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»Welch unerwartetes Vergnügen«, sagte Mark ein wenig förmlich. Er hatte immer ein bisschen Angst vor Hingest.
»Hmm?«, brummte dieser. »Ach, Sie sind es, Studdock. Ich wusste nicht, dass man sich Ihre Dienste hier schon gesichert hat.«
»Ich habe Sie leider bei der gestrigen Sitzung des Kollegiums nicht gesehen«, sagte Mark.
Das war gelogen. Hingests Anwesenheit brachte das Progressive Element immer in Verlegenheit. Als Wissenschaftler – der einzige wirklich bedeutende Wissenschaftler, den sie hatten – gehörte er von Rechts wegen zu ihnen; aber er war eine abscheuliche Anomalie, die falsche Art von Wissenschaftler. Glossop, ein klassischer Philologe, war sein bester Freund im College. Er pflegte (was Curry »affektiert« fand) seinen eigenen bahnbrechenden Entdeckungen auf dem Gebiet der Chemie nicht viel Bedeutung beizumessen und sich viel mehr darauf zugute zu halten, ein Hingest zu sein: Sein Stammbaum reichte in nahezu mythische Zeiten zurück und war nach dem Zeugnis eines Genealogen aus dem neunzehnten Jahrhundert »niemals durch einen Verräter, Politiker oder Baron entehrt worden«. Besonderen Anstoß hatte Hingest anlässlich eines Besuchs des Herzogs von Broglie in Edgestow erregt. Der Franzose hatte seine freie Zeit ausschließlich mit Bill dem Blizzard verbracht, aber als ein übereifriger junger Dozent seine Fühler ausstreckte und wissen wollte, welches wissenschaftliche Festmahl die beiden savants denn genossen hätten, hatte Bill der Blizzard einen Augenblick überlegt und dann erwidert, dass sie auf dieses Thema gar nicht zu sprechen gekommen seien. »Wahrscheinlich«, hatte Curry hinter Hingests Rücken gespottet, »haben sie über diesen blödsinnigen Gothaischen Adelskalender geredet.«
»Wie? Was meinen Sie? Sitzung des Kollegiums?«, sagte der Blizzard. »Und worüber ist gesprochen worden?«
»Über den Verkauf des Bragdon-Waldes.« »Alles Unsinn«, knurrte der Blizzard.
»Ich hoffe, Sie hätten unserem Beschluss zugestimmt.« »Völlig einerlei, welcher Beschluss gefasst worden ist.«
»Oh!«, sagte Mark überrascht.
»Es war alles Unsinn. Das N.I.C.E. hätte den Wald in jedem Fall bekommen. Es hatte die Macht, einen Zwangsverkauf zu erwirken.«
»Sehr merkwürdig! Es sah so aus, als ginge das Institut nach Cambridge, wenn wir nicht verkauften.«
»Daran ist kein wahres Wort. Und was das Merkwürdige angeht, nun, das hängt davon ab, was Sie meinen. Es ist nichts Merkwürdiges daran, wenn das Kollegium von Bracton den ganzen Nachmittag über eine eingebildete Streitfrage diskutiert. Und es liegt nichts Merkwürdiges in der Tatsache, dass das N.I.C.E. nach Möglichkeit Bracton die Schande zuschieben möchte, das Herz Englands in eine Kreuzung zwischen einem misslungenen Wolkenkratzerhotel und einem besseren Gaswerk verwandelt zu haben. Das einzige echte Rätsel ist, warum das Institut gerade dieses Stück Land will.«
»Ich nehme an, wir werden es im weiteren Verlauf erfahren.«
»Sie vielleicht. Ich nicht.«
»Warum nicht?« fragte Mark.
