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Was ich damals empfand, habe ich niedergeschrieben:
Die Kolonne
Wir haben dem Grauen ins Auge gesehn
und das Entsetzen erblickt;
mag nun das Leben weitergehen,
mag die Welt sich immer weiterdrehn,
wir sind dem weit entrückt.
Wir leben in einer andern Welt,
die ihr nie und nimmer versteht.
Und wenn von uns auch mancher fällt,
und wenn auch manch ein Aufschrei gellt,
Voran der Marschtritt geht.
Weiß die Kolonne, wie lang der Weg?
Endlos die Straße weit;
Marschieren ohne Pfad und Steg,
marschieren ohne Pfad und Steg,
durch die ausweglose Zeit.
Die Kolonne geht, sie wird nicht müd,
der Schritte Takt schallt laut;
durch Tag und Nacht sie weiter zieht,
bis die Dunkelheit nach Westen flieht
und der Morgen wieder graut.
Manchmal fühlte sich einer zu schwach oder krank, an diesem Tag zur Arbeit hinauszumarschieren. War er aber erst einmal in seinem Kommando angetreten, so riss ihn der Strom der Hinausmarschierenden unaufhaltsam mit.
Für manche Arbeitsunfähige gab es dann nur ein Mittel: Sie ließen sich vor dem Tor hinfallen und wurden auf Befehl des Lagerführers ins Revier geschafft. In dem Jahr zuvor, so wurde uns Neuen erzählt, war es oft nicht so glatt abgegangen. Da war ein Lagerführer namens Weißenborn gewesen, der hatte morgens die Krankmeldungen entgegengenommen und die Kranken mit Ohrfeigen und Stößen zur Arbeit getrieben. Nur die Halbtoten waren damals ins Revier geschafft worden.
Den anderthalbstündigen Marsch vorbei an wogenden Kornfeldern hin zur Baustelle der Ziegelei empfand ich nach der ewigen Eintönigkeit des Lagers als schön. Freilich war die Arbeit schwer und der Hunger groß. In wilder, heißhungriger Gier hatten wir morgens um sieben schon das kleine Stück Brot, unsere Zuteilung, aufgegessen und arbeiteten nun mit knurrendem Magen weiter.
Manchmal schikanierten uns die Posten. Sie riefen einen schwer mit Ziegeln beladenen Häftling wohl ein Dutzend Mal zu sich hin und ließen ihn wieder gehen, bis ein Baupolier, der Zivilist war, den ob dieser Niedertracht Weinenden sah und dem Posten das verbot. Waren wir am Nachmittag müde und hungrig von der Arbeit eingerückt, so hieß es, schwere, zirka fünfzehn Meter lange Bäume ins Lager zu schleppen, immer zwei oder drei Mann einen Baum. Schwitzend und unter unserer Last keuchend langten wir dann im Lager an, gerade zur Zeit des Abendappells.
Das war der kritische Moment. Ging alles glatt, so war der Appell in einer guten halben Stunde abgenommen, und alles konnte zum Essen in die Blocks gehen. Aber wehe, wenn auch nur ein Mann fehlte, sei es durch einen Rechenfehler beim Zählen, sei es, dass er von der Arbeit ermüdet, irgendwo eingeschlafen war und das Zum-Lager-Gehen verpasst hatte. Dann wurden Suchkolonnen ausgeschickt.
»Stubendienst in den Wald, den Vogel suchen«, hieß das Kommando, und oft wurde im Wald oder in den Blocks ein Vergessener entdeckt. Manchmal mussten die weit abliegenden Arbeitsstellen durchgekämmt werden. Stundenlang dauerten dann die Appelle, und wehe, wenn wirklich einer einen Fluchtversuch gemacht hatte und sich deshalb irgendwo an seiner Arbeitsstelle versteckt hatte. Man konnte dann damit rechnen, acht Stunden zu stehen. Und es war gleich, welches Wetter herrschte, das ganze Lager stand bei glühender Sonne, im Regen, bei Kälte und bei Schneegestöber.
