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„Adamsapfel? Du hattest doch Schildknorpel gesagt?“
„Ach, wusstest du nicht, dass das dasselbe ist? Schildknorpel oder Cartilago thyroidea, im Volksmund auch Adamsapfel genannt.“
„Und was wundert dich dann daran? Mich wundert nämlich jetzt nichts mehr. Er ist doch auch ein männliches Attribut, genau wie die Genitalien. Er sollte entmannt werden – in jeder Hinsicht. Nur warum?“
„Ja, warum? Dafür habe ich auch keine Erklärung. Vielleicht eine verschmähte Liebe. Aber du hast recht, das könnte eine sinnvolle Erklärung sein. Manchmal muss man Dinge erst aussprechen, bevor sie einem richtig ins Bewusstsein dringen.“
„Morgen werden wir die Haushälterin befragen. Sie ist momentan bei ihrer Schwester. Mal sehen, ob sie mehr weiß oder eine Idee hat. Als Tatverdächtige fällt sie aus. Sie ist schon seit Samstag verreist.“
„Selbst wenn sie in den Pfarrer verliebt war oder mit ihm eine Beziehung hatte, dann wird sie doch nicht so lange gewartet haben, um ihn jetzt noch umzubringen. Sie fällt sowieso aus, weil sie den schweren Körper unmöglich von der Kastrationsstelle ins Wasser gezogen haben kann. Und von selbst gegangen ist er bestimmt nicht. Du kannst davon ausgehen, dass er bewusstlos war. Der Schmerz, der Blutverlust – keine Chance.“
„Sei’s, wie es ist. Wir wissen noch zu wenig. Aber jetzt fahre ich erst mal nach Hause. Morgen früh geht es weiter.“
„Dann gute Nacht, Herr Isegrim, Grünkäppchen muss noch aufräumen.“
„Du bist plemplem, ehrwürdige Mechthildis, die Leichen haben dich wuschig gemacht. Beschäftige dich mal mehr mit den Lebenden.“
Hetzer schmunzelte über die schrullige Pathologin und dachte, dass sie mindestens so gaga war wie seine Lady zu Hause.
Jetzt noch schnell nach Rinteln zur Dienststelle, dachte er, den Wagen tauschen und dann nach Hause in sein Paradies am Hang.
„Hör mal“, sagte Peter zum Abschied, „ist dein Hund eigentlich sonst den ganzen Tag allein?“
„Nee, eine Nachbarin geht zweimal am Tag mit Gaga, außerdem sind die Katerbrüder da, die mit ihr kuscheln.“
„Ich wollte nur sagen, ich hätte nichts dagegen, wenn wir sie gelegentlich mitnehmen.“
„Du bist ein feiner Kerl, dass du an so was denkst. Ich bin froh, dass wir jetzt zusammenarbeiten. Also, dann bis morgen. Mal sehen, was der Tag bringt.“
Abendgedanken
Hetzer schwang sich in seinen Ford. Er war doch noch gut in Schuss. Was sind schon acht Jahre. Hetzer gehörte nicht zu den Menschen, die spätestens alle zwei Jahre ein neues Auto brauchten. Für ihn war es einfach ein Transportmittel, mit dem man trocken von A nach B kam. Solange keine Macken auftraten, gab es keinen Grund für eine Veränderung. Veränderungen waren überhaupt nichts für ihn, dachte er und fragte sich, seit wann er das so massiv empfand.
Vielleicht seitdem es sie nicht mehr gab. Da musste wenigstens alles andere möglichst so bleiben wie es war, damit er Halt fand.
