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»Nein, weiter«, befahl Lea Frey. »Da vorne an der nächsten Hütte gabelt sich der Weg. Wir bleiben oben, geradeaus.«
Der Kommissar tat, wie ihm geheißen, und manövrierte sein nicht gerade geländegängiges Fahrzeug routiniert den schmalen, mit rotem Sand belegten Weg entlang. Bei Unebenheiten fuhr er noch ein wenig langsamer und erreichte nach ungefähr zwei Kilometern eine Ansammlung mehrerer PKWs und Transporter. »Anscheinend sind wir da.«
»Nicht ganz. Jetzt geht’s zu Fuß weiter. Dort, den Berg hoch.«
Zweifelnd sah Lindt die Staatsanwältin an.
»Mein Ernst. Steigen Sie aus, schließen Sie ab. Da lang!« Die hagere Juristin war bereits einige Schritte vorausgeeilt und sah sich um. »Kommen Sie, kommen Sie. Etwas Bewegung wird Ihrer Figur guttun.«
Oskar Lindt ließ sich nicht hetzen. Betont bedächtig stemmte er sich in die Höhe, reckte sich erst einmal und sog die harzige Waldluft tief in seine Lungen. Warm ist es hier auch, aber längst nicht so drückend schwül wie in Karlsruhe unten, ging ihm durch den Kopf. Er sah sich um und betrachtete die stolzen Tannen und Fichten. Wald, grüner Wald, ja, das hätte er sich vor einigen Stunden auch noch nicht träumen lassen, dass seine Vision so schnell zur Realität würde. Gemächlich folgte er der »Eisernen« und erreichte nach gut hundert Metern den Löwenbrunnen, der sich als Kneippanlage mit Schutzhütte erwies. Offensichtlich stammte alles noch aus der guten alten Zeit, als in Freudenstadt der Kurgastbetrieb Hochkonjunktur hatte. »Luftschnapper« waren damals in Scharen gekommen, um sich in der »ozonreichen« Waldluft zu erholen.
Der Kommissar registrierte einen kleinen, aber trockengelegten Sandsteinbrunnen mit der Aufschrift ›Willst frischen Mut, trink Löwenblut‹ und eine fünfeckige Wassertretstelle, die aus einem in der Mitte senkrecht aufragenden Metallrohr mit frischem Nass gespeist wurde. Ein rundes Eisengeländer, an dem sich die Kurgäste beim Wassertreten festhalten konnten, umgab das Wasserrohr.
»Da drin?« Er sah die Staatsanwältin fragend an.
Sie nickte. »Unfassbar, der Anblick«, und winkte einem von drei Kriminaltechnikern, die noch auf Spurensuche waren. »Haben Sie die Fotos parat?«
»Klar«, antwortete der Kollege und nahm einen Tabletcomputer aus dessen Schutzhülle. Seine Hände zitterten, als er das Gerät hielt. »Hier, bitte. Unser Chef. Tot, ganz tot. Sitzend, dort an das Geländer gelehnt. Blickrichtung talwärts.«
Lindt setzte seine Lesebrille auf, um die Bilder genauer betrachten zu können, und erschrak.
War er das wirklich, der Franz? Franz-Otto Kühn. Kahl rasierter Schädel, grauer, dichter Vollbart? Wie lange hatten sie sich nicht mehr gesehen? Zwei Jahre oder drei? Früher war er doch immer glatt rasiert gewesen und hatte eine gepflegte Frisur getragen. Und jetzt so?
Lindt registrierte Sportkleidung, kurze Hose, ärmelloses Laufshirt, Asics – Runningschuhe und … er hielt die Luft an … ausladende Tattoos, die sich über die ganzen Schulterbereiche und Oberarme erstreckten. Franz, bist du’s? Was ist denn mit dir passiert?
Allerdings, je länger er das Gesicht betrachtete, umso mehr Ähnlichkeiten mit dem in der Erinnerung gespeicherten Bild seines Kollegen ergaben sich.
»So kennen Sie ihn wohl noch nicht?« Lea Frey hatte das sachte Kopfschütteln des Kommissars bemerkt.