Diese Appelle forderten viele Opfer. In der Hitze und vor Kälte sanken viele um. Bei manchen Appellen waren es Hunderte, die stürzten. Und viele standen nie wieder auf. Ausgemergelt und schwach, wie ein großer Teil der Häftlinge war, konnten sie stehend die Wetterunbilden so viele Stunden lang nicht ertragen. Wohl nahm das Revier sich ihrer an. An manchen solcher Tage schleppten die Revierträger viele Dutzende auf Tragen in irgend eine Baracke, wo sie auf die Erde gelegt und mit Wasser und einigen Medikamenten versorgt wurden. Doch bei vielen war das umsonst. Wenn die Reserven des Körpers erschöpft waren, halfen alle Medikamente nicht mehr.
Beim Abendappell wurde auch die Post verteilt. Zweimal im Monat durften wir Häftlinge Post aus dem Inland empfangen, zweimal im Monat durften wir einen Fünfzehn-Zeilen-Brief schreiben. Natürlich wurde peinlich zensiert. Konnte der Zensor, häufig ein blutjunger, ganz ungebildeter SS-Scharführer, die Schrift nicht gut lesen, so hagelte es Ohrfeigen.
Abends beim Appell mussten die Leute auf seinen Ruf hin aus dem Glied vortreten, und er verabreichte ihnen die Backpfeifen. Auch ältere Leute wurden davon nicht verschont. Auch mich erwischte es einmal. Ich musste vortreten. Er fragte nach meinem Beruf. Ich hütete mich, einen studierten Beruf anzugeben, denn ich wusste, auf Studierte hatte die SS ihre besondere Wut. So sagte ich »Angestellter«, was ja den Tatsachen einigermaßen entsprach. Schon hatte ich meine Ohrfeige weg und durfte ins Glied zurücktreten. Nun musste ich meine Briefe immer sehr sorgfältig malen, damit mir so etwas nicht wieder passierte. War der SS-Scharführer schlecht gelaunt, so zerriss er die Briefe immer wieder, so dass es den Häftlingen oft wochenlang unmöglich war, Post nach Hause abzusenden.
Ich hatte mich nun im Lager akklimatisiert, ich kannte das Gelände. Hinter den drei Holzbaracken war eine Reihe doppelstöckiger, steinerner Baracken im Bau, und hinter denen begann der Buchenwald, von dem das Lager seinen Namen hatte. Das war eine riesige Fläche, vielleicht einen Quadratkilometer groß, mit herrlichen alten Bäumen bestanden. Nach der Enge der Gefängnis- und Zuchthausmauern war es ein Labsal, Sträucher, Bäume, Wald zu sehen. Sowohl im Sommer als auch im Winter sah man nach der Arbeitszeit dort immer einige, die die Natur liebten, die sich sonnten oder durch den Schnee stapften.
An der einen Seite des Waldes standen die zwei Revierbaracken, dahinter war ein großer Schweinestall, in dem die SS ihre Schweine mästete. Dazu brauchten sie ein großes Kommando von Häftlingen, die zwar eine sehr dreckige Arbeit hatten, aber etwas vom Schweinefraß fiel immer für sie ab. So war das Kommando sehr begehrt und für manchen ausgehungerten Kumpel eine Zufluchtsstätte.
In eintönigem Trott verstrichen die Tage. Sommer um Sommer, Winter um Winter, jahrelang. Im April wurde die dünne Sommerkleidung gefasst, Drillichzebrastoff, und im Oktober der dickere Winterzebrastoff. Oft gab es auch ausrangierte alte blaue oder grüne Polizeijacken, geflickt, oft zerrissen. Die musste jeder sich herrichten, so gut er konnte, musste Nummer und Winkel annähen. Und in jedem Frühjahr wieder der Kleiderwechsel und in jedem Herbst. Im stillen hofften wir, dass es diesmal das letzte Mal sein sollte. Aber immer und immer wieder kamen die ewigen Zebrasachen.
Wohl waren ab und zu einige aus der Haft entlassen worden. Sie wurden morgens beim Appell durch die großen Lautsprecher aufgerufen. Meist waren es Asoziale, selten ein Politischer, und dann auch meist nur ein kleiner Meckerer. Von den alten Politischen kam kaum einer nach Haus. Nur einmal, das war 1939, am 18., 19. und 20. April, setzten größere Entlassungen ein.
An den ersten beiden Tagen kamen je vierhundert Politische und nachher auch noch einige zur Entlassung. Damals schwamm das ganze Lager in einem Meer von Parolen. Alles glaubte, nun würden auch sie bald drankommen, ja man sprach von der Auflösung aller Lager, von der Freilassung aller Politischen. Und als dann die Entlassungen plötzlich wieder stoppten, verstummte das Geraune nach und nach.