»Ich habe genug«, sagte Hingest etwas leiser. »Ich reise noch heute ab. Ich weiß nicht, was Sie am College getan haben, aber wenn es was taugte, dann gebe ich Ihnen den guten Rat, zurückzugehen und dabeizubleiben.«
»Wirklich?«, sagte Mark. »Warum sagen Sie das?«
»Für einen alten Kerl wie mich spielt es keine Rolle«, sagte Hingest, »aber Ihnen könnten sie übel mitspielen. Natürlich hängt alles davon ab, wie man über die Sache denkt.«
»Um die Wahrheit zu sagen, ich habe mich noch nicht endgültig entschieden«, sagte Mark. Man hatte ihn dazu gebracht, Hingest als einen verknöcherten Reaktionär zu betrachten. »Ich weiß nicht einmal, was für eine Arbeit ich hier tun sollte, wenn ich bliebe.«
»Welches Fachgebiet haben Sie?«
»Soziologie.«
»Hm«, machte Hingest. »In diesem Fall kann ich Ihnen sagen, wem Sie unterstellt wären. Einem Burschen namens Steele. Er ist dort drüben beim Fenster, sehen Sie?«
»Vielleicht könnten Sie mich vorstellen?«
»Dann sind Sie also entschlossen zu bleiben?«
»Nun, ich denke, ich sollte wenigstens einmal mit ihm reden.«
»Von mir aus«, sagte Hingest. »Geht mich ja nichts an.« Dann fügte er mit lauter Stimme hinzu: »Steele!«
Steele wandte sich um. Er war ein großer, unfreundlicher Mann mit einem länglichen, pferdeartigen Gesicht, das nicht so recht zu den dicken, aufgeworfenen Lippen zu passen schien.
»Das ist Studdock«, sagte Hingest. »Der neue Mann für Ihre Abteilung.« Dann wandte er sich ab.
»Oh«, sagte Steele verdutzt. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Hat er gesagt, meine Abteilung?«
»Ja, das hat er gesagt«, erwiderte Mark und versuchte zu lächeln. »Aber vielleicht hat er es falsch verstanden. Ich bin Soziologe, wenn Ihnen das weiterhilft.«
»Ich bin Abteilungsleiter für Soziologie, das stimmt«, sagte Steele. »Aber ich höre Ihren Namen zum ersten Mal. Wer hat Ihnen gesagt, dass Sie in dieser Abteilung arbeiten werden?«
»Nun, um die Wahrheit zu sagen«, sagte Mark, »die ganze Geschichte ist ziemlich vage. Ich hatte gerade ein Gespräch mit dem stellvertretenden Direktor, aber wir haben keine Einzelheiten besprochen.«
»Wie haben Sie es fertig gebracht, mit ihm zu sprechen?«
»Lord Feverstone hat mich vorgestellt.«
Steele pfiff leise durch die Zähne. »He, Cosser!«, rief er einem sommersprossigen Mann zu, der gerade vorbeiging. »Hören Sie sich das an. Feverstone hat gerade diesen Burschen auf unsere Abteilung abgeladen. Hat ihn gleich zum VD geführt, ohne mir ein Wort davon zu sagen. Wie finden Sie das?«
»Das ist die Höhe!«, sagte Cosser, der Mark kaum eines Blickes würdigte, aber Steele unverwandt anblickte.
»Tut mir Leid«, sagte Mark ein wenig lauter und förmlicher als bisher. »Kein Grund zur Beunruhigung. Anscheinend hat mich jemand für die falsche Position vorgeschlagen. Da muss wohl ein Missverständnis vorliegen. Außerdem bin ich vorläufig nur hier, um mich umzusehen. Ich bin keineswegs sicher, ob ich bleiben werde.«
Keiner der beiden anderen schenkte dieser letzten Bemerkung auch nur die geringste Beachtung.
»Das sieht Feverstone wieder mal ähnlich«, sagte Cosser zu Steele.
Steele wandte sich zu Mark. »Ich würde Ihnen raten, nicht allzu viel darauf zu geben, was Lord Feverstone hier sagt«, meinte er. »Das geht ihn nämlich überhaupt nichts an.«
»Ich will mich keineswegs«, sagte Mark und wurde puterrot, »auf eine falsche Stelle setzen lassen. Ich bin nur hier, um mir einen Überblick zu verschaffen. Es ist mir ziemlich gleichgültig, ob ich für das Institut arbeite oder nicht.«
»Wissen Sie«, sagte Steele zu Cosser, »in unserer Mannschaft ist gar kein Platz für einen weiteren Mann – schon gar nicht für einen, der den Betrieb nicht kennt.«
»Stimmt«, sagte Cosser.