Nachdenklich fuhr er den Kirschenweg hinauf und parkte auf seinem Hof. Emil kam ihm schon flügelschlagend entgegen. Als Hetzer ihm den langen Hals kraulte, dachte er, dass es besser wäre, spätestens im Frühjahr einen Artgenossen anzuschaffen. Es war nicht gut, so allein zu sein. Für Emil. Im Sommer war es einfacher, da war Hetzer viel draußen. Und Emil in seiner Nähe. Gaga war inzwischen auch schon am Gartentor und wedelte. Sie hatten eigentlich nichts auszustehen, denn es gab Moni. Moni Kahlert war seine Nachbarin. Anfang 60, sehr sportlich und tiervernarrt. Ihr ultrakurzer Haarschnitt ließ die zierliche Frau zehn Jahre jünger aussehen. Moni war die Einzige, die ohne Furcht Stall, Hof und Haus betreten konnte. Die Tiere liebten sie. Manchmal hatte er den Eindruck, dass sie auch heimlich Staub wischte, doch er stellte ihr diese Frage nie. Im dämmernden Tageslicht kam es ihm heute so vor, als ob er besser durch die Fensterscheiben sehen konnte. Doch auch das würde ein offenes Geheimnis zwischen den beiden bleiben. Es war gut, dass es Menschen wie Moni gab. Hetzer wusste das zu schätzen und lud sie ab und zu zum Essen ein.
Als er vor dem Kaminofen kniete und die Asche entfernte, strichen die Katerbrüder um seine Beine. Das war das allabendliche Ritual. Sie wussten genau, dass es gleich warm werden würde und machten es sich auf dem Biedermeiersofa bequem.
Hetzer wartete, bis er sicher sein konnte, dass das Feuer nicht wieder ausgehen würde und ging in die Küche. Die Kartoffeln waren schnell geschält, halbiert, mit Öl und Rosmarin bestrichen und nach dem Salzen in den Ofen geschoben. Zwei Scheiben Rinderbraten in einer Rotweinsoße mit Gemüsebindung waren noch vom Sonntag übrig geblieben. Jetzt konnte er sich genüsslich ein Stündchen vor den Kamin legen, bis die Rosmarinkartoffeln fertig waren.
Emil war schon gefüttert und im Stall, Gaga lag ihm zu Füßen und die Kater schmiegten sich an seine Beine. Das waren fast Abende wie früher. Als sie noch da war. Aber daran wollte er nicht denken, oder doch? Er hatte dazugelernt. Am Anfang hatte er die Leere verdrängt, war viel unterwegs gewesen. Hatte Freunde getroffen oder eingeladen. Nur nicht allein sein mit sich. Mit sich und dem Schmerz. Der Schmerz, dieser unerträgliche, der nicht vorbeiging. Für den es keine Heilung gab.
In den Monaten, in denen er vom Dienst freigestellt gewesen war, musste er irgendwann begreifen, dass er sich ihm stellen musste, dass er ihn annehmen musste. Es machte keinen Sinn, die Orte zu meiden, an denen er mit ihr glücklich gewesen war. Was nützte es, das Schicksal zu verfluchen. Sie war fort und er musste weiterleben. Ohne sie und doch mit ihr. Mit den Erinnerungen an sie. Mit dem wohligen Gefühl, mit der Liebe, die er fühlte. Manchmal sprach er mit ihr und ahnte, was sie geantwortet hätte. Er war immer noch verbunden mit ihr. Mit niemandem würde er jemals wieder so eins sein. Bei diesen Gedanken und dem beruhigenden Schnurren der Katerbrüder schlief er ein, bis ihn der Backofen mit lautem Piepen weckte. Mühsam stand er auf, reckte sich und ließ das Fleisch auf dem Herd kurz in der Soße warm werden. In diesen Minuten deckte er rasch den Tisch, entkorkte eine Flasche Rotwein und nahm die Rosmarinkartoffeln aus dem Ofen. Hetzers Essbereich war eine wundersame Mischung aus alten Stühlen und einer Bank, die er in Nienstädt zusammengesucht hatte. Etwas aufgearbeitet, neu gepolstert und mit Lederbezügen versehen, sahen sie trotzdem nicht aus wie neu. Zusammen mit dem Tisch schmiegten sie sich in die Ecke des Wohnzimmers, wo die Treppe nach oben führte. Meist saß Hetzer auf der Bank. So hatte er den Raum im Blick und konnte auch von hier das Feuer sehen. Gaga verfolgte Wolf mit Nase und Augen, doch sie wusste, dass sie nichts bekam.