Überhaupt war das Lager oft mit Parolen angefüllt. Genau wie schon die Kriminellen im Gefängnis dauernd von einer Amnestie gefaselt hatten, die kommen sollte oder schon in Vorbereitung oder gar fertig sei, so wurden über das Schicksal der verschiedenen Häftlingskategorien zu allen Zeiten die merkwürdigsten Gerüchte verbreitet. Bald sollten die Politischen woanders hinkommen, bald die Asozialen, bald sollten alle Kriminellen wegkommen. Und immer neue Orte tauchten auf, wohin die Häftlinge angeblich versetzt werden sollten. So gut wie nie war an diesen Parolen etwas Wahres dran, und nur die Neulinge glaubten an sie. Die Alten warteten ab. Sie ließen die Dinge an sich herankommen und winkten verächtlich mit der Hand ab.
Der Tischälteste in dem Steinblock, in den ich nach einigen Wochen übersiedelte, hieß Rudi Renner, Lithographenarbeiter seines Zeichens und früherer Redakteur einer sächsischen Zeitung. Er war in den Fünfzigern. Jetzt arbeitete er in der Buchbinderei, in der allerhand Bücher gebunden und Kleinigkeiten gedruckt wurden. Da waren Glückwunschkarten für die SS, die die Zeichner zeichnen mussten, da waren Stammbäume für die SS anzufertigen und zu drucken, Einladungskarten zu den Kameradschaftsabenden der SS und ähnliches.
Rudi war stets eifrig bei der Arbeit. Aber nur seine Hände mussten für die SS fronen, sein Geist war bei seinen Kameraden. Oft fragten wir einander: »Nun, was gibt es Neues?« Und ich kam mit ein paar Neuigkeiten und Parolen heraus. Rudi hörte mich schweigend an und sagte zum Schluss, er habe diese oder jene Parole auch gehört. »Sie kann aber nicht wahr sein, man hat vor einem Jahr schon dasselbe erzählt.« Und er analysierte die Parolen und die Neuigkeiten. Dabei war er vorsichtig. Er sagte nicht, so muss es werden, sondern er sagte, es gibt verschiedene Möglichkeiten, die so und so und so sind. Er lehrte mich, die Dinge von den verschiedensten Gesichtspunkten her zu sehen und vorsichtig zu sein mit dem Urteil. Die Gespräche mit ihm waren wie die eines Philosophen mit seinem Schüler. Sein Gedächtnis war ausgezeichnet. Nur liebte er es nicht, im KZ vor vielen zu sprechen. Eigene Krankheit und schlimme Erlebnisse während der Gefangenschaft hatten ihn vorsichtig und scheu gemacht. Aber im persönlichen Gespräch verfügte er über eine beißende Schärfe und eine unbestechliche Gedankenklarheit. Wie hätte ich gewünscht, dass Rudi den Tag der Befreiung miterlebte!
Da gab es noch andere, früher bedeutende Linkspolitiker im Lager. Sie waren nicht gebrochen, nicht zermürbt oder entmutigt. Die kleinen Dinge des Alltags, die im KZ-Leben so wichtig waren, nahmen sie genauso ernst wie die großen Angelegenheiten der Politik. Freilich war es streng verboten und deshalb gefährlich, im Lager irgendwelchen organisierten Zusammenhang zu pflegen. Also taten sie es heimlich. Täglich trafen sie einander zu einer bestimmten Zeit und sprachen über Wichtiges. Renner war immer dabei. Es galt, Kameraden in bessere Kommandos zu vermitteln, es waren Informationen über bestimmte Leute einzuziehen, man musste über die Neuangekommenen informiert sein und die mussten unter Umständen unterstützt werden. Ein regelrechter Dienst für die Zugänge war eingerichtet worden. So lag ein Netz scheinbar persönlicher Bekanntschaften, in Wirklichkeit aber organisierter und gepflegter Beziehungen über dem Lager. Man musste allerdings schon lange Zeit im Lager sein, ehe man darüber Genaueres wusste. Das war die Stärke der Roten den Grünen, den Kriminellen, gegenüber, die solche Dinge nicht kannten.
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