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„Nein, noch nie!“
„Wissen Sie, ob Benno Kuhlmann das Lokal später gegen halb elf allein verlassen hat oder ist er in Begleitung des Fremden weggegangen?“
„Wenn ich es richtig gesehen habe, waren beide plötzlich weg. Kuhlmann hatte mir schon vorher gesagt, dass der Verzehr und die Getränke des Mannes mit auf seine Rechnung geschrieben werden sollten. Ich war dann aber zwischendurch in der Küche. Als ich wiederkam, waren beide weg. Es kann gut sein, dass sie zusammen gegangen sind. Sie haben sich die ganze Zeit sehr angeregt unterhalten. Herr Kuhlmann schien völlig fasziniert zu sein.“
„Hat irgendjemand anders hier gesehen, ob beide zusammen gegangen sind?“
„Nein, ich war um diese Zeit allein im Schankraum. Die beiden waren die letzten Gäste. In der Woche ist um diese Uhrzeit meist nicht mehr so viel los, besonders montags.“
„Können Sie beschreiben, wie der Mann aussah?“
„Er war nicht besonders auffällig. Mittelgroß, dunkelblondes Haar, gepflegte, aber keine besonders teure Kleidung, für sein Alter ein bisschen zu bieder vielleicht. Die Augenfarbe konnte ich bei dem Licht hier nicht genau erkennen. Ach, eine Besonderheit ist mir noch aufgefallen. Er hat nach einem fleischlosen Gericht gefragt. Das muss natürlich nicht unbedingt heißen, dass er Vegetarier ist.“
„Das ist doch schon mal ein Anfang. Vielen Dank, dass Sie uns so detaillierte Auskünfte geben konnten. Das hilft uns bestimmt weiter.“
„Gern geschehen, ah, da klingelt die Küche, Ihr Essen ist fertig.“
Zander und Flammkuchen konnten sogar vor Wolf Hetzers kritischem Gourmetblick bestehen. Das Fischgericht sei ein Gedicht gewesen, erklärte er Peter, als er sich dezent mit der Serviette den Mund abtupfte.
„Der Flammkuchen war auch lecker, nur ein bisschen klein für einen wie mich“, grinste er.
„Es ist übrigens schade, dass der fremde Gast nicht mit Karte bezahlt hat. Dann hätten wir ihn.“
Peter lachte.
„Das wäre ja wohl zu einfach. Wie in einem schlechten Krimi. Wir werden schon unsere grauen Zellen noch ein bisschen fordern müssen.“
Auf der Dienststelle erwartete Hauptkommissar Mensching umgehend Bericht, damit er mit der Staatsanwältin Frau Dr. Kukla Kontakt aufnehmen konnte, um sie über den Stand der Ermittlungen zu informieren.
„Das ist ja noch äußerst mager, meine Herren, was Sie mir hier präsentieren. Mehr haben Sie noch nicht? Ein paar Befragungen im Umfeld des Pfarrers ohne Erfolg, außer, dass Sie jetzt wissen, dass es Josef Fraas ist und ein bisschen Palaver im ,Stadtkater’. Ich erwarte, dass Sie sich umgehend verstärkt um das Verschwinden von Benno Kuhlmann kümmern. Das hat höchste Priorität!“
„Verzeihen Sie, aber wir haben auch einen Mord aufzuklären! Benno Kuhlmann ist vielleicht bei einer seiner Geliebten ...“
„Habe ich mich undeutlich ausgedrückt? Ich wünsche, dass Sie den Fall Kuhlmann vordringlich behandeln. Das heißt nicht, dass Sie den Mordfall vergessen sollen. Und nun los, meine Herren. Sie haben genug zu tun.“
Hetzer und Kruse verabschiedeten sich knapp und verdrehten vor der Tür die Augen. Das war ja mal wieder klar. Die Seilschaften funktionierten immer. Der kleine Mann schien dagegen machtlos – aber nicht grundsätzlich ...
