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Ich suche jede Falte meiner Schutzkleidung nach Skorpionen ab. Die giftigen Viecher werden höchstens fünf Zentimeter lang und nehmen von glasig-transparent über beige, braun und rot alle Farben der Wüste an. Mit ihrer perfekten Tarnung sind sie leicht zu übersehen.
„Na, alles krabbelfrei?“, fragt Felix und wuschelt sich den Staub aus den widerspenstig abstehenden Haaren. Als ich niesen muss, lacht er und lässt seinen Talisman vor meiner Nase baumeln. Den glitzernden Weltkugel-Anhänger von der Größe eines Tischtennisballs hat er immer dabei. Er benutzt ihn als Glücksbringer, rubbelt daran und küsst ihn, wenn er ein Spiel gewinnen will, oder flüstert ihm zu, was er sich wünscht. Ziemlich schrullig, doch irgendwie auch süß.
Jetzt reflektiert der glänzende Miniatur-Globus das Neonlicht der Schleuse. Er zeigt erstaunlich grüne Kontinente, wie sie in meinem Geschichtsbuch abgebildet sind. Vor zweihundert Jahren war in unserer Heimat nördlich der Alpen wirklich noch alles grün. Es gab schattige Wälder, Flüsse mit Schiffen darauf, sogar Seen zum Baden. Heute sind da nur noch Sand und Steine, soweit das Auge reicht. Nicht zu vergessen natürlich die Skorpione und Schlangen. Die einzige gute Klimazone, die wir heimlich Regenring nennen, war früher komplett mit Eis bedeckt. Die weiße Polkappe glitzert auf dem Erdball in Felix‘ Hand. Unvorstellbar.
Zurück in der Wohnung begrüßt mich meine Mutter mit den neuesten Nachrichten. „Dein Termin für die praktische Prüfung ist gekommen. Du bist Punkt zehn Uhr dran, sollst dich an der Pforte des Verwaltungstrakts melden.“
„Danke, ich werde mich beeilen.“ Das muss ich wirklich, denn ich habe nur noch zwanzig Minuten.
Meine Mutter wiederholt die offizielle Ansage in bemüht ruhigem Ton. „Wenn du bestehst, holt dich gleich im Anschluss ein Schnelltransporter ab und bringt dich ins Trainingszentrum nach Polaris. Du sollst keine persönlichen Gegenstände mitbringen, WERT wird dich rundum versorgen.“
Mir wird die Kehle eng. Falls ich den Test schaffe, kehre ich lange nicht mehr zurück. Ich spüre einen Kloß im Hals und heißen Druck auf den Augen. Bloß nicht weinen. Ich schlucke und versuche, meine zitternde Stimme zu kontrollieren. „Danke, Mama“, ist alles, was ich herausbringe, bevor ich mich an unseren kantigen Esstisch setze.
Meine Mutter füllt eine Schale mit Bohnenbrei und nimmt mir gegenüber Platz. Neben meine Esspappschachtel legt sie mir die Tagesration Vitaminpillen. Unsere frischen Paprika müssen wir verscherbeln, dafür pumpen wir uns mit billiger, von WERT gesponserter Vitamin-Chemie voll.
Anstatt die Tabletten einzuwerfen, ordne ich sie nach der Farbe. Gelb. Orange. Rot. Violett. Die ganze Zeit lastet der Blick meiner Mutter auf mir. Sorge, Wehmut und ein Schimmer Hoffnung spiegeln sich darin wider. Immer wieder holt sie Luft, als wollte sie etwas sagen, schweigt dann aber doch.
Um der drückenden Stimmung zu entfliehen, stehe ich auf und wende mich meinem Chamäleon zu. Ich öffne die Abdeckung des Terrariums, und Emil greift mit seinen Klammerzehen nach meiner Hand. Flink klettert er auf meinen Arm. Emil dreht ein Auge zu mir und das andere zu meiner Mutter, fast so, als wüsste er, wer ihn ab sofort füttert. Zum Abschied lässt er sich sogar über den stacheligen Rückenkamm streicheln, wobei sich die Schuppen unter meinen Fingern verfärben. Seine Seitenstreifen werden erst gelb, dann orange und nehmen schließlich ein leuchtendes Rot an. Als er mich aus seinen Kugelaugen anschaut, spüre ich neue Kraft. Ich schaffe das.