»Ja, der Kühn hat sich verändert. Mordsmäßig sogar, in den letzten Jahren.«
Lindt atmete tief durch. Ein verstörender Anblick, sowohl seine äußerlichen Veränderungen als auch die Tatsache, dass Franz-Otto Kühn tot war. Obwohl er in langen Berufsjahren schon genügend kalte Leichen gesehen hatte, ließ ihn dieser Anblick alles andere als kalt. Er war dankbar, dass er den Toten nur auf den Bildern präsentiert bekam und nicht in natura. In echt. Echt tot, angelehnt sitzend, mit hängendem Kopf, im knietiefen Wasser der Wassertretstelle Löwenbrunnen im Freudenstädter Erholungswald.
Auf weiteren Bildern stach eine ausgeprägte längliche Verletzung am Hinterkopf sofort ins Auge, aufgrund der fehlenden Haare mit besonders prägnanter Wirkung auf den Betrachter.
»Stumpfer Gegenstand?«
Der Techniker nickte: »Unserer ersten Einschätzung nach hat er dort einen starken Schlag erhalten. Wird gerade in der Rechtsmedizin Tübingen untersucht. Bestimmt machen die auch eine Computertomografie.«
»Hmm«, brummte Lindt und sah sich eine Nahaufnahme genauer an. »Schädelbruch ist sicherlich möglich.«
»Ich habe denen dort gleich eine klare Ansage gemacht«, unterbrach die Staatsanwältin. »Alles stehen und liegen lassen. Diese Untersuchung hat Vorrang.«
»Und«, wollte Lindt wissen, »hatten Sie Erfolg?«
»Ich kenne den Professor persönlich!«
Der Kommissar verkniff sich eine hässliche Bemerkung wie: ›Könnte in Ihrem Fall auch ein Hinderungsgrund sein‹ und nickte. »Todesursache Schädelbruch? Ja, vielleicht, es wird sich zeigen.«
»Kann auch anders sein. Die Barthaare waren feucht, und bei der Bergung kam einiges an Wasser aus seinem Mund«, berichtete der Techniker.
»Wie? Hatte die Totenstarre noch nicht eingesetzt?«
»Nein, war erst im Anfangsstadium. Die Tat muss in der Morgendämmerung geschehen sein. Die Zeugin, die ihn gefunden und den Schreck ihres Lebens bekommen hat, sagt, sie sei immer eine der Ersten im Wald. Badet wohl regelmäßig ihren Hund dort unten in der Kuhle.«
Er wies zum Graben, in dem das aus der Kneippstelle überfließende Wasser talwärts rann. Ein Holzschild am Baum neben dem Kolk war beschriftet mit ›Hier bade ich‹, darunter ein stilisierter Hund in Badewanne.
Oskar Lindt begann, sich eine Pfeife zu stopfen, und sah sich weiter intensiv um.
»Wollen Sie den Wald in Brand setzen?«, herrschte ihn die »Eiserne« an.
»Keine Sorge, mein Feuer ist eingesperrt«, konterte der Kommissar und hielt ein Streichholz an den Tabak. »Außerdem gibt es hier ja Löschwasser genug.«
»Besserwisser«, zischte Lea Frey, gab aber keine weiteren Kommentare ab.
»Haben Sie ihn selbst noch gesehen, bevor er abtransportiert wurde?«, wollte Lindt wissen.
Die Staatsanwältin winkte ihn zur Seite, um ungestört sprechen zu können. »Ich wusste ja nicht, um wen es sich handelt, als die Meldung kam, ein Toter sei im Wald gefunden worden. Aber ich war schnell. Die Spurensicherung hatte gerade erst begonnen, als ich ankam.«
»Also saß er noch im Wasser?«
»So, wie auf den Fotos zu sehen.«
»Wer hat dann die Bergung übernommen? Die Feuerwehr?«
»Nein, das haben die Techniker selbst gemacht. Waren ja bereits nass bis zu den Oberschenkeln. Die Sanis vom Roten Kreuz brachten so ein langes Kunststoffbrett mit Tragegriffen dran.«
Lindt nickte: »Spineboard. Kenne ich. Wurde er draufgelegt und damit rausgehoben?«
»Richtig«, bestätigte die Staatsanwältin. »Ich habe alles genau mit angesehen und angeordnet, dass die Aktion gefilmt wird.«
»Wer stand noch dabei?«, fragte der Kommissar.