„Also: Vordergründig werden wir Menschings Anweisung befolgen, aber der Mord an Fraas hat für uns weiterhin Vorrang in den Ermittlungen.“
„Das sehe ich genauso“, knurrte Peter und machte ein verdrießliches Gesicht. „Und ich lasse mir überhaupt ungern in meine Arbeitsmethoden reinreden. Ich bin schließlich nicht erst seit gestern im Dienst.“
„Gut, dann sind wir uns ja einig. Also auf nach Hameln, zu Pfarrers Haushälterin. Und danach besuchen wir noch mal Bennos Frau. Mal sehen, ob sie eine Ahnung hat, wer der Fremde sein könnte.“
„Ziemlich vage Beschreibung, trotz allem. Das könnte auf viele zutreffen. Ich meine, er hat gut beobachtet, aber die Gestalt ist so nichtssagend.“
„Das ist vielleicht Absicht. Wenn es sich doch um ein Verbrechen handelt, will er nicht auffallen. Ich denke, es hat auch wenig Sinn, ein Phantombild zeichnen zu lassen. Wir sollten auf jeden Fall noch ein paar Tage damit warten. Es könnte doch sein, dass Kuhlmann plötzlich geläutert und verschämt wieder auftaucht und unter Muttis Rock kriecht.“
„Meinst du, sie würde ihn wieder aufnehmen, wenn er so lange bei seiner Liebsten war?“
„Bestimmt, du glaubst gar nicht, welche Anziehungskraft Macht und Geld haben. Stell dir vor, sie ließe sich scheiden. Neben der Schmach und dem Schmerz hätte sie einen enormen Verlust an Ansehen und Stellung hier in der Stadt. Nein, ich denke, es würde alles fein unter den Teppich des Vergessens gekehrt und das Leben liefe normal weiter. Was man in diesen Kreisen eben als normal empfindet.“
„Wahrscheinlich hast du recht, aber mir wird bei dem Gedanken schlecht.“
Kurz vor drei kamen sie in der Fontanestraße an. Sie beschlossen zu warten, bis die Mittagszeit vorbei war. Gegen 15:10 Uhr schlenderten sie Richtung Haustür und klingelten bei Heide Brüderl. Sie bewohnte die Räume oberhalb der ehemaligen Pfarrwohnung.
„Ja Jesses, kommens doch rein, meine Herrn. Darf ich Ihnen etwas anbieten. An Kaffee vielleicht und a paar Platzerl.“
„Ja, sehr gerne“, nickte Peter, der schon wieder ein Loch im Magen verspürte.
„Einen Moment bittschön, ich bin gleich wieder bei Ihnen.“
„Leicht bayrischer Einschlag, oder?“, fragte Hetzer mit einem Schmunzeln in der Stimme. Die Namen Fraas und Brüderl kommen mir auch nicht so eindeutig norddeutsch vor.“
„So, hier kommt der Kaffee und a paar Kipferl hätt i noch do dazua.“ Heide Brüderl verfiel zusehends in ihren Dialekt.
„Sagen Sie, kommen Sie ursprünglich aus Bayern?“
„Jo, hert ma des no? I bin damals mit’n Herrn Pfarrer von Minga kumma, Verzeihung, von München gekommen. Ober mir san jetzad scho fast vierzig Jor hier o’m bei die Preiß’n. Un jetzt is er oam von dene zum Opfer g’foin.“
„Frau Brüderl, wir sind aber schon ein Volk, auch wenn Bayern ein Freistaat ist. Außerdem wissen Sie überhaupt nicht, ob der Mörder nicht auch ein Bayer gewesen sein kann. Ein Feind aus alten Zeiten.“
Heide Brüderl schluchzte. Das Wort Mörder hatte sie aus der Fassung gebracht. Aber sie riss sich zusammen und versuchte, möglichst hochdeutsch zu sprechen.
„Der Herr Pfarrer hat überhaupt keine Feind net gehabt. Er ist ein guter Mensch gewesen. Mir ham hier ganz zurückgezogen gelebt. Nur immer mit dem Blick auf den Herrgott und die Jungfrau Maria.“
„Frau Brüderl, sagen Sie, haben Sie ein Verhältnis mit Pfarrer Fraas gehabt? Gibt es möglicherweise andere Damen, die ein Auge auf den Pfarrer geworfen hatten?“
Jetzt musste Heide trotz allem lachen.