»Mr. Studdock, glaube ich«, sagte eine neue Stimme neben Mark, eine Fistelstimme, die nicht zu dem Berg von Mann passen wollte, den Mark sah, als er den Kopf wandte. Er erkannte den Sprecher sofort. Das dunkle, glatte Gesicht und die schwarzen Haare waren so unverkennbar wie der ausländische Akzent. Es war Professor Filostrato, der bekannte Physiologe, der bei einem Abendessen vor zwei Jahren Marks Tischnachbar gewesen war. Er war fett in einem Maße, das auf der Bühne komisch gewirkt hätte, an dem aber im wirklichen Leben nichts Lustiges war. Mark fühlte sich geschmeichelt, dass ein so bekannter Mann sich seiner erinnerte.
»Es freut mich sehr, dass Sie sich uns anschließen wollen«, sagte Filostrato, nahm Mark beim Arm und zog ihn sanft mit sich, fort von Steele und Cosser.
»Um Ihnen die Wahrheit zu sagen«, sagte Mark, »ich bin mir keineswegs schlüssig, ob ich bleiben werde. Feverstone hat mich mitgebracht, aber er ist verschwunden, und Steele – anscheinend wäre ich für seine Abteilung vorgesehen – scheint überhaupt nichts von mir zu wissen.«
»Ach, Steele!«, sagte der Professor. »Alles halb so wild. Er plustert sich bloß auf. Eines Tages werden wir ihm den Kopf zurechtsetzen. Vielleicht werden Sie derjenige sein, der es tut. Ich habe alle Ihre Arbeiten gelesen, si, si. Machen Sie sich seinetwegen keine Gedanken.«
»Ich lasse mich sehr ungern auf einen falschen Stuhl set-zen …«, begann Mark.
»Hören Sie zu, mein Freund«, unterbrach ihn Filostrato. »Sie müssen sich solche Gedanken aus dem Kopf schlagen. Machen Sie sich vor allem klar, dass das Institut eine ernsthafte Angelegenheit ist. Nichts Geringeres als der Fortbestand der menschlichen Rasse hängt von unserer Arbeit ab: unserer wirklichen Arbeit, verstehen Sie? Unter dieser canaglia, diesem Pöbel gibt es immer Reibereien und Unverschämtheiten. Sie verdienen sowenig Beachtung wie die Abneigung gegen einen Waffengefährten, wenn die Schlacht ihren Höhepunkt erreicht hat.«
»Solange ich eine Arbeit habe, die der Mühe wert ist«, sagte Mark, »lasse ich mich von solchen Dingen nicht stören.«
»Ja, ja, das ist gut so. Und unsere Arbeit hier ist wichtiger, als Sie momentan verstehen können. Sie werden sehen. Diese Steeles und Feverstones – sie sind unwichtig. Solange Sie mit dem stellvertretenden Direktor gut stehen, können Sie auf die anderen pfeifen. Hören Sie auf keinen als auf ihn, verstehen Sie? Ach ja – und da ist noch etwas. Machen Sie sich die Fee nicht zur Feindin. Alle anderen brauchen Sie nicht ernst zu nehmen.«
»Die Fee?«
»Ja. Sie wird hier so genannt. O mein Gott, eine schreckliche Inglesaccia! Sie ist die Chefin unserer Polizei, der Institutspolizei. Ecco, da kommt sie. Ich werde Sie vorstellen. Miss Hardcastle, gestatten Sie, dass ich Ihnen Mr. Studdock vorstelle.«
Mark zuckte unter dem Händedruck – kräftig wie der eines Heizers oder Fuhrmanns – eines mächtigen Weibes in schwarzer Uniform mit kurzem Rock zusammen. Trotz ihres Busens, der einer viktorianischen Bardame Ehre gemacht hätte, war sie eher stämmig als fett, und ihr eisengraues Haar war kurz geschnitten. Sie hatte ein kantiges, strenges, bleiches Gesicht und eine tiefe Stimme. Als einziges Zugeständnis an die Mode hatte sie in gewaltsamer Missachtung der wirklichen Form ihres Mundes ein wenig Lippenstift mehr aufgeschmiert als aufgelegt, und zwischen ihren Zähnen rollte oder kaute sie einen langen schwarzen, nicht angezündeten Stumpen. Wenn sie sprach, nahm sie den Stumpen aus dem Mund, blickte angestrengt auf die Mischung von Lippenstift und Speichel am zerkauten Ende und klemmte ihn dann fester als zuvor zwischen die Zähne. Sie setzte sich ohne Umschweife in einen Sessel, schwang das rechte Bein über eine Armlehne und fixierte Mark mit einem Blick kalter Vertraulichkeit.