Man konnte Hetzer ruhigen Gewissens als Gourmet bezeichnen. Während er einen Schluck Rotwein im Mund zergehen, einen weiteren mit dem Rindfleisch melangieren ließ, dachte er an den toten Pfarrer. Es war für ihn so wenig verständlich, warum jemand Interesse daran haben könnte, einen alten Mann zu verstümmeln und dann in die Weser zu stoßen. Die kriminelle Energie des Tathergangs war enorm. Inwieweit das auf die Motive des Täters hindeuten würde, mussten sie herausfinden. Er würde morgen mit der Haushälterin sprechen, ob in der nahen Vergangenheit irgendetwas Außergewöhnliches passiert war oder ob der Pfarrer sich verändert hatte. Er musste auch Mechthild fragen, ob die DNA-Spuren der Kleidung schon ausgewertet waren und ob sich daraus irgendein Hinweis auf den Täter ergab.
Die Backofenkartoffeln waren vorzüglich. Hetzer bestreute sie ein bisschen mit Fleur de Sel. Dieses besondere Meersalz hatte ein anderes Aroma als herkömmliches Salz. Seine früheren Kollegen hatten immer abgewunken, wenn er so viel Aufheben um sein Essen machte oder gar seinen Tee genau nach Temperatur und Ziehzeit kochte. Sie machten gerne ihre Witze über ihn, aber sie waren Freunde gewesen, als es darauf ankam. Das war das Wichtigste. Über die Flachserei hatte er sich eher amüsiert und beim Fastfood angeekelt die Brauen hochgezogen. Wobei er gelegentlich einer Portion Pommes frites gegenüber nicht abgeneigt war, wenn sie gut gemacht war.
Nach dem Essen legte er sich noch ein Weilchen mit einem Buch auf sein Sofa und verpasste den Moment, als ihm die Augen zufielen. Das führte später dazu, dass die zunehmende Kälte ihn weckte und nach oben ins warme Bett trieb.
Im Netz
Montag, 4. Oktober 2010, 21:49 Uhr
Männer ließen sich leicht fangen. Sie waren so vertrauensselig. Vor allem bei Frauen. Denen konnten sie meist nicht widerstehen. Alkohol vernebelte ihnen zusätzlich die Sinne. Doch er hatte eine besondere Gabe. Er wirkte auf beide Geschlechter gleichermaßen anziehend.
Die Damen begehrten ihn fürs Bett und als Lebenspartner. Die Männer sahen in ihm einen echten Kumpel. Er war der Typ Mensch, mit dem man durch dick und dünn gehen konnte, das fühlten beide. Männer und Frauen.
Benno Kuhlmann saß nach der Ratssitzung noch mit einigen Parteibrüdern im „Stadtkater“ und merkte nicht, dass er beobachtet wurde. Als sich das Lokal nach und nach leerte, fiel ihm der sympathische Mann auf, der da hinten so einsam am Tisch saß. Wähler waren immer wichtig. Vor allem neue. Kuhlmann schnappte sich sein Glas und ging – bereits leicht schwankend – auf den Fremden zu.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte er mit seinem gewohnten Politikerlächeln.
„Bitte, gerne.“
„Sie sind sicher neu in der Stadt, wenn Sie hier so spät noch allein sitzen.“
„Nicht so neu, dass mich noch nichts stört, aber ich bin auch noch nicht so lange hier, dass ich wegziehen müsste.“
Und hier konnte Benno Kuhlmann einhaken. Er fragte nach. Wollte alles über den angenehmen Fremden wissen, vor allem, wo er ursprünglich herkam, wie es ihn hierher verschlagen hatte und wie es um seine politische Gesinnung stand. Auch, was er in Rinteln machte, wie es ihm dort gefiel, und so verstrickte sich Kuhlmann genau in dem Netz, das extra für ihn gesponnen worden war. Benno war sich sicher, einen neuen Wähler, ja vielleicht sogar einen Freund gefunden zu haben.
Lachend verließen sie später am Abend das Gasthaus, gingen über den Marktplatz und durch den Park, wo sie sich im Dunkel verloren.
Marga Kuhlmann merkte noch in der Nacht, dass etwas nicht stimmte. Benno mochte ihr nicht immer treu gewesen sein, aber gegen drei, halb vier kam er spätestens nach Hause. Jetzt war es halb fünf und somit fast schon Morgen, doch die Seite neben ihr im Bett war leer geblieben.