„Ah geh, nur weil ich dem Pfarrer seine Haushälterin so viele Jahre gewesen bin, muss ich nicht gleich auch in sein Bett eini g’hupft sein. Nein, mir ham a guade Freundschaft g’pflegt und mehr net. Die Zeit schweißt einen halt trotzdem zamm.“
„Meinen Sie, dass es eventuell trotzdem jemanden geben könnte, der dem Pfarrer irgendwie etwas übel genommen hat? Hatte er woanders eine Freundin? War ein anderer Pfarrer auf ihn eifersüchtig oder neidisch?“
„Net, dass i wüst. Es hot vielleicht mal des oane oder andere G’schpusi ge’bn, aber des is fei a long her. Na, i könnt nix soagn, des oaner unsam guaden, oiden Herrn Pfarrer ebbes Boeis hot dun woill’n.“
„Wenn Ihnen noch etwas einfällt, würden wir uns freuen, wenn Sie uns anrufen würden.“ Hetzer überreichte ihr seine Visitenkarte, die er am Morgen druckfrisch auf seinem Schreibtisch vorgefunden hatte.
„Wann könn’ wir ihn denn begroab’n?“
„Das kann ich noch nicht sagen. Wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind, melden wir uns sofort bei Ihnen. Vielen Dank für Ihre Hilfe.“
„A guade Hilf bin i eahna net gwe’n. Entschuldigen’s schon und an schena Dog no.“
„Immerhin habe ich jetzt nicht mehr so großen Hunger!“, sagte Peter Kruse erleichtert und streckte sich im Dienstwagen aus.
Er hatte fast die ganze Schüssel Kipferl verdrückt und hielt sich jetzt den Magen. Darum musste diesmal auch Hetzer fahren, der den Sitz erst einmal vier Raster nach vorn schieben musste.
„Mann, bist du ein Riese, Peter. Das ist ja unglaublich. Wie groß bist du eigentlich?“
„Ich bin nur 1,99 m groß. Das geht doch noch. Ist unter zwei Meter.“
Während der Fahrt zurück nach Rinteln schlief Peter, der Große, ein wie ein Baby nach seinem Mittagsbrei. Wohlig zurückgelegt schnarchte er an der Schaumburg vorbei und ließ sich bis zu Bennos Haus kutschieren, das jetzt vielleicht schon das von Marga war, wenn Benno Pech gehabt hatte. Pfui, was für Gedanken, schalt sich Wolf. Inzwischen war es fast Feierabend, aber das wollten sie noch erledigen. Sie wollten Marga Kuhlmann fragen, ob sie den Fremden kannte, mit dem sich ihr Mann im ,Stadtkater’ getroffen hatte oder ob es eine Zufallsbekanntschaft war. Es konnte auch sein, dass Benno inzwischen wieder aufgetaucht war. Obwohl — dann hätten ihn die Kollegen informiert.
Vor Kuhlmanns Haus weckte er Peter, was eine schwere Aufgabe war, denn der Hüne steckte in tiefsten Träumen.
„Los, aufwachen, du Vielfraß. Wenn du nicht so reingehauen hättest, wärst du jetzt fitter. Zuviel Fett und Kohlehydrate! Das macht müde. Los jetzt!“ Er knuffte seinen Kollegen unsanft in die Seite.
„Hä?“, fragte Peter in diesem Moment wenig intelligent.
„Feuer auf dem Luhdener Klippenturm!“, rief Hetzer, und Kruse war wach. Er fuhr hoch und stieß sich den Schädel an der Fahrzeugdecke.
„Immer schön ruhig bleiben. Fehlalarm!“, lachte Hetzer.
„Du warst nicht zu wecken. Auf jetzt, wir sind bei Marga Kuhlmann und wollen sie nach dem Fremden fragen. Geht das rein in dein müdes Hirn?“
„Ich bin doch schon längst wach!“, meckerte Peter und rieb sich den Kopf. „Du Leuteschinder!“
Es dauerte ein bisschen, bis Marga Kuhlmann an die Tür kam. Es war erst sechs Uhr, doch sie wirkte verschlafen. Vielleicht hatte der Arzt ihr ein Beruhigungsmittel gegeben.
