sagte Dr. Derya Barzani, »wurden die Experimente durchgeführt.« Sie hatte mir den Saal im Erdgeschoss der Burg Kalteneck aufgeschlossen. Er war bestuhlt. Erst vergangene Woche hatte hier ein Vortrag stattgefunden. An der Kopfwand stand ein Podium mit Lämpchen. Cipión schnüffelte desinteressiert. Keine Geister in der Luft.
»Was haben sich denn da für Leute gemeldet?«
»Wünschelrutengänger, die hatten wir viele.«
»Mit den gegabelten Ruten, die plötzlich erigieren, wenn Wasser im Boden ist?«
Ein Lächeln rutschte ihr in den rechten Mundwinkel. »Meistens senken sie sich.«
»Und wenn der Wünschelrutengänger eine Wasserader unterm Schlafzimmer findet, muss man sein Bett umstellen, sonst bekommt man Krebs.«
»Was meinen Sie wohl, wie oft unter so einem Haus gebohrt worden ist, um die Existenz der Wasserader zu beweisen?«
»Ach so. Also Kokolores.«
»Die Geologen wären jedenfalls glücklich, wenn das Wünschelrutengehen zuverlässig funktionierte. Es wäre die billigste Methode, Bodenschätze zu finden. Aber leider muss man auch hier jeder Erfolgsmeldung die Zahl der Fehlversuche gegenüberstellen, über die ihr von der Presse gewöhnlich eben nicht berichtet.«
»Und wenn es keine Wünschelrutengänger waren, wer ist dann sonst noch so gekommen?«
»Ich weiß von einem Handwerker, der meinte, er könne fühlen, ob eine Leitung Strom führt, wenn er die Hand darüber hält. Wahrscheinlich hatte er als Handwerker so viele Treffer, weil die meisten Leitungen Strom führen. Hier lag seine Trefferquote im Zufallsbereich. Ein anderer wollte lebendiges Wasser herausschmecken können.«
»Igitt!«
»Sie legen es auch nur auf Lacher an, was, Frau Nerz?«
Oha, ein Anblaff! Er traf mich in argloser Stimmung. Das hasse ich. Die Frau Doktor hatte in ihrem Blick so etwas spöttisch Lächelndes, etwas Herabschauendes, obgleich sie einen Kopf kleiner war als ich, vor allem nur halb so breit. Tja, körperlich schwache Menschen fühlen sich nur stark, wenn sie andern die Stimmung einschwärzen.
»Soso, Sie mögen’s auch nicht gern nett«, bemerkte ich.
Das gefiel jetzt ihr nicht. Sie lächelte beiseite und brach die Konversation ab. »Aber wie ich Ihnen vorhin schon sagte: Ich war mit den Kalteneck-Experimenten nicht befasst. Sie wurden von einem Doktoranden durchgeführt.«
»Wie komme ich an den ran?«, fragte ich.
»Er ist Doktorand in Alicante bei der ….« Das Spanische fiel ihr schwer. »Asociación Española de Investigaciones Parapsicológicas.«
»Warum hat er die Versuche hier durchgeführt?«
»Weil es hier im Sommer nicht so heiß ist. Was interessiert Sie das eigentlich? Es ist nichts dabei rausgekommen, und für Wissenschaft interessiert sich die Presse doch überhaupt nicht.«
»Ich schon. Ich bin nämlich auch als Journalistin eine Niete. Hatte McPierson damit zu tun?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Das ist der Schotte, der die Nina Kulagina gefilmt hat.«
Ein Hauch von Anerkennung zuckte um den schönen Mund. Wahr ist: Ich fühlte mich vor der zierlichen Dame im blauen Blazer, roten Rock und Nylonstrümpfen auf Pumps wie der Glöckner von Notre-Dame. Sie machte mich zu einer Gespenstin in einer Parallelwelt.