Ich schaffe das. Ich schaffe das.
Draußen vor der Tür höre ich Felix pfeifen. Schon fünf vor zehn! Hastig lasse ich Emil runter, umarme meine Mutter und drücke sie. Sie wendet sich ab, damit ich ihre Tränen nicht sehe.
Ich spurte hinter Felix her. Auf dem Weg zum Verwaltungstrakt laufe ich schnaufend neben ihm, während er über die möglichen Prüfungen spekuliert. „Vor ein paar Jahren haben sie Altrussisches Roulette nachgestellt“, behauptet er, „mit elektromagnetischen Pistolen. Die Chancen stehen eins zu sechs, dass die Waffe scharf ist.“
„So ein Quatsch. Das glaubt doch niemand.“
„Dann glaubst du es halt nicht. Aber gefährlich sind die Prüfungen immer.“
Mein Magen zieht sich zusammen. Da hat er recht. Das erzählt jeder.
„Wir müssen uns zusammentun“, meint Felix. „Als Team sind wir unschlagbar.“ Seinen Optimismus möchte ich haben.
Felix schlägt Pfeifzeichen zur geheimen Verständigung vor. Eine ansteigende Tonleiter gilt als Hilferuf, eine fallende bedeutet „Mach‘s wie ich“, und drei konstante Pfiffe heißen „Keine Ahnung“. Bittend blickt er mich von der Seite an.
„Okay, okay“, stimme ich seufzend zu. Irgendeinen Plan sollten wir haben. Dummerweise weist uns ein Angestellter des Testbüros sofort in getrennte Warteräume ein. Wir können nur noch schnell unsere Rauringe aneinanderklicken. „Das bringt Glück“, erklärt Felix noch schnell, bevor uns die Testleiter in unsere Kabinen bugsieren.
So viel zu unserem fantastischen Plan.
Während ich allein in dem kleinen Raum sitze, schaue ich mich aufmerksam um. Ein Regal mit diversen Gerätschaften füllt die gegenüberliegende Wand des schmalen Zimmers. Neben gläsernen Scanner-Röhren in unterschiedlichen Größen, den dazugehörigen Stativen, Ladestationen und Eingabepads liegen auch Integralhelme verschiedener Größen darin aufgereiht. In dem schummrigen Licht sehen sie aus wie eine Armada von Geisterkriegern, die nur darauf warten, zum Leben erweckt zu werden. Mein Gesicht spiegelt sich grotesk verzerrt in den Visieren der Helme.
Energische Schritte schrecken mich auf. Sie gehören zu einem athletischen Mann, der mit seinem dünnen schwarzen Overall aus dem Regenring stammen muss. So etwas Schickes trägt hier niemand.
„Emony Keller?“ Er spricht, wie er geht, schnell und zackig.
„Ja.“
Nach einem kurzen Blick auf seine Liste tritt er zum Regal und reicht mir einen Helm.
„Was ist das?“
„Ein Gehirnstrommesser. Aufsetzen.“
Ich hebe den erstaunlich leichten Helm hoch und senke ihn mit zittrigen Fingern über meine heiß glühenden Ohren. Sofort beschlägt mein Atem die Innenseite des Visiers. Das Zimmer um mich herum erscheint verzerrt. Ich kneife die Augen zusammen und kämpfe gegen ein aufsteigendes Schwindelgefühl an.
„Ich kann so schlecht sehen.“ Meine Stimme hallt dumpf in dem engen Helm wider.
„Das kommt von der Wölbung des Glases“, erwidert der Overallträger mit blecherner Stimme. Meine Haut juckt unter dem Helm, und sein Metallverschluss drückt mir an den Kehlkopf. Mir ist schlecht. Hoffentlich muss ich nicht gleich kotzen.
Der Testleiter bedeutet mir, vor die Tür an der Stirnseite der Wartekammer zu treten. Plötzlich öffnet sie sich, und ich kippe vor Schreck fast um.
Vor mir klafft ein quadratischer Betonschacht. Er ist so dunkel und tief, dass man den Boden kaum erkennt. Ich wusste nicht, dass unterhalb unserer Wohnetagen noch so weit hinuntergegraben wurde. Den Schacht überbrückt ein schmaler, rostiger Gittersteg.