„Frau Kuhlmann“, sagte Hetzer an der Haustür, „wir wollen Sie nicht lange stören, wir haben nur noch ein paar Fragen. Ihr Mann ist mit einem Fremden gesehen worden, der mit ihm den ,Stadtkater’ verlassen haben soll. Hat Ihr Mann kürzlich eine neue Bekanntschaft gemacht? Kennen Sie den Mann?“
„Benno macht ständig neue Bekanntschaften. Er ist Politiker und immer auf Wählerfang. Wie sah der Kerl denn aus?“
„Mittelgroß, dunkelblondes Haar, eigentlich ziemlich durchschnittlich. Er könnte Vegetarier sein.“
„Das sagt mir nichts. Das könnte auch auf viele zutreffen.“
„Da haben Sie recht. Bis jetzt gibt es aber keine weitere Spur. Es hat sich auch niemand bei Ihnen gemeldet? Keine Drohbriefe? Keine Geldforderungen?“
Marga fiel in sich zusammen. Sie wirkte auf einmal ganz klein.
„Meinen Sie, dass mein Mann auch entführt worden sein könnte?“
„Das können wir nicht sagen, aber wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Bitte halten Sie Augen und Ohren offen. Gehen Sie ans Telefon, auch wenn es Ihnen schwerfällt. Sollte Ihr Mann entführt worden sein, werden die Entführer sich melden und ihre Bedingungen mitteilen.“
„Sollen wir Sie hineinbringen?“, fragte Kruse, der sich Sorgen machte, dass Marga Kuhlmann gleich an der Haustür umkippen würde.
„Nein, nein, das geht schon, vielen Dank.“
„Bitte informieren Sie uns umgehend, falls sich jemand melden sollte! Hier ist meine Karte. Sie können Tag und Nacht anrufen.“
Marga Kuhlmann nickte und schloss die Tür. Sie tat den Beamten leid. Es war schon mit Benno schwer gewesen, doch ohne ihn wirkte sie wie ein Häufchen Elend. Nicht lebensfähig, so als ob sie beschützt werden müsste. Doch das war nicht ihre Aufgabe.
Wolf und Peter beschlossen, Feierabend zu machen. Für heute war es genug. Morgen war ein neuer Tag. Selbst Hetzer beschloss später, nur noch ein Brot zu essen, denn jetzt war er zu allem zu müde. Auch der Kamin würde heute ausbleiben. Ihn gelüstete es nach seinem warmen, kuscheligen Bett, in dem er sofort in einen tiefen Schlaf fiel.
Im Verließ
Als Bennos Sinne zurückkehrten, spürte er, dass es kalt war. Widerlich kalt. Er lag auf blankem Stahl und konnte sich nicht rühren. Irgendwo tropfte es. Wieder und wieder. Er hatte keine Kraft herauszufinden, wo. Tropf, tropf, tropf, immer derselbe Rhythmus. Ganz dicht. Doch er konnte nichts erkennen. Schwärze. Nacht – in ihm und um ihn herum.
„Hallo, haaaallooo!“, kam es leise und verzerrt aus seiner Kehle. Sie war rau, tat weh, und da war noch ein anderer Schmerz. Tiefer, dumpfer. Irgendwo weiter unten.
Tropf, tropf, tropf. Das Monotone dieses Geräuschs machte ihn langsam verrückt. Es war sonst nichts im Raum. Außer ihm und dem Tropfen. Sein Krächzen hallte von den Wänden zurück. Warum war er hier? Warum fror er so und warum kam er hier nicht weg? Er hatte auch keine Ahnung, wie lange er schon hier war. Es war so dumpf um ihn herum. Als ob Nebel alles Laute und Grelle verschluckte.
Erst langsam kehrten die Sinne zurück. Je wacher er wurde, desto größer wurde seine Panik. Vorsichtig fühlte er mit den Fingern auf dem Stahl und an sich selbst entlang, so weit er konnte. Er war nackt und er war festgeschnallt. Der Schmerz wurde immer stärker. Es tropfte jetzt lauter.
„He, zeig dich, du mieses Dreckschwein“, brüllte er und verschluckte sich dabei an seiner eigenen Spucke. Etwas war mit seinem Hals nicht in Ordnung. Der Schmerz in seinem Körper wurde unerträglich. Die Stille auch und das Tropfen in ihr. Vom Schleim musste er husten, doch das Husten durchbohrte ihn wie ein Dolch. Er schrie und auch das brachte nur noch mehr Schmerz.