Und sie flüchtete, wie ich das von Richard kannte, ins Belehren. »Finley McPierson leitet die KPU, die Koestler Parapsychology Unit an der Universität Edinburgh. Eins von vier Instituten für Parapsychologie in Großbritannien. In Deutschland gibt es nur zwei, unser Institut und das Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene mit der Parapsychologischen Beratungsstelle von Professor Dr. Dr. Walter von Lucadou in Freiburg, das der berühmte Geisterjäger Hans Bender aufgebaut hat.«
»Das Problem ist ja wohl«, bemerkte ich, »dass die Parapsychologie erst einmal beweisen muss, dass es den Gegenstand ihrer Forschung überhaupt gibt.«
»Spukphänomene«, antwortete Derya Barzani, »werden seit Jahrhunderten dokumentiert.«
»Na, wenn das so läuft wie im Schloss Ludwigsburg bei den Haunt Hunters, dann …«
»Es ist manchmal schwierig, die Spreu vom Weizen zu trennen. Aber wenn Sie auf einem Video einen Spuk sehen, können Sie davon ausgehen, dass Sie einem Betrug aufsitzen. Paranormale Erscheinungen entziehen sich der objektiven Beobachtung. Ein Spukerlebnis verflüchtigt sich, je gründlicher wir darüber nachdenken, was wir genau erlebt haben. Am Ende erscheint es uns als Einbildung.«
Das deckte sich mit dem, was wir auf Schloss Monrepos erlebt hatten.
»Es ist eine Grundeigenschaft des Spuks, unklar zu sein. Er verschwindet auch, sobald man beginnt, ihn wissenschaftlich zu untersuchen. Wir sagen dazu: Der Spuk ist elusiv.«
»Elusiv?« Das Wort war mir unlängst schon begegnet. Nur wo? Vermutlich schaute ich wie drei Reihen Feldsalat.
»Elusivität«, die Frau Doktor spitzte die vollen Lippen, »die Flüchtigkeit, der ausweichende Charakter, die schwere Fassbarkeit der Erscheinung. Wenn also dies, die Flüchtigkeit, eine fundamentale Eigenschaft von Psi-Phänomenen sei, so wäre bereits bewiesen, dass es unseren Forschungsgegenstand gibt.«
Ich lachte grobkörnig. »Das klingt wie Religion. Der Beweis, dass Gott existiert, ist dadurch erbracht, dass wir außerstande sind, ihn in Begriffe zu fassen, geschweige denn zu fotografieren.«
»Ich will damit nur verdeutlichen, dass man zu 99,9 Prozent davon ausgehen muss, dass es sich um Betrug oder Selbstbetrug handelt, wenn man auf einem Foto einen Spuk sieht.«
»Dann kommt es Ihnen hier vor allem darauf an zu zeigen, dass es all das Sensenmanngeraffel nicht gibt. Keine Wiederkehr der Toten, keine Hellseherei, keine Telekinese …«
Barzani gab sich einen Ruck. »Letzteres, die Telekinese, gibt es gewiss, Frau Nerz. Wenn Sie wollen, mache ich einen Test mit Ihnen.«
Damit hatte sie schon mal gedroht. »Was für einen Test?«
Sie lächelte siegessicher. »Kommen Sie.«
Sie hielt mir sogar die Tür auf. Wir traten zurück in die Eingangshalle. Gegenüber befand sich ein Sackgassengang mit dem Toilettenschild. Hier hatte Juri Katzenjacob gepinselt.
»Übrigens hat heute schon einer angerufen«, sagte sie, mich mit einem Hauch von Rosenwasser streifend, als sie sich zur Treppe wandte. »Einer von der Zeitung.«
»Von welcher denn?«
»Frau Motzer hat den Anruf entgegengenommen. Auch er hat nach den Kalteneck-Experimenten gefragt. Frau Motzer hat ihm mitgeteilt …«
Wir betraten bei diesen Worten den Raum, wo das Sonnenscheinchen an seinem Tisch am Computer glühte. Schwanger! Das fiel mir sofort auf, wenn ich es auch nach dem zweiten Blick nicht mehr hätte beschwören wollen.
»… dass die Daten noch wissenschaftlich ausgewertet werden müssen, aber nichts Spektakuläres herausgekommen sei, nicht wahr, Frau Motzer? Von welcher Zeitung war der Anrufer vorhin?«
Desirée guckte hoch. »Vom Guten Tag.«
»Wir haben die Unterlagen der Kalteneck-Experimente sowieso nicht hier«, fuhr Dr. Barzani fort. »Was wir haben, sind ein paar statistische Reihen. Aber die Daten der Probanden, einschließlich der Zielvereinbarung … der Wette, wie Gabriel das immer genannt hat«, sie schluckte, »befinden sich verschlüsselt auf einem passwortgeschützten Server, zu dem ich keinen Zugang habe.«