„Auf den Steg treten.“
Das hatte ich befürchtet. Vorsichtig setze ich einen Fuß darauf. Das Metall quietscht und gibt nach. Ich atme tief ein und ziehe das zweite Bein nach.
Nur nicht runterschauen, ermahne ich mich.
Am anderen Ende der schmalen Brücke öffnet sich eine zweite Tür. Eine Gestalt, die ebenfalls einen Helm trägt, zuckt vor dem Abgrund zurück, blickt sich noch einmal um und betritt zögerlich den Steg. Mein Gegenüber ist genauso angezogen wie ich, allerdings größer, kräftiger, männlicher. Er guckt in die Tiefe und schwankt leicht. Unsicher bewegt er sich auf mich zu. Während er näher kommt, atme ich erleichtert auf, denn hinter dem spiegelnden Visier erkenne ich Felix.
Ich pfeife drei monotone Töne, die unter der Kopfbedeckung widerhallen, doch Felix reagiert nicht. Vorsichtig winke ich ihm zu. Anstatt auf unseren Geheimcode zu reagieren, starrt er mich nur ausdruckslos an. Ihm ist noch übler als mir, schätze ich.
„Der Auftrag lautet: den Gegner vom Steg werfen“, verkündet der Testleiter.
Mein Herz setzt einen Schlag aus. Wie bitte? Was???
Ich kann Felix doch nicht in den Abgrund werfen! Diesen Sturz überlebt niemand. Wollen sie uns etwa zu Mördern ausbilden? Wir bewerben uns als Kraftwerksarbeiter, nicht als Auftragskiller. Ich schaue mich nach dem Overallträger um, allerdings ist der nicht mehr da und hat die Tür hinter mir schon geschlossen.
Felix ist wie versteinert. Das Kinn vorgereckt, horcht er auf weitere Erklärungen. Bestimmt denkt er das Gleiche wie ich: Das können die nicht ernst meinen. Da dürfen wir nicht mitmachen! Er wird mir nichts tun, ich ihm auch nicht. So gibt es keine Verletzten, keine Verlierer. Und auch keinen Sieger. Damit sind wir durchgefallen. Beide.
Felix tritt einen Schritt auf mich zu und hebt die Hände. Mein Kopf ruckt hoch. Was soll das werden? Ich kann mich auf ihn verlassen – oder? Er wird doch nicht …
Sein harter Stoß gegen meine Brust trifft mich völlig unvorbereitet. Panisch schreie ich auf. Kralle mich reflexartig an ihm fest. Verliere das Gleichgewicht, reiße ihn fast mit mir, lasse allerdings nicht los. Wir schwanken gemeinsam auf dem schmalen Steg. Mein Griff ist fast wie eine Umarmung. Ich will meinen Kopf drehen, um ihm in die Augen zu schauen. Vergebens. Er weicht meinem Blick aus. Stattdessen spüre ich, wie sich seine Muskeln verkrampfen.
„Felix!“, schreie ich. „Bitte! Tu das nicht!“
Mit einer schnellen Armdrehung hebelt er meinen Griff aus und kickt mir die Beine weg. Angst schießt wie ein brennender Pfeil durch meinen Körper, bevor ich krachend auf dem Rücken lande. Der Aufprall auf dem harten Gitter presst mir die Luft aus der Lunge. Ein unkontrolliertes Rasseln kommt aus meinem Hals.
„Felix, bitte!“ Mein jämmerliches Krächzen würde einen Stein erweichen. Aber nicht meinen besten Freund. Der starrt nur mit leerem Blick auf mich herunter. Ein stummer Fremder.
Stumm? Da ist doch was faul. Keine Pfeifzeichen. Keine Reaktion. Der Angriff. Das Brennen in meinen Ohren. Ich schnappe nach Luft. Nichts hier ist real! Weder Felix noch der Schacht. Die Testleiter verarschen uns. Sie täuschen uns vor, unsere Freunde würden uns angreifen. Hetzen uns gegeneinander. Lügen uns an, treiben perverse Psychospiele mit uns. Die verfluchten Schweine!
Als ich dem falschen Felix in sein wächsernes Gesicht schaue, kocht die Wut in mir hoch. Zornig trete ich meinem Kontrahenten gegen das Schienbein. Der fliegt mit einem dumpfen Brüllen vom Steg. Ich rapple mich auf, mein Atem geht stoßweise.