Sie überlegte und trat aufs Neue einige Meter zurück, um ganz sicher außer Hörweite zu sein. »Zehn Personen bestimmt. Rettungsdienst, Kripokollegen, Spusi, uniformierte Beamte, der Leiter des Polizeireviers. Der Polizeipräsident aus Pforzheim kam bald nach mir.« Sie zögerte kurz. »Ja, ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Von denen, die Kühn offenbar bedroht haben, war aber keiner hier. Die zwei hatten dienstplanmäßig frei.«
»Zwei?«
»Ja, ich weiß zwei Namen. Muss ich Ihnen wohl geben. Aber meine Informantin …« Sie stockte wieder und fuhr schnell fort, »… oder meinen Informanten möchte ich Ihnen nicht nennen.«
Lindt runzelte die Stirn. »Wird sich nicht vermeiden lassen. Dieser Person kommt eine entscheidende Bedeutung zu. Wann hat sie Ihnen Bescheid gesagt?«
»Der Anruf kam ungefähr eine Stunde, nachdem klar war, wer der Tote ist. Das ging natürlich polizeiintern rum wie ein Lauffeuer.«
Der Kommissar trat wieder zu den Kriminaltechnikern, die jetzt dabei waren, ihre Utensilien einzupacken.
»Wie hat sich die Tat eurer Meinung nach zugetragen?«
Einer der Kollegen gab seine Einschätzung bekannt: »Der Fundort ist vermutlich nicht der Tatort. Den Schlag auf den Kopf hat er höchstwahrscheinlich woanders erhalten und ist dann hierhertransportiert worden.«
»Wurde er hochgeschleppt? Oder von oben runter? Finden sich irgendwo Schleifspuren?«
»Ein Auto kann auf diesem schmalen Weg ja kaum fahren. Dort vorne gibt es zudem eine Engstelle, an der ein Wasserdurchlass runtergebrochen ist.«
Lindt nickte: »Ist mir auch aufgefallen. Ein ganz schmales Fahrzeug käme vielleicht gerade so durch, aber kein normaler PKW oder Transporter.«
»Wir vermuten auch, dass unser Chef hier am frühen Morgen seine Joggingrunde gedreht hat. Er wohnt ja seit einiger Zeit in einem dieser neuen teuren Häuser gleich dort vorne in der Straßburger Straße.«
Oskar Lindt stutzte: »Wie? In Freudenstadt? Kam er früher nicht immer aus dem Kreis Calw hergefahren?«
Die Techniker sahen sich bedeutungsvoll an. Zögernd fuhr einer fort: »Man sieht es ja auf den Bildern. Neues Outfit. Haare ab, Bart dran, morgens joggen statt frühstücken, abends Fitnessstudio mit Hantelbank und allem Drum und Dran. Der hat mit Mitte 50 noch mal voll aufgedreht.«
Lindt las in den Gesichtern, dass das noch nicht die ganze Wahrheit sein konnte. Seinem Instinkt folgend, fragte er: »Auch eine neue Frau?«
Die Antwort kam nicht gleich. »Ja, also … man soll ja über Tote …«
»... nicht schlecht reden, das weiß ich«, komplettierte Lindt, »aber es geht um Tatsachen, um reine Fakten. Bitte, wir finden es sowieso raus, mit wem er zusammen war.«
Statt des Technikers antwortete die Staatsanwältin: »Kühn hat einem Kollegen die Frau ausgespannt, das habe ich bereits mitbekommen.«
»Oha. War er denn getrennt?«
»Seine eigene Ehefrau soll sich angeblich mit einem polnischen Lastwagenfahrer abgesetzt haben.«
»Das ist jetzt aber nicht wahr, oder?«
»Das Letzte ist ein Gerücht, das Erste weiß ich aus sicherer Quelle«, sagte die »Eiserne«. »Sie können es mir ruhig glauben.«
»Hat ihn was aus dem Gleis geworfen? Das mit dem Polen?«
»Zumindest hat damit alles angefangen. Neustart in Freudenstadt, so hat er mir mal selbst gesagt, allerdings ohne dabei Hintergründe zu nennen.«
»Hmmm …«, brummte Lindt wieder einmal und wiegte seinen Kopf hin und her. »Der Franz, der Franz … und jetzt …«
»Ist er tot«, vervollständigte die Juristin mit deutlich verschärftem Ton. »Und Sie haben den Ermittlungsauftrag. In engster Abstimmung mit mir natürlich. Verstanden?« Sie nahm Lindt ins Visier und schoss einen verbalen Giftpfeil in seine Richtung: »Keine Alleingänge und keine zurückgehaltenen Informationen. Ist das klar?«
Die drei Techniker schauten betreten zu Boden.