3 _______
Schritte hallten auf der anderen Seite der Mauer durch die Stille, dann wurde die Tür geöffnet, und Jane stand einer großen Frau gegenüber, die ungefähr so alt war wie sie selbst. Diese Person musterte sie mit einem durchdringenden, unverbindlichen Blick.
»Wohnt hier eine Miss Ironwood?«, fragte Jane.
»Ja«, sagte die Frau, machte die Tür aber weder weiter auf, noch trat sie zur Seite.
»Ich möchte sie bitte sprechen«, sagte Jane.
»Sind Sie angemeldet?«, fragte die große Frau.
»Nun, eigentlich nicht«, antwortete Jane. »Professor Dimble hat mich hergeschickt. Er kennt Miss Ironwood. Er hat gesagt, ich könnte unangemeldet hierher kommen.«
»Oh, Sie kommen von Professor Dimble, das ist etwas anderes«, sagte die Frau. »Kommen Sie herein. Warten Sie einen Moment, bis ich wieder zugeschlossen habe. So, das wär’s. Dieser Weg ist zu schmal für zwei, Sie müssen also entschuldigen, wenn ich vorangehe.«
Die Frau führte sie einen gepflasterten Weg an einer von Obstbäumen gesäumten Mauer entlang und dann nach links über einen bemoosten Pfad zwischen Reihen von Stachelbeersträuchern hindurch. Dann kam eine kleine Rasenfläche mit einer Schaukel in der Mitte und einem Gewächshaus dahinter. Sie befanden sich in einer Art kleinem Weiler, wie man sie zuweilen in sehr großen Gärten antrifft. Sie gingen eine richtige kleine Straße hinunter zwischen einem Stall und einer Scheune auf der einen und einem zweiten Gewächshaus, einem Schuppen und einem Schweinestall auf der anderen Seite – letzterer bewohnt, wie Jane aus dem Grunzen und dem nicht sehr angenehmen Geruch schloss. Danach führten schmale Pfade durch einen Gemüsegarten, der an einem ziemlich steilen Hang lag, und vorbei an in ihrem Winterkleid ganz starren und stacheligen Rosenstöcken. An einer Stelle gingen sie über einen Pfad, der aus einzelnen Planken bestand. Das erinnerte Jane an irgendetwas. An einen sehr großen Garten wie … wie … ja, nun hatte sie es: wie der Garten in Peter Rabbit. Oder wie der Garten im Rosenroman? Nein, in keiner Weise. Oder wie Klingsors Garten? Oder der Garten in Alice im Wunderland? Oder wie der Garten auf irgendeinem mesopotamischen Zikkurat, auf den manche Leute die Legende vom Paradies zurückführten? Oder einfach wie alle von einer Mauer umgebenen Gärten? Freud hatte gesagt, wir lieben Gärten, weil sie Symbole des weiblichen Körpers seien. Aber das musste ein männlicher Standpunkt sein. In den Träumen von Frauen bedeuteten Gärten sicherlich etwas anderes. Oder vielleicht doch nicht? War es möglich, dass Männer wie Frauen ein Interesse am weiblichen Körper hatten und sogar, auch wenn dies lächerlich klang, auf dieselbe Weise? Ein Satz kam ihr in den Sinn: »Die Schönheit des Weibes ist der Quell der Freude für Weib und Mann, und nicht zufällig ist die Göttin der Liebe älter und stärker als der Gott.« Wo in aller Welt hatte sie das gelesen? Und was für einen schrecklichen Unsinn hatte sie in den letzten paar Minuten gedacht! Sie schüttelte all diese Gedanken über Gärten ab und beschloss, sich zusammenzunehmen. Ein seltsames Gefühl sagte ihr, dass sie sich auf feindlichem oder zumindest fremdem Boden befand und gut daran täte, einen klaren Kopf zu behalten. Fast im gleichen Augenblick traten sie zwischen Rhododendron- und Lorbeerbüschen hindurch ins Freie und gelangten nach ein paar Schritten an eine Regentonne und eine kleine Seitentür in der Längsseite eines großen Hauses. Als sie stehen blieben, wurde oben ein Fenster zugeschlagen.