„Hinterherspringen“, befiehlt der Testleiter.
Ohne zu zögern, mache ich einen Schritt ins Leere.
3. Kapitel
Ich lande mit den Füßen voran, kippe auf die Knie und fange mich mit den Händen ab. Meine Handballen versinken in einer weichen Matte. Ich lasse mich auf die Seite fallen und bleibe keuchend liegen.
Mein rasender Puls beruhigt sich nur langsam. Sie wollten nie, dass wir uns gegenseitig umbringen. Wir sollten das nur glauben, um den ultimativen Gehorsam zu beweisen. Wenn WERT uns befiehlt zu springen, springen wir. Wenn sie uns befehlen, den besten Freund in einen Schacht zu stoßen, tun wir das. Darum geht es hier also. Diese Erkenntnis hinterlässt einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge.
„Helme abnehmen“, verlangt der Testleiter.
Ich hatte recht. Der bodenlose Schacht war ein Trugbild. Wir sind bloß eineinhalb Meter tief gefallen. Lediglich der Steg war echt.
Stöhnend reibt sich mein Gegner das Schienbein. Der rundköpfige Junge mit den schwarzen Stoppelhaaren muss aus einem anderen Trakt kommen, denn ich kenne ihn nur flüchtig vom Sehen.
„Tray Banner, nach links zu den Verlierern. Emony Keller, nach rechts zu den Siegern“, tönt es aus dem Lautsprecher. Feindselig starrt Tray mich an. Ich strecke meinen schmerzenden Rücken durch und folge dem Testleiter, der bereits im rechten Korridor verschwunden ist.
Dort wartet schon Felix. „Emo, du hast es geschafft!“ Freudestrahlend rennt er auf mich zu und umarmt mich ungestüm. Er drückt mich so fest an sich, dass mir ein gepresstes „Uff“ entweicht. Als er mich auf die Wange küsst, streifen seine Lippen plötzlich meinen Mundwinkel. Das überrumpelt mich fast noch mehr. Überrascht lache ich auf, schnell lässt Felix mich los und zieht verschämt grinsend den Kopf ein. Seine Wangen laufen knallrot an. Ich lache noch mal, um die peinliche Situation zu überspielen, und strecke ihm die erhobene Handfläche entgegen. Dankbar schlägt er ein.
Das ungeduldige Winken des Testleiters kommt uns jetzt gerade recht. Wir folgen ihm eilig. Nach ein paar Schritten hat sich Felix schon wieder gefangen. „Bei dem Test warst du klar im Vorteil, oder?“, sagt er, womit er mein Lügenfeuer meint.
„Zuerst war ich zu langsam. Fast hättest du mich runtergeworfen – oder zumindest der Typ, dem sie dein Gesicht aufgesetzt haben. Gegen wen bist du eigentlich angetreten?“
„Gegen dich natürlich.“ Felix schaut mich von der Seite an.
Verwirrt runzle ich die Stirn. „Und wie hast du bestanden?“
„Na das war doch klar. Ich pfeife, und du spurst nicht? Da war ich gleich fertig mit dir“, erwidert Felix provokant grinsend.
Ich starre ihn ungläubig an.
„Nur Spaß“, schiebt er nach und knufft mich in die Seite. „Mir war sofort klar, dass du das nicht sein kannst. Die Tussi auf dem Steg hat gar nicht auf mich reagiert. So ein Pokerface hast du nicht drauf. Dir sieht man sofort an, was dir durch den Kopf schießt.“
Dass das mal nützlich sein wird, hätte ich nie gedacht.
Der Testleiter bringt uns zur Transportschleuse. Während wir ihm hinterherlaufen, überfällt mich plötzlich so etwas wie Heimweh. Was natürlich absurd ist, schließlich habe ich meine Siedlung noch nicht einmal verlassen. Aber in wenigen Minuten muss ich es tun. Ich lasse meine Finger an der rauen Betonwand des Korridors, an den fleckigen, mit abgewetzten WERT-Werbestickern beklebten Abluftrohren und den vibrierenden, heißen Generatorkästen entlanggleiten. Ich horche auf das Rauschen der Klimaanlage und blinzle in die gelbstichigen, von toten Insekten gesprenkelten Lichtschienen. Meine Mutter nimmt die trüben Plastikverkleidungen der Neonröhren alle drei Monate ab, dabei hat sie nicht die geringste Chance gegen die Selbstmordmücken.