Der Kommissar jedoch war für solche Situationen trainiert und antwortete nach wenigen Sekunden: »Frau Oberstaatsanwalt, ich habe einen neuen Lieblingsspruch. Den kennen Sie noch nicht.«
»Und?«, blaffte sie ihn an.
Lindt bekam kleine Fältchen neben den Augenwinkeln.
»Er heißt: Lächle, du kannst sie nicht alle töten. Also, Sie sehen mich lächeln!«
Die Gesichtsfarbe der »Eisernen« wechselte schlagartig wieder auf dunkel. »An die Arbeit, marsch!«, befahl sie, war offensichtlich kurz davor, Schnappatmung zu bekommen, griff nach ihrem Smartphone und verschwand.
»Wir sind bereits mittendrin«, hob Lindt die Augenbrauen und wandte sich an die belustigt dreinblickenden Kriminaltechniker.
»Gibt es verwertbare Spuren?«
Unisono schüttelten alle drei die Köpfe. »Nachher suchen wir noch entlang der Wege, aber es ist viel zu trocken für Abdrücke von Schuhsohlen.«
»Reifenspuren?«
»Es gab vielleicht welche unten auf dem Fahrweg, aber da ist ja auch das Forstpersonal unterwegs. Wären aber ohnehin durch unsere eigenen Wagen überlagert. Können wir also komplett vergessen. Nach Fingerabdrücken und DNA haben wir selbstverständlich gesucht. An dem Eisengeländer im Becken, auf den Mauersteinen, in der Hütte.«
»Handy, Papiere, Schlüssel?«
»Fehlanzeige, nichts dergleichen«, antwortete einer der Techniker. »Alles, was wir haben, befindet sich eingetütet in unserer Kiste. Ist allerdings nicht viel.«
Dann sah er den Kommissar an: »Entschuldigung, wenn ich frage: Wieso musste extra der Oskar Lindt aus Karlsruhe kommen, um den Fall hier zu übernehmen?«
Diese Frage hatte Lindt erwartet. »Gab die Frau Oberstaatsanwalt dazu keine Erklärung ab?«
»Nein, sie hat einen Anruf bekommen und danach sofort und ohne weitere Kommentare unsere eigenen Ermittler komplett nach Hause geschickt. Nur der Streifendienst durfte bleiben, um Spaziergänger fernzuhalten, und wir natürlich.«
»Dann fragen wir sie doch am besten selbst. Ah, sie telefoniert noch«, meinte Lindt und sandte einen auffordernden Blick in Richtung der Juristin.