Sie stand auf und ging durch die hohen Räume. Vielleicht war er auf dem Sofa eingeschlafen. Doch auch dort war niemand. Sie geriet in Panik. Sah ihn im Geiste angespült am Weserufer oder mindestens aber im Wassergraben ertrunken. Sie wusste, dass er gerne dem Alkohol zusprach.
Gegen acht informierte sie die Polizei. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass er nie wiederkommen würde. Etwas war zu Ende. Sie fragte sich, ob sie traurig wäre, wenn sie recht hätte und konnte sich diese Frage nicht beantworten. Ihre Ehe hielt nun schon über zwanzig Jahre – mehr oder weniger. Die Kinder waren aus dem Haus, sie hatte nie in ihrem Beruf gearbeitet. Sonst hatte sie für ihn alles gemacht. Immer adrett, alles aufgeräumt, der Garten ordentlich. Sie hatte vielversprechende Gäste bekocht, Kuchen gebacken für Hinz und Kunz und alten Leuten vorgelesen.
Er hatte repräsentiert, wichtig geguckt und sich nicht in die Karten sehen lassen. Sie wusste nichts von ihm. Ein Fremder war er für sie im Laufe der Zeit geworden. Ein Schwätzer, der sich selbst am liebsten reden hörte und manchmal dabei sogar in den Spiegel sah. Es verband sie nichts mehr mit ihm als die Vergangenheit und vielleicht die Gewohnheit des Alltags. Doch ohne ihn hatte sie gar nichts.
Es klingelte. Das wenigstens war ein Vorteil von Bennos Bekanntheitsgrad. Die Beamten kamen zu ihr und nahmen die Vermisstenanzeige auf.
Die Bescherung
24. Dezember 1971, gegen 17 Uhr
„Susi, du kannst reinkommen, der Weihnachtsmann war da. Beeil dich, dann kannst du ihn noch mit dem Schlitten durch die Nacht wegfahren sehen.“
Die Mutter gab immer alles in der Weihnachtszeit. Schon Tage vorher wurde eingekauft, gekocht und gebacken. Eigentlich begann der Zauber zum ersten Advent, wenn sich die ganze alte Villa veränderte. Dort ein Mistelzweig über der Tür, Tannenzweige in Vasen, Kugeln im Fenster und Kerzen auf dem Adventskranz. Es duftete anders zu dieser Zeit, es fühlte sich auch anders an. Irgendwie weicher und ruhiger.
Susi hatte die ersten Tage der Weihnachtsferien damit verbracht, Winnetou II zu lesen.
Andere in ihrer Klasse waren noch nicht so weit, dass sie Bücher lesen konnten. Susi hatte sich das Lesen schon vorher selbst beigebracht. Das war im Grunde ganz einfach gewesen.
Sie wusste nicht, wieso die Erwachsenen so ein Geheimnis daraus machten.
In den Winnetou-Büchern war Susi völlig aufgegangen. Da war sie selbst zum Indianer geworden, hatte jedes Pferd im Griff und beherrschte die Kunst der Rauchzeichen. Im Sommer war sie nie anders anzutreffen als mit Köcher und Federschmuck. Pfeil und Bogen hatte sie sich selbst geschnitzt. Ein Stück Angelschnur hatte sie von Thomas bekommen. Die Prärie rund ums Haus und der angrenzende Wald gehörten ihr.
Sie war ganz gespannt auf die Bescherung. Schließlich hatte sie sich wichtige Dinge gewünscht. Reitstunden, eine Angel und natürlich Winnetou III. Den wollte sie bis zum Ende der Ferien durchgelesen haben. Darum zögerte sie auch nicht einen Moment, als Mutter nach ihr rief. Sie stürmte ins Wohnzimmer, in dem der Weihnachtsbaum stand. Eine Riesentanne von über drei Metern. Über und über mit Äpfeln, Nüssen, Kugeln und Kerzen geschmückt. Sie rannte auch zum Fenster, weil sie wusste, dass Mutter dachte, sie glaube noch an den Weihnachtsmann.