Beim Anblick der Röhren wird mir seltsam zumute. Wann komme ich wieder hierher zurück? Wenn ich aus dem Adoptenprogramm rausfliege, dann schon ganz bald. Aber das darf nicht passieren.
Unter der Schleuse wartet ein kleines schwarz-weißes Flugzeug auf uns. Mit seinem glänzenden Äußeren und den schnittig-fließenden Formen wirkt der Jet zwischen dem klobigen Sichtbeton unserer Siedlung wie ein Fremdkörper. Wie ein elegantes, exotisches Tier, das gefangen und in einen Käfig eingesperrt wurde. Mein Vater hat mir einmal ein Foto von den schwarz-weißen Killerwalen gezeigt, die vor etwa hundertfünfzig Jahren ausgestorben sind. Diese Maschine sieht aus wie ein metallener Orca mit weißem Bauch und schwarzen Stummelflügeln. „Wow“, stößt Felix hervor und pfeift beeindruckt. Während wir die Gangway hinaufsteigen, streiche ich andächtig an dem mattschwarzen Geländer entlang. Das gebürstete Metall fühlt sich kühl und glatt unter meiner Handfläche an.
In dem taghell erleuchteten Innenraum des Fliegers warten schon die anderen Kandidaten. Zusammen mit uns fliegen sie zum Regenring. Felix berührt mit der rechten Hand seine Brust dort, wo das Herz schlägt, und klopft mit der linken auf seinen Rauring. Das ist die offizielle Begrüßung in unseren Siedlungen. Felix vollführt den Gruß mit feierlicher Miene, aber nur vereinzelt kommen reservierte Gesten zurück. Manche der anderen Adoptenanwärter starren uns richtig feindselig an – Konkurrenz liegt in der Luft. In dieser angespannten Atmosphäre fällt das schüchterne Lächeln eines rothaarigen Mädchens in der zweiten Sitzreihe besonders auf. Links und rechts von ihr sind noch Plätze frei, also nehmen wir sie in die Mitte. Ich ergattere den Fensterplatz.
In letzter Minute läuft schnaufend ein kleiner, pickliger Junge die Treppe hoch und bleibt unsicher im Gang stehen. „Hallo, ich bin Morry“, bringt er keuchend hervor. Weil keiner antwortet, schluckt er und fügt hinzu: „Morry Klein.“
„Das sehen wir“, ruft einer von hinten.
„Platz nehmen, anschnallen“, ertönt es aus dem Lautsprecher, und Morry sinkt in den letzten leeren Sitz.
Die Einstiegstür des Transporters schließt sich mit einem leisen Klicken, metallische Anschnallbügel senken sich über uns und fixieren uns auf den glatten Sesseln. Ich wage es kaum, mich in den schicken Sitzen zurückzulehnen. Unsere Polstermöbel zu Hause sind rissig und verschlissen. Diese riechen nach Lederimprägnierung und glänzen, als hätte noch nie jemand drauf gesessen.
Gedämpft hören wir das Schleifen der stählernen Schleusendecke, die sich langsam über uns öffnet. Der Antrieb des Transporters startet mit einem vibrierenden Summen. Als der Flieger senkrecht in den Himmel schießt, kribbelt es in meinem Magen.
„Wow, ultra-frisch!“, entfährt es Felix beim Start der Maschine. Niemand antwortet, und er behält weitere Kommentare für sich.
Nachdem wir die Flughöhe erreicht haben, geht das Brausen des Motors in ein sanftes Schnurren über. Ich schaue aus dem kugelrunden Fenster und sehe meine Heimat zum ersten Mal von oben. Dunkle, zerklüftete Hügelketten ragen wie langgezogene Inseln aus den rötlich-weichen Sanddünen. Immer wieder erkenne ich schwarz-graue Erhebungen mit bunten Flecken, die rundum von Förderbändern umgeben sind – gigantische Müllkippen für den Sonderabfall des Regenrings. Weiter hinten funkelt in der Sonne die schnurgerade stählerne Pipeline. Auf der plattgewalzten Piste daneben bewegt sich ein Pipeline-Shuttle im Schneckentempo voran und wirbelt Wolken von Wüstenstaub auf. Von hier oben wirkt das massive Panzerfahrzeug wie ein Spielzeugauto.