„Ich wäre vorsichtig“, warnte eine sanfte Stimme. „Du könntest ersticken. Oder verbluten, wenn du so weitermachst.“
„Wieso denn verbluten?“, wimmerte Benno, „bin ich denn verletzt?“
„So kann man es auch nennen“, wisperte die Stimme. „Aber ich würde es eher als versehrt bezeichnen.“
Auf einmal klang die Stimme ganz nah. Was sollte das heißen, versehrt? Er lauschte. Das Tropfen war jetzt schneller. Und noch während er darüber nachdachte, warum das so war, dämpfte gnädiger Schlafall seine Ängste und Empfindungen.
Der Fremde war noch einmal zurückgekommen. Er breitete eine Decke über Benno aus. Das Projekt durfte nicht gefährdet werden, sein Werk war noch nicht vollendet. Dazu brauchte er Benno. Und er brauchte Benno lebend.
Hetzers Traum
Eine Kugel schwebte über ihm. Sie war doppelt so groß wie er selbst. Er wusste nicht, woraus sie bestand. Sie glitzerte leicht. Das Licht brach sich in ihr, als ob sie aus Tausenden von Scherben zusammengesetzt war. Das hätte schön sein können, doch irgendwie wusste er, dass sie böse war.
Er wagte es nicht, sich zu bewegen, auch nicht, als die Ratte an seinem Hosenbein hochkletterte. Sie quiekte leise. Die Kugel surrte drohend. Sie schien auf Geräusche zu reagieren. Vielleicht auch auf Bewegungen. Die Ratte würde sie beide umbringen, dachte er, aber er konnte sie nicht abschütteln. Das hätte noch stärkere Schwingungen verursacht. Hetzer konnte nicht erkennen, wie die Kugel befestigt war. Sie schien einfach im Raum zu schweben. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er hatte gelernt, selbst in den schwierigsten Situationen Ruhe zu bewahren. Er konnte auch länger als andere Menschen auf einem Platz stehen, ohne sich zu bewegen. Aber er war nicht darauf vorbereitet worden, dass dabei auch noch eine Ratte an ihm hoch lief. Sie war jetzt schon bis zu seinem Hals gekrabbelt. Dort war er empfindlich.
„Es ist gar nicht so schlimm!“, flüsterte die Ratte leise in sein Ohr. „Ich habe auch keine mehr.“ Dabei lachte sie so schrill, dass die Kugel in tiefer Resonanz anfing zu brummen und sich zu vergrößern.
„Halt die Klappe!“, zischte Hetzer, immer ihr Glitzern im Blick. Sie vibrierte jetzt und drehte sich um sich selbst.
Die Ratte rückte näher.
„Du brauchst auch keine. Bleibst sowieso ein einsamer Wolf.“
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“
„Von allem und nichts.“
Die Kugel war in symmetrische Schwingung geraten. Ihre Ausdehnung wurde immer größer. Das Brummen war fast nicht mehr zu ertragen.
Da öffnete die Ratte das Maul und biss Hetzer mit aller Wucht ins Ohr. Sein Schrei entfesselte das Inferno über ihm. Die Kugel platzte.
„Ich bin nicht schuld, du hast geschrien“, lachte die Ratte in jedem Spiegelbild der Skalpelle, die sich aus der Kugel gelöst hatten und wie Moskitos auf ihn zuschwirrten.
Hetzer wachte schweißgebadet auf. Er lebte noch. Genüsslich rollte sich der Kater auf ihm zusammen und schnurrte. Sofort fühlte er sein Ohr. Aber da war alles in Ordnung. Was für ein merkwürdiger Traum, die Anspannung fühlte er immer noch.
Hatte er etwas zu bedeuten?
Hetzer gehörte nicht zu den Männern, die solche Gedanken einfach wegwischten. Er selbst hielt viel von Intuition und Dingen, die unter der Oberfläche verborgen waren. Manches hörte man, ohne es zunächst für wichtig zu halten, aber es war da. Im richtigen Moment drängte es sich vielleicht ins Bewusstsein und war genau das Puzzleteil, das einem gefehlt hatte.