„Ach, schade Mama, er ist schon weg!“
„Da kann man nichts machen“, sagte Mama mit einer Spur Bedauern in der Stimme. „Na, dann lass uns mal die Geschenke auspacken.“
Susi rannte zu den Päckchen unter dem Baum. Wie herrlich, alles bunte Schachteln mit Schleifen – eine schöner als die andere.
„Dies hier ist für dich!“, sagte Mama und strahlte.
Susi zog die Schleife auf, wickelte den Gegenstand aus dem Papier und erstarrte. „Hanni und Nanni sind immer dagegen“ von Enid Blyton. Das war nicht ganz das, was sie sich gewünscht hatte.
„Freust du dich?“, fragte Mutter, und sie brachte es nicht übers Herz, sie zu enttäuschen.
„Ganz toll, Mama, wirklich.“
„Und hier kommt das Hauptgeschenk!“, erklärte Vater mit Stolz in der Stimme.
Es war nur ganz klein, eigentlich mehr ein Briefumschlag. Ah, dachte sie, das muss der Gutschein für die Reitstunden sein, den sie sich so gewünscht hatte. Eilig riss sie das Geschenkpapier ab und öffnete die Karte: Ballettstunden, zweimal wöchentlich.
Welche Schmach. Was sollte das? Kannten die eigenen Eltern sie so wenig? Zu nichts anderem war sie weniger geeignet. Sie konnte auf Bäume klettern, Dämme bauen. Notfalls konnte sie einen Regenwurm essen – aber Ballett?
Kleine Tränen rannen ihr die Wangen herunter.
„Sieh nur, Otto!“, rief Mutter, „Susi ist ganz überwältigt. Wir haben alles richtig gemacht. Jetzt wird aus unserem Mädchen eine feine Dame.“
Mit Mühe packte Susi ihr Tütü aus und ihre ersten Ballettschuhe. Sie weinte immer noch.
„Na, na, so beruhige dich doch wieder“, sagte Vater ganz gerührt.
Für Susi war eine Welt zusammengebrochen. Ein Teil ihrer unbeschwerten Kindheit endete in dem Moment, als sie – ihrem Stand gemäß – in die richtige Richtung geleitet werden sollte. Mit Liebe zwar, aber auch mit der Unwissenheit blinder Eltern, die ihre Kinder zu dem machen wollen, was sie selbst für sich nie gehabt hatten.
Bennos Verschwinden
Kurz nachdem sich Peter und Wolf an ihren Schreibtischen niedergelassen und den ersten Kaffee getrunken hatten – für Wolf war es der zweite – klingelte das Telefon.
Der bekannte Politiker Benno Kuhlmann sei verschwunden, teilte ihnen Mensching mit. Sie sollten sich sofort auf den Weg machen.
„Den Kaffee wird man doch wohl noch austrinken dürfen!“, grummelte Peter.
„Davon taucht er auch nicht sofort wieder auf, wenn wir uns die Zungen verbrennen oder ihn kalt werden lassen.“
„Ich koche dir später neuen. Jetzt nimm noch einen Schluck und dann komm. Wir wollen Frau Kuhlmann nicht warten lassen. Sie ist bestimmt unruhig und ängstlich. Heute Morgen stand schon in der Schaumburger Zeitung, dass gestern ein Toter an der Weser gefunden worden ist.“
„Ja und? Ihr Mann ist doch erst heute Nacht verschwunden, wenn ich den Chef richtig verstanden habe. Das kann er dann ja wohl nicht gewesen sein.“
„Nein, aber sie könnte in der Angst leben, es könne ihrem Mann ähnlich ergehen.“
„Nur, weil der beim Vögeln irgendwo verschlafen hat? Der ist doch als Schürzenjäger bekannt.“
„Egal, da kann sie ja nichts dafür. Wir müssen Rücksicht nehmen.“
Mit einem letzten Schluck Kaffee schnappte sich Peter seine Lederjacke und grinste.