Unser Flieger beschleunigt und jagt entlang der Pipeline nach Norden. Die Fensterblenden schließen sich, sodass ich mir die verdorrte Welt unter uns nur noch vorstellen kann. Der Bau und die Wartung der Pipelines sind Arbeiten „erster Gefahrenordnung“. Mörderische Hitze, schädliche Sonnenstrahlung und immer häufigere Anschläge: Mein Vater war nicht der Erste und nicht der Letzte, der dabei ums Leben kam. Behutsam greife ich nach seinem Rauringsplitter an meiner Halskette. WERT hat uns zwar verboten, Privatgegenstände mitzunehmen, doch von dem Erinnerungsstück kann ich mich unmöglich trennen, sei es auch nur für eine Weile. Das kantige Metallstück ist das Einzige, was mir von meinem Vater geblieben ist. Warum gerade er? Wieso nur? Die Welt ist so ungerecht, schießt es mir durch den Kopf. Ich presse die Lippen zusammen, wie so oft in letzter Zeit.
Das Mädchen neben mir streckt sich in ihrem Sitz. Ich habe noch kein einziges Wort mit ihr gewechselt, ganz im Gegensatz zu Felix, der sie offensichtlich sofort angesprochen hat. Gerade lässt er seinen Talisman vor ihren Augen baumeln, die sie vor Erstaunen weit aufgerissen hat. Mich wundert es nicht, dass auch er sich über das Privatsachen-Verbot hinweggesetzt hat. Ich kann ihn verstehen. Wer lässt schon freiwillig sein Glück zurück?
Vorsichtig, fast ehrfürchtig greift die Rothaarige nach dem Schmuckstück und betastet es mit ihren schlanken Fingern. Der kleine Globus fasziniert jeden, der ihn zum ersten Mal sieht. Sonnyboy Felix mit seinen schrägen Sprüchen ist ebenfalls allseits beliebt. Mit ihm gibt es immer etwas zu lachen. Dennoch verbringt er seine Zeit am liebsten mit mir, seiner alten Sandkastenfreundin. Ich bin froh darüber, denn ein Kumpel wie er ist unersetzlich. Mit Felix kann ich über alles reden, ohne dass ich je Angst haben müsste, er könnte das gegen mich verwenden. Seine Beinahe-Knutschattacke von vorhin hat mich schon verwirrt und war auch ein bisschen daneben, aber was soll’s – war bestimmt ein Versehen.
„Hallo, ich bin Emony“, mische ich mich in sein Gespräch ein.
„Hallo, Emony“, antwortet das Mädchen unsicher und schaut mich an. Ihr Kopf mit den dichten roten Locken und den riesigen grünen Augen scheint nicht zu ihrer schmalen Statur zu passen. Wie konnte so eine zarte Person nur diesen fiesen Aufnahmetest bestehen, frage ich mich.
„Mila weiß alles über Klimageschichte“, informiert mich Felix und schwenkt seinen Talisman hin und her, bevor er ihn wieder wegpackt. „Und über Petrografie, du weißt schon, Felsenkunde. Sie hat die Lerndateien komplett inhaliert.“
Verlegen lächelt Mila. „Petrografie ist mein Lieblingsfach. Die Erde hat so viele verschiedene Gesteine, und wir wohnen mittendrin. Ihr seid bestimmt auch neugierig, was hinter eurer Zimmerwand kommt, oder?“
„Nur der Technikraum, wir wohnen in der hintersten Ecke“, antwortet Felix. „Petrografie ist mir zu hoch. Schiefer, Schluff, Schlacke … die ganzen Feinheiten merkt sich kein Mensch! Im Test war ich nur bei den Kontrollkommandos gut.“
„Die muss man einfach nur auswendig lernen“, erwidere ich.
„Ein Hoch auf die Rumkommandier-Kunde“, sagt Felix. Die Anweisungskürzel der WERT-Zentrale für Gasbohrungen zu pauken, ist ziemlich stumpfsinnig, da hat er recht, aber das waren geschenkte Punkte.