Warum war die Ratte dagewesen?
Warum die Skalpelle? Und was hatte das widerliche Vieh gesagt? Sie hätte keine und er bräuchte auch keine?
Weil er einsam sei und es auch bleiben würde?
Was brauchte man denn nicht in der Einsamkeit? Ohren? Weil niemand mit einem sprach? Nein, das konnte nicht sein, die Ratte hatte mit ihm gesprochen und ihn gehört.
Er nahm sich vor, das Bild im Kopf zu behalten. Eine Erklärung konnte er jetzt nicht finden.
Mühsam stand er auf und ging hinunter in die Küche. Er fühlte sich wie zerschlagen und trotzdem unruhig. Seine Oma hatte immer eine Milch getrunken, wenn sie nachts nicht schlafen konnte. Er hatte das von ihr übernommen. Die Milch hinterließ ein wohliges Gefühl. Stundenlanges Grübeln brachte nichts. In der Gemütlichkeit des warmen Bettes kehrte der Schlaf rasch zurück.
Als er am Morgen die Brötchen hereinholte, trat er auf etwas Weiches. Im Halbdunkel konnte er nicht genau erkennen, was es war. Bestimmt hatte Gaga irgendein Spielzeug herumgeschleppt. Er bückte sich, und als er genauer hinsah, wich er vor Ekel zurück. Da lag eine tote Ratte auf seiner Fußmatte.
Susis Geheimnis
An dem Weihnachtsabend im Jahr 1971 hatte Susi begriffen, dass ihre Eltern eine ganz andere Vorstellung von dem hatten, womit sie ihre Zeit verbringen sollte. Mit Überwindung ging sie in den Folgejahren zu den Ballettstunden. Tapfer trug sie das Tütü, in dem sie sich einfach lächerlich vorkam. Aber sie wollte ihren Eltern gefallen. „Hanni und Nanni” hatte sie an die Seite gelegt und auf „Winnetou III” gespart. Die albernen Internats-Geschichten interessierten sie nicht.
Glücklicherweise waren Vater und Mutter tagsüber beschäftigt. Die eigene Praxis im Haus kostete viel Zeit. Für Susi war das gut und schlecht. Wenn sie die Ballettschuhe aufgehängt hatte, schnappte sie sich Pfeil und Bogen und lief nach draußen. Immer draußen. Sie war so gerne draußen in der Natur. Sprach mit dem Wind, kletterte auf die alten Kirsch- und Apfelbäume und baute Dämme im Bachlauf. Zu jener Zeit gab es viele Kinder in den Gärten. Es war immer jemand zum Spielen da. Wenn sie sich heute zurückerinnerte, hatte sie den Eindruck, die Sommer waren immer schön gewesen. Keine Regentage. Nur ein Gewitter ab und zu.
Die Eltern sahen, dass Susis Noten hervorragend waren. Für den Tanz hatte sie wenig Talent. Und obwohl Vater und Mutter das bald erkannt hatten, waren sie doch der Meinung, dass diese Art körperlicher Ertüchtigung wichtig für sie sei, vor allem für die Haltung. Darüber hinaus ließen sie Susi in Ruhe, wenn sie mit Federschmuck durch die Gärten tobte.
Nur einmal – und das war ein unseliger Zufall – bekam Susi Hausarrest. Aus Bequemlichkeit wollte sie es den Jungen gleich tun, die es so einfach hatten, wenn sie draußen mal mussten. Einfach ran an den Busch, nicht erst umständlich nach Hause laufen und verpassen, wie Old Shatterhand mit Roter Büffel die Friedenspfeife aus Weide und Maiskolben rauchte. Es war so lästig, das Spiel zu unterbrechen. Susi dachte, dass sie als Indianer bestimmt ebenso gut an den Busch pinkeln, konnte und nach ein paar Mal hatte sie es auch raus, sich so geschickt in der Mitte nach vorn zu beugen, dass der Strahl einen Bogen machte. Immerhin ging sie grundsätzlich an einen Ort, wo sie allein war. In Gegenwart der Jungs schämte sie sich. Sie kam jetzt in das Alter, wo ein unbestimmtes Schamgefühl sie davon abhielt, sich in der Gemeinschaft zu entblößen. An einem Sommertag Ende August sahen die Eltern zufällig aus dem Fenster, als Susi direkt an der Hausecke ihr Höschen auszog, den Rock hob und gegen einen Busch pinkelte. Mit einem Vortrag über Verhaltensweisen, die von einer Heranwachsenden aus den besten Kreisen erwartet wurden, erstickten sie das Nachahmen noch im Keim. Drei lange Sonnentage musste Susi im Zimmer bleiben für ihr unziemliches Verhalten. So etwas tat eine junge Dame nicht, auch wenn sie erst zehn Jahre alt war.