„Ist ja schon gut. Ich komme.“
Das Haus der Kuhlmanns war in jedem Fall sehenswert. So eine gut restaurierte Villa aus der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts sah man nicht so oft von innen. Für Hetzer war sie ein Traum. Er liebte nicht nur Antiquitäten, sondern auch alte Häuser. Dieses war zwar einige Nummern zu groß für ihn, aber wunderschön. Ein Teil der Möbel schien auch noch aus der Zeit zu stammen. Alles war bestens in Schuss und stilvoll mit Neuem kombiniert worden.
Marga Kuhlmann saß etwas verloren auf dem cremeweißen Sofa. Man sah ihrem Gesicht an, dass sie geweint hatte. Jetzt machte sie aber einen eher gefassten Eindruck.
„Frau Kuhlmann“, begann Hetzer, nachdem er sich vorgestellt hatte, „wann haben Sie Ihren Mann zum letzten Mal gesehen?“
„Das ist gestern Abend so kurz vor halb acht gewesen, als er zum Stammtisch in den ,Stadtkater’ gegangen ist.“
„Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? Hat er sich anders benommen? Hat er sich anders gekleidet? Hatte er eine Tasche dabei oder fehlen sonst irgendwelche Kleidungsstücke?“
„Meinen Sie, mein Mann hätte mich verlassen? Das glauben Sie doch selber nicht. Das würde er nie tun. Hier hat er doch alles. Ansonsten macht er sowieso, was er will.“
„Wie meinen Sie das? In Bezug auf Frauen? Hatte Ihr Mann Affären?“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Wir führen eine gute Ehe.“
„Ist es nicht so“, warf Peter ein, „dass es im letzten Jahr einen kleinen Skandal gegeben hat? Dass ihr Mann eine Liaison mit einer sehr viel jüngeren Frau hatte? Das wird Ihnen doch nicht entgangen sein. Immerhin stand es sogar in der Zeitung.“
Marga Kuhlmann begann wieder zu weinen.
„Er ist trotzdem nachts immer wieder zu mir nach Hause gekommen ... Er hat auch keine Tasche gepackt. Es fehlen nur die Sachen, die er gestern Abend anhatte.“
„Es tut mir leid, wir müssen Sie das fragen. Wissen Sie, welche Geliebte Ihr Mann zurzeit hat? Oder gibt es mehrere? Es wäre sehr wichtig, wenn Sie uns die Namen sagen könnten.“
Marga schüttelte den Kopf, aber Hetzer und Kruse hatten den Verdacht, dass sie es nicht wissen wollte und ihre Augen davor verschlossen hatte.
„Wir können jetzt nicht viel tun, wenn wir keinerlei Anhaltspunkte haben, Frau Kuhlmann. Wir werden uns aber bei seinem Stammtisch und im ,Stadtkater’ erkundigen, ob gestern Abend irgendetwas anders war als sonst. Oder ob jemand etwas gesehen hat. Wo waren Sie eigentlich gestern Abend?“
„Ich war beim Chor“, sagte Marga geistesabwesend. Sie schien irgendwo ganz weit entfernt zu sein.