»Dauert wohl länger, das Gespräch, also werde ich was dazu sagen. Aber vorweg möchte ich wissen: War der Kollege, mit dessen Frau der Franz was angefangen hat, auch hier vor Ort?«
»Nein, nein, der Horst, der hat sich sofort versetzen lassen, nachdem seine Alte, ääh, also nachdem seine Frau ausgezogen ist. Er fährt jetzt täglich nach Balingen. Außerdem ist das alles längst Schnee von gestern. Der Franz, der war ja kein schlechter Chef, aber seit er nach Freudenstadt gezogen ist, hat er seine Bekanntschaften öfter gewechselt als normale Leute ihre Unterwäsche.«
Lindt zog die Stirn in Falten. »Dann gab es ja allerhand zu tuscheln bei euch im Kommissariat.«
»Aber hallo! Es war sozusagen Tagesgespräch. Doch nachdem er sich körperlich in Form gebracht hatte, sind die Frauen auf ihn geflogen wie die Motten aufs Licht. Dabei hat er angeblich nichts anbrennen lassen.«
Ein anderer Techniker ergänzte: »Die Wohnungen im ›Parkside‹, so heißen die zwei supermodernen vornehmen Häuser, haben dreiseitig Glasbalkone. Und es gibt durchaus Leute, die ihre Spaziergänge extra so gelegt haben, um zu sehen, wer aktuell im dritten Stock im Liegestuhl lag.«
»Wie bitte?«
»Mehrere Kolleginnen haben sich sogar darin abgewechselt, den Balkon von weiter oben, vom Rand des Steinbruchs aus, zu beobachten. Da stehen mehrere Parkbänke strategisch günstig mit prima Aussicht. Fernglas aus der Handtasche – am nächsten Tag wusste die ganze Polizei Bescheid.«
Lindt schmunzelte: »Das waren dann die, die der Franz nicht erwählt hatte?«
Schallendes Gelächter breitete sich aus. »Nein, die bekamen bei ihm keine Chance. Von internen Verwicklungen hatte er wohl genug. Aber man hört, dass es in seinem Fitnessstudio genügend Auswahl gab.«
»Ts, ts, ts«, kommentierte der Kommissar. »Schau an, der Franz. Und jetzt ist er leider tot. Schade für ihn, schade für die Freudenstädter Damenwelt und für die Kleinstadt-Gerüchteküche.«
Dann wurde er wieder dienstlich: »Jetzt aber zurück zum Ernst des Lebens. Sämtliche Ergebnisse eurer Arbeit gehen nur an mich. Ausschließlich! Niemand sonst darf darauf zugreifen.«
Lindt sah in drei fragende Gesichter, doch keiner sagte etwas.
»Versteht ihr nicht?«
Kopfschütteln.
»Kripochef tot, da gilt natürlich höchste Diskretionsstufe. Die eigene Mannschaft muss völlig außen vor bleiben. Das hat gar nichts mit Misstrauen zu tun, sondern ist eine eiserne Regel. In solchen Fällen laufen die Ermittlungen komplett extern. Immer. Ich werde auch meine engsten Mitarbeiter holen und irgendwo eine provisorische Ermittlungszentrale einrichten.«
»Gut gesagt, Lindt«, ergänzte Lea Frey, die sich zwischenzeitlich beruhigt hatte und wieder näher gekommen war. »Ist ein Muss. Ich will mir später keine Vorwürfe über unprofessionelle Vorgehensweise anhören.«
»Also alles reine Routine«, beruhigte der Kommissar die verunsicherten Kollegen. »Gibt es schriftliche Aufzeichnungen? Handschriftlich, meine ich?«
»Nein, komplett auf dem Tablet. Und auf der Kamera.«
Lindt streckte die Hand aus. »Dann brauche ich das Gerät und vom Fotoapparat die Speicherkarte. Und natürlich die Beweismitteltüten mit den Spurenträgern. Am besten, wir gehen gemeinsam zum Weg runter und laden dort alles in meinen Dienstwagen.«
»Und wer bearbeitet unsere gesicherten Spuren weiter?«
»Werde ich koordinieren. Vermutlich auch Kollegen aus meinem Bereich.«
Die Techniker waren offensichtlich nicht besonders glücklich über diese Ansage, doch sie hatten keine Wahl und mussten sich fügen.
Wenig motiviert machten sie sich wieder an die Arbeit und begannen, die weitere Umgebung der Kneippanlage abzusuchen. Plötzlich rief einer der Männer vom Fahrweg aus: »Fund!«
Der Karlsruher Kommissar und die Juristin eilten hinzu. Der Techniker stand direkt neben Lindts Dienstwagen und zeigte auf mehrere dunkle Flecke im plattgedrückten Gras neben dem Schotter. »Blut, jede Wette. Hier könnte er niedergeschlagen worden sein.«
Süffisant grinsend, drehte sich Oskar Lindt zur »Eisernen«. »Frau Oberstaatsanwalt, auf dieser Seite sind Sie ausgestiegen.«
Sie sandte ihm einen bösen Blick zu. »Bin ich vielleicht ein Spürhund?«
Der Kommissar antwortete nicht und lächelte still in sich hinein. »Ich fahre mal den Wagen weg, dann habt ihr Platz, um alles aufzunehmen.«
2
Es dauerte eine weitere Stunde, bis sämtliche Arbeiten erledigt waren und die Absperrungen aufgehoben werden konnten. Die Polizeifahrzeuge verließen nach und nach das Waldgebiet, so dass schließlich nur Oskar Lindt zurückblieb. Auch die Oberstaatsanwältin war in einem Streifenwagen mitgefahren, nicht ohne den Kommissar nochmals auf äußerste Geheimhaltung zu verpflichten.