„Emony war im Theorietest übrigens richtig gut“, redet Felix weiter. „Sie hat siebenundachtzig Punkte erzielt. Bei mir hat es nur für fünfundsiebzig gereicht, so dass ich mit Ach und Krach ins Programm reingerutscht bin.“ Seine Offenheit überrascht mich immer wieder.
„Was war denn deine Punktzahl?“, fragt er Mila.
Die duckt sich zwischen ihre Anschnallbügel.
„Spuck es schon aus!“, drängt Felix sie.
Mila rutscht noch tiefer in ihren Sitz.
„Wir verraten es auch niemandem.“ Felix beugt sich verschwörerisch zu ihr und flüstert: „Das bleibt unter uns. Versprochen!“
„Achtundneunzig Punkte“, meint Mila.
„Achtundneunzig Punkte??“, schreit Felix durch das Flugzeug und starrt sie an, als wäre sie das achte Weltwunder. Der halbe Flieger dreht sich zu uns um, und Mila verschwindet fast komplett hinter den Anschnallbügeln.
„Das ist der helle Wahnsinn“, fügt Felix etwas leiser hinzu. „Damit hast du die Adoptenstelle fast schon in der Tasche!“ Felix grinst über das ganze sommersprossige Gesicht. „Dich brauchen wir für unser Team. Bist du dabei?“ Er legt den Kopf schief und streckt ihr die Hand entgegen. Schüchtern lächelnd schlägt sie ein.
Plötzlich bemerke ich, wie sich etwas unter Milas Kleidung bewegt. Unter ihrem viel zu großen Hemd lebt irgendetwas. Neugierig schiele ich rüber.
„Irri, du brauchst doch keine Angst haben“, meint Mila leise und zupft vorsichtig an ihrem Reißverschluss. Ein schuppiges gelbes Bein mit Klammerzehen kommt zum Vorschein.
„Ein Chamäleon! Du hast ein Chamäleon mitgebracht“, platze ich heraus. Schnell halte ich mir den Mund zu. Hoffentlich hat mich niemand gehört, denn das ist höchstwahrscheinlich auch verboten.
Mila zuckt entschuldigend mit den Schultern. „Ich konnte meine Irri doch nicht zu Hause lassen. Sie braucht alle vier Stunden Wasser aus der Pipette, das würde mein Vater bestimmt oft vergessen.“ Mir braucht sie das nicht zu erklären. Ich frage mich schon die ganze Zeit, wie es Emil bei meiner Mutter wohl geht. Gibt sie ihm oft genug zu trinken, und sprüht sie seine Pflanzen oft genug mit Wasser ein? Eins steht jedenfalls fest: Sein Terrarium ist sicher blitzblank.
Irri lugt verschüchtert aus den Falten von Milas Brusttasche, lässt die Augäpfel ruckelnd kreisen und stellt ihren gelbgrünen Kopfschild auf.
„Ein Weibchen. Ein besonders schönes“, meine ich und erhalte für mein Lob ein dankbares Kopfnicken von Mila. Sie formt mit ihren Händen ein warmes Nest für das Chamäleon. Während sie dem Tier leise zuredet, lasse ich mich von ihrer weichen Stimme einhüllen und rolle mich auf meinem Sitz zusammen wie ein Chamäleon.
4. Kapitel
Als die Transportmaschine nach vier Stunden brummend in den Sinkflug geht, öffnen sich die Fensterblenden. „Ooooh“, raunt es vielstimmig durch das Flugzeug. Die Aussicht kommt mir unwirklich vor, wie ein Foto aus einem Bildband, bei dem Kontrast und Farben verstärkt wurden. Die Werbefilme für die Adoptenausbildung haben nicht übertrieben.
Wir nähern uns einer Bergkette mit felsigen Gipfeln und üppigem Bewuchs weiter unten. Die Farben sind so satt und grell, dass es beinahe in den Augen schmerzt – Gelbgrün, Blaugrün, Schwarzgrün, Grün in allen Schattierungen. Polaris, die Hauptstadt des Regenrings, liegt am Fuß einer Bucht, umgeben von bewaldeten Hängen. Die Vegetation erstreckt sich über die Vorgärten bis zum Dach der bläulich schimmernden Türme und sprießt sogar zwischen den spiegelnden Glasflächen heraus.