Minuten später saß Jane in einem großen, spärlich möblierten Raum, der von einem Ofen geheizt wurde. Die blanken Dielenbretter und die über der hüfthohen, dunklen Holztäfelung hellgrau getünchten Wände schufen eine etwas strenge und klösterliche Atmosphäre. Die Schritte der großen Frau verhallten in den Korridoren, und im Raum wurde es sehr still. Gelegentlich hörte man von draußen das raue Krächzen von Krähen. »Nun habe ich mich darauf eingelassen«, dachte Jane. »Ich werde dieser Frau meinen Traum erzählen und mir alle möglichen Fragen gefallen lassen müssen.« Sie hielt sich im Allgemeinen für einen modernen Menschen, der ohne Verlegenheit über alles sprechen konnte. Aber als sie jetzt in diesem Raum saß, sah plötzlich alles ganz anders aus. Alle möglichen geheimen Lücken in ihrem Programm der Offenheit, Dinge, die sie, wie ihr jetzt klar wurde, ausgesondert hatte, über die nicht gesprochen werden durfte, kehrten nun in ihr Bewusstsein zurück. Es war überraschend, dass nur sehr wenige davon mit Sexualität zu tun hatten. »Beim Zahnarzt«, dachte Jane, »gibt es im Wartezimmer wenigstens ein paar Illustrierte.« Sie stand auf und schlug das einzige Buch auf, das auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers lag. Sofort fiel ihr Blick auf die Worte: »Die Schönheit des Weibes ist der Quell der Freude für Weib und Mann, und nicht zufällig ist die Göttin der Liebe älter und stärker als der Gott. Das Begehren der eigenen Schönheit zu begehren ist Liliths Eitelkeit, die Freude an der eigenen Schönheit zu begehren ist Evas Gehorsam. Und in beiden Fällen erlebt die Geliebte durch ihren Geliebten die eigene Herrlichkeit. Wie der Gehorsam die Leiter zur Freude ist, so ist die Demut …«
In diesem Augenblick ging plötzlich die Tür auf. Jane errötete, als sie das Buch schloss und aufblickte. Dasselbe Mädchen, das sie eingelassen hatte, hatte offensichtlich gerade die Tür geöffnet und stand noch immer im Türrahmen. Jane empfand für sie jetzt jene beinahe schon leidenschaftliche Bewunderung, wie Frauen sie häufiger, als man denkt, für andere Frauen empfinden, deren Schönheit von anderer Art ist als die eigene. Es wäre schön, dachte Jane, so zu sein – so gerade, so aufrichtig, so tapfer, so eine geborene Reiterin und so göttlich groß.
»Ist … ist Miss Ironwood zu Hause?«, fragte Jane.
»Sind Sie Mrs. Studdock?«, fragte das Mädchen.
»Ja«, sagte Jane.
»Ich bringe Sie sofort zu ihr. Wir haben Sie erwartet. Mein Name ist Camilla – Camilla Denniston.«
Jane folgte ihr. Die Korridore waren eng und schlicht. Daraus schloss sie, dass sie noch immer im rückwärtigen Teil des Hauses waren und dass, wenn das stimmte, dies ein sehr großes Haus sein musste. Es war ein langer Weg, bis Camilla an eine Tür klopfte und zur Seite trat, um Jane vorbeizulassen, nachdem sie mit leiser, klarer Stimme (wie eine Dienerin, dachte Jane) gesagt hatte: »Sie ist gekommen.« Jane ging hinein, und da saß Miss Ironwood, ganz in Schwarz, die Hände auf den Knien gefaltet, genauso wie Jane sie in ihrem Traum – wenn es ein Traum gewesen war – gesehen hatte.
»Setzen Sie sich, junge Frau«, sagte Miss Ironwood.
Ihre gefalteten Hände waren sehr groß und knochig, aber nicht derb, und selbst wenn sie saß, war Miss Ironwood ungemein groß. Alles an ihr war groß – die Nase, der ernste Mund und die grauen Augen. Sie war eher sechzig als fünfzig. Jane fand die Stimmung im Zimmer unbehaglich.
»Wie heißen Sie, junge Frau?«, sagte Miss Ironwood und griff zu Bleistift und Notizbuch.