Die Ratte
Wolf Hetzer mochte keine Ratten, und diese hier vor seiner Tür erst recht nicht. Es war schon steif, das eklige Tier, und er dachte darüber nach, ob sie ihm absichtlich vor die Tür gelegt worden war. Vorsichtig griff er das Vieh mit dem Taschentuch und ließ es in einen Beutel gleiten, der eigentlich für Tatortspuren vorgesehen war.
Er würde sich wieder Micas Spott zuziehen, wenn er ihr die Ratte brachte. Aber es konnte sein, dass der Mörder sich durch die Ermittlungen gestört fühlte und ihm eine Botschaft gesandt hatte. Das musste er wissen und vielleicht hatten sie Glück und, wer auch immer, hatte dabei nicht aufgepasst und es waren Spuren an dem Kadaver, die ihnen Hinweise geben konnten.
Noch während des Frühstücks rief er Peter an. Es schmeckte ihm heute nicht besonders. Was für ein Morgen. Sein Kollege lachte ihn nicht aus.
„Wieso kommst du darauf, dass dir jemand die Ratte vor die Tür gelegt hat?“
„Vielleicht sind wir Pfarrer Fraas’ Mörder schon gefährlich nahegekommen!“
„Du, mir fällt da noch was ein. Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass es Parallelen zum Mord geben könnte?“
„Inwiefern?“
„Na ja, der Pfarrer wurde schließlich ersäuft wie eine Ratte – und das in Hameln, wie es aussieht. Das ist ja fast ein kulturhistorisch interessantes Verbrechen. Und jetzt legt er dir eine Ratte vor die Tür. Quasi als Warnung. War die eigentlich kastriert, die Ratte?“
„Was? Na, du kommst auf Ideen. Also, ehrlich gesagt, habe ich ihre Genitalien nicht untersucht. Das kann Mica machen. Ich fasse das Biest nicht ein zweites Mal an. Deine Idee ist aber interessant. Ich bin gespannt, ob da was dran ist.“
„Dann lass uns abzischen. Ich bin gleich mit dem Dienstwagen bei dir. Du brauchst nur mit deiner Beute einzusteigen.“
Mica zog die Brauen hoch, als Peter und Wolf in der Tür zum Seziersaal standen. Zwei der Edelstahltische hinter ihr waren mit Tüchern bedeckt. Darunter etwas Unförmiges, was sie lieber nicht sehen wollten. Der Geruch war atemraubend. Mica hatte sich stark riechende Creme unter die Nase geschmiert.
„Einen wunderschönen guten Morgen, ihr Helden. Habt ihr schon neue Erkenntnisse? Kommt ihr voran?“
„Vielleicht“, sagte Hetzer und hielt der Pathologin den Beutel hin.
„Ist das ein Geschenk für mich?“
„Vielleicht eher für mich, ich weiß es nicht genau.“
„Und von wem hast du das?“ Mica schielte belustigt in die Tüte. „Ich bin ja froh, dass es nicht für mich ist.“
„Na ja, in gewisser Weise ist es jetzt für dich. Ich möchte nämlich, dass du das Tier auf menschliche DNA untersuchst.“
„Das ist doch nicht dein Ernst oder? Das ist eine Ratte.“
„Ich weiß, dass das kein Schmetterling ist. Ich denke, dass sie mir von Josef Fraas’ Mörder vor die Tür gelegt worden ist.“
Mica lachte. „Ach so. Hmm. Wieso sollte er das tun?“