„Vielen Dank!“, sagte Kruse, „bitte bleiben Sie sitzen. Wir finden schon allein hinaus.“
Später im Wagen sagte er zu Hetzer: „Jetzt sag mir mal, wie man an so einem Mann hängen kann? Da ist doch irgendetwas schief. Ich bin ein anständiger Kerl und suche schon seit Jahren nach einer Frau. Und? Was passiert? Rein gar nichts. Es interessiert sich einfach keine für mich.“
„Du musst dir auch eine Lady anschaffen“, schmunzelte Hetzer, „das ist die Lösung. Sie hat alle Eigenschaften, die man bei einer Frau schätzt – bis auf ein paar Kleinigkeiten. Darum koche ich auch lieber selbst.“
„Du bist echt eine Witzpille! Nee, aber mal im Ernst. Meinst du, die Kuhlmann liebt ihren Mann wirklich? Ich wäre doch froh, wenn das Schwein weg wäre. Er hat hier in Rinteln wirklich einen üblen Ruf. Hinter der hohlen Hand werden ihm krumme Machenschaften vorgeworfen. Es heißt, er biege sich Recht und Gesetz in manchen Dingen ganz schön zurecht. Außerdem hat er teilweise sehr radikale Ansichten. Zum Beispiel, was Lebensgemeinschaften gleichgeschlechtlicher Paare betrifft.“
„Puh, wirklich ein sympathisches Kerlchen und politisch etwas weit rechts, denke ich. Aber dienstlich ist es nicht unsere Aufgabe, darüber zu urteilen oder zu denken, es sei weniger wichtig, ihn zu finden, bloß weil er ein korruptes, unehrliches und leicht braun angehauchtes Arschloch ist.“
„Das habe ich auch nicht gesagt, Wolf, ich wollte dir nur möglichst viel über ihn erzählen, damit du dir ein Bild machen kannst. Man kriegt nicht so mit, welche Politiker in den Nachbarstädten ihr Unwesen treiben.“
„Da hast du recht. Ich denke, wir fahren jetzt erst mal zum ,Stadtkater’ und sprechen mit dem Personal. Vielleicht hat jemand doch etwas gesehen. Es könnte sein, dass er mit einer Frau weggegangen ist. Das ist der erste Punkt, an dem wir ansetzen werden.“
Im „Stadtkater“ entschlossen sich Hetzer und Kruse, auch eine Kleinigkeit zu essen. Es war inzwischen fast Mittag und so war das Angenehme mit dem Nützlichen sinnvoll zu verbinden. Wolf entschied sich für Zanderfilet, doch Peter brauchte etwas Deftiges und wählte den Elsässer Flammkuchen.
Während sie auf das Essen warteten, fing Hetzer den Kellner ab, als er die Getränke brachte.
„Entschuldigen Sie, waren Sie gestern Abend auch hier?“
„Ich bin fast immer hier!“, entgegnete der junge Mann mit gelangweiltem Blick.
Hetzer zeigte seinen Ausweis.
„Wir sind von der Kriminalpolizei und haben ein paar Fragen. Haben Sie einen Moment Zeit für uns?“
Sofort war der Mann wach und sagte: „Selbstverständlich, die Herren Kommissare. Einen Moment bitte, ich muss nur kurz an der Theke Bescheid geben.“
„Sagen Sie“, fragte Kruse, als der Kellner wieder bei ihnen am Tisch stand, „haben Sie gestern Benno Kuhlmann hier gesehen? Und setzen Sie sich doch bitte.“
Der junge Mann nahm zwischen Wolf und Peter Platz.
Endlich geschah hier mal etwas Aufregendes.
„Ja, der war wie jeden Montag mit seinem Stammtisch hier.“
„Und ist Ihnen etwas Besonderes an diesem Abend aufgefallen? War einer seiner Freunde komisch oder verändert? Hat es Streit gegeben? Sind alle gleichzeitig gegangen?“
„Halt, halt, das sind ganz schön viele Fragen auf einmal!“
„Ok, fangen wir mit der ersten an. Ist Ihnen etwas Besonderes aufgefallen?“
„Eigentlich nicht. Bis auf diesen einen älteren Stammtischbruder waren auch gestern alle da. Sie haben wie immer viel gequatscht – meist über Politik oder Weiber – und viel getrunken.“
„War bei den Gesprächen irgendetwas nicht so wie sonst?“
„Nein, ich glaube nicht. Es ist auch nicht heftig gestritten worden. Klar, bei diesen Diskussionen geht es immer ein bisschen heiß her, aber so einen richtigen Streit gab es nicht. Die ersten sind auch schon so gegen halb zehn nach Hause gegangen.“
„Und Kuhlmann? Wann hat der das Lokal verlassen?“
„Das muss so gegen halb elf gewesen sein.“
„Hm, knapp eine Stunde später ... Was hat er denn so lange gemacht?“
„Der letzte vom Stammtisch ist so kurz vor zehn gegangen und dann hat sich Herr Kuhlmann noch zu einem Herrn gesetzt, der dort hinten am Tisch saß.“ Er zeigte in die hintere Ecke des Gastraumes.
„Kannten Sie den Mann?“
„Nein, den habe ich hier noch nie gesehen.“
„Haben Sie ihn woanders schon mal irgendwo gesehen?“