»Machen Sie sich keine Sorge«, hatte er geantwortet. »Erstens bin ich Profi, und zwar ein alterfahrener. Zweitens, und das wiegt genauso schwer, bin ich es dem Franz ganz einfach schuldig, alles bis ins Kleinste aufzuklären.«
»Genau deshalb habe ich Sie geholt«, hatte ihm die »Eiserne« energisch die Hand gedrückt. »Ich zähle auf Sie.«
Nun war er alleine. Alleine am Tatort. Tatort? Nein, der lag vermutlich dort unten auf dem Waldweg. Hier handelte es sich nur um den Fundort seines getöteten Kollegen. Tatwaffe? Nein, weit und breit keine Spur. Lindt nahm auf der braun gestrichenen Holzbank zwischen Schutzhütte und Wassertretbecken Platz und setzte aufs Neue eine Pfeife in Brand.
Er sah auf die Uhr. Bereits später Nachmittag. Eigentlich Zeit, an Rückkehr zu denken. Zeit, um Carla anzurufen. Zeit, sich bei Paul und Jan zu melden.
Doch er tat nichts dergleichen. Ruhig zog er an seiner Pfeife, blies aromatische Rauchkringel in die Luft und sog die Atomsphäre in sich auf.
Weshalb hatte man Franz-Otto Kühn ausgerechnet hier in knietiefes Wasser gesetzt? Welche Bedeutung kam diesem besonderen Ort zu?
Oskar Lindt lehnte sich zurück und betrachtete die stolzen hohen Tannen und Fichten rings um die Kneippanlage. Ja, das waren sie, echte »Tannenriesen«, riesige alte Bäume. Diesen Ausdruck kannte er von früheren Ausflügen und Wanderungen hier in der Gegend, im Schwarzwald, der ihm und Carla im Laufe der Jahre immer mehr zur zweiten Heimat geworden war.
Einzigartig auch das Klima. Selbst im Hochsommer konnte er es bestens aushalten. Natürlich, bei körperlichen Aktivitäten ginge es auch in den schattigen Wäldern nicht ohne Schweißtropfen ab, doch verglichen mit der brütend schwülen Hitze zwischen den Karlsruher Häuserwänden fühlte er sich an diesem Ort einfach nur wohl. Wenn da nicht der tote Franz gewesen wäre …
Lindt riss sich zusammen, nahm sein Mobiltelefon und suchte nach der gespeicherten Nummer von Ludwig Willms, seinem langjährigen Weggefährten und Chef der Karlsruher Kriminaltechnik.
»Auf diesen Anruf hab ich schon gewartet«, meldete sich Willms. »Wollte dich was fragen, aber du warst nicht an deinem Arbeitsplatz.«
»Heute arbeite ich im Wald«, antwortete der Kommissar. »Freudenstadt, Teuchelwald. Kannst ja mal googeln, dann weißt du, was das bedeutet.«
»Paul hat mir natürlich berichtet, dass du dich wieder im Schwarzwald rumdrückst.«
»Und wenn du anständig bist, darfst du auch noch kommen. Wir müssen hier unsere Zelte aufschlagen.«
»Die ›Eiserne Lea‹ hat dich engagiert. Ausgerechnet dich. Wie kommt denn das? Ihr seid euch doch in inniger Abneigung verbunden.«
»Heute war sie zeitweise sogar ganz manierlich. Schließlich will sie ja was von mir. Ich nehme an, du hast gehört, dass Franz-Otto Kühn getötet wurde?«
»Auch das hat mir Paul gesteckt. Ich kannte den Kühn zwar nicht persönlich, aber ein toter Kripochef ist natürlich der Hammer.«
»Ob ein Hammer auf seinem Kopf gelandet ist, finden die Gerichtsmediziner in Tübingen gerade heraus, und du bekommst heute noch eine Kiste voller Beweismitteltüten von mir. Alle weiteren Untersuchungen laufen bei dir im Labor. In unserem Labor.«
»Hoppla!«
»Ist doch klar. Die eigenen Kollegen dürfen da gar nicht ran. Du kennst doch unsere internen Verfügungen.«
»Ja, dunkel erinnere ich mich, aber mit totgeschlagenen Polizisten hatte ich es bisher noch nicht zu tun.«
»Wo finde ich dich, wenn ich wieder in Karlsruhe bin?«
»Auch im Wald«, antwortete Willms. »Ich mache heute Abend eine Radtour durch den Hardtwald. Auf dem Bike kann man die Hitze am besten aushalten. Fahrtwind kühlt.«
»Dann pass bloß auf. Der Franz war auch in Sportklamotten unterwegs, als er eine übergebraten bekam.«
»Keine Sorge, du weißt ja, ich bin flott. Mich kriegt so schnell keiner. Und deine Schwarzwaldsouvenirs kannst du bei unserer Bereitschaft abgeben. Ich sag denen Bescheid, dass du noch vorbeikommst.«
Lindt legte auf und drückte gleich danach die Kurzwahl für den Anschluss seines Büros in der Beiertheimer Allee.
Paul Wellmann meldete sich sofort. »Na endlich. Wir sind schon ganz nervös.«
»Ihr braucht euch keine Sorgen um mich zu machen«, beruhigte ihn Lindt. »Ich bin zwar immer noch im tiefen, dunklen Wald, aber ein toter Kommissar pro Tag reicht ja.«
»Einer ist einer zu viel.«
»Stimmt, und deshalb sind jetzt wir am Start. SOKO ›Löwe‹. Alle Mann, die wir kriegen können. Du solltest gleich mal sehen, wen du loseisen kannst. Zehn brauchen wir mindestens. Dann vielleicht noch Freudenstädter Kollegen vom Streifendienst.«
»Niemanden von der dortigen Kripo?«
»Nein, die sind raus. Näheres morgen früh. Mach einen Besprechungsraum klar.«
»Acht Uhr?«
»Passt.«
Mehr Kommunikation war zwischen den beiden erfahrenen Ermittlern nicht nötig. Seit langem waren sie bestens aufeinander eingespielt und verstanden sich blind.
Zu Hause rief Lindt erst an, als er sich bereits auf der Heimfahrt befand und mit weit offenem Schiebedach an der Ampel mitten auf dem Freudenstädter Marktplatz warten musste.
»Jetzt möchte ich doch wissen, was wir heute Abend essen«, begrüßte er Carla. »Wird aber mindestens noch zwei Stunden dauern. Muss unserer KTU eine Ladung Spurenträger vorbeibringen.«
»Ist gut«, antwortete seine Frau. »Ich mache uns was sommerlich Leichtes. Tomate-Mozzarella, was hältst du davon?«
»Vielleicht ein saftiges Hüftsteak dazu? Zeit zum Essen war bisher nicht.«
»Ist aufgetaut, bis du kommst.«
»Schön, dass du noch da bist und auf mich wartest«, sagte Lindt nach kurzer Pause. »Ist nicht selbstverständlich. Manche Polizistenfrauen brennen auch mit dem Erstbesten durch, wenn sie zu lange alleingelassen werden.«
»War das so bei deinem Kühn?«
»Erzähle ich dir später. Ach, was hast du heute so gemacht?«
»Zum Beispiel gearbeitet«, kam es etwas spitz zurück. »Oder was denkst du denn?«
Der nächste Morgen begann mit einer großen Lagebesprechung im Konferenzraum. Oberstaatsanwältin Lea Frey war per Videoschaltung dabei. Überlebensgroß, ihr markantes Konterfei auf dem riesigen Flachbildschirm an der Wand. Eine Kamera war in den Raum gerichtet, damit die »Eiserne« in ihrem Rottweiler Büro alle Beteiligten gut sehen konnte. Auf den Tischen verteilte Mikrofone sorgten für klare Verständigung.
Tatsächlich hatte es Paul Wellmann am gestrigen Abend noch geschafft, die von Lindt geforderte Personenzahl für die Arbeit der Sonderkommission »Löwe« zusammenzubekommen.