»Jane Studdock.«
»Sind Sie verheiratet?«
»Ja.«
»Weiß Ihr Mann, dass Sie zu uns gekommen sind?«
»Nein.«
»Und Ihr Alter, bitte?«
»Dreiundzwanzig.«
»Nun«, sagte Miss Ironwood, »was haben Sie mir zu sagen?«
Jane holte tief Atem. »Ich hatte in letzter Zeit des Öfteren schlechte Träume und fühle mich dadurch niedergeschlagen«, sagte sie.
»Was für Träume waren das?«, fragte Miss Ironwood.
Janes etwas umständliche und unbeholfene Erzählung nahm einige Zeit in Anspruch. Beim Sprechen blickte sie unverwandt auf Miss Ironwoods große Hände, ihr schwarzes Kleid und den Bleistift mit dem Notizbuch. Und darum brach sie auch plötzlich ab. Denn sie sah, wie während ihres Berichtes Miss Ironwoods Hand aufhörte zu schreiben und die Finger den Bleistift umklammerten. Es schienen ungeheuer kräftige Finger zu sein. Sie packten immer fester zu, bis die Knöchel weiß waren und die Adern auf den Handrücken hervortraten; schließlich brachen sie, wie unter dem Einfluss irgendeiner unterdrückten Erregung, den Bleistift entzwei. Da hielt Jane inne und blickte erstaunt zu Miss Ironwood auf. Die großen grauen Augen sahen sie immer noch mit demselben Ausdruck an.
»Bitte fahren Sie fort, junge Frau«, sagte Miss Ironwood.
Jane nahm ihre Geschichte wieder auf. Als sie geendet hatte, stellte Miss Ironwood ihr eine Reihe Fragen. Danach versank sie in ein so langes Schweigen, dass Jane schließlich fragte: »Glauben Sie, dass ich ernstlich krank bin?«
»Sie sind nicht krank«, sagte Miss Ironwood.
»Sie meinen also, es wird vorübergehen?«
»Das kann ich nicht sagen. Aber wahrscheinlich nicht.«
Auf Janes Gesicht malte sich Enttäuschung.
»Dann – kann man denn nichts dagegen tun? Es waren schreckliche Träume, furchtbar lebendig, überhaupt nicht wie gewöhnliche Träume.«
»Das verstehe ich gut.«
»Ist es etwas, das nicht geheilt werden kann?«
»Der Grund, weshalb Sie nicht geheilt werden können, ist, dass Sie nicht krank sind.«
»Aber irgendetwas ist nicht in Ordnung. Es ist doch nicht natürlich, solche Träume zu haben.«
Es entstand eine Pause. »Ich denke«, sagte Miss Ironwood, »ich sage Ihnen besser die ganze Wahrheit.«
»Ja, bitte«, sagte Jane gezwungen. Die Worte der Frau hatten sie erschreckt.
»Eines möchte ich noch vorausschicken«, fuhr Miss Ironwood fort. »Sie sind eine wichtigere Person, als Sie selbst glauben.«
Jane sagte nichts, dachte aber bei sich, dass die Frau sie wohl für verrückt hielt und darum auf sie einging.
»Wie war Ihr Mädchenname?«, fragte Miss Ironwood.
»Tudor«, sagte Jane. Bei jedem anderen Anlass hätte sie es eher verlegen gesagt, denn sie war sehr darauf bedacht, sich nicht mit ihren Ahnen zu brüsten.
»Die Warwickshire-Linie der Familie?«
»Ja.«
»Haben Sie jemals das kleine Buch gelesen – es hat nur vierzig Seiten –, das einer Ihrer Vorfahren über die Schlacht von Worcester geschrieben hat?«
»Nein. Vater hatte ein Exemplar davon – ich glaube, er sagte, es sei das einzige. Aber ich habe es nie gelesen. Es ging verloren, als der Haushalt nach seinem Tod aufgelöst wurde.«
»Ihr Vater hat sich geirrt. Es gibt zumindest zwei weitere Exemplare: Eins ist in Amerika, und das andere befindet sich in diesem Haus.«
»Und?«
»Ihr Ahnherr hat eine vollständige und im Großen und Ganzen richtige Schilderung der Schlacht geliefert, und er gibt an, er habe dies noch am Tage der Schlacht niedergeschrieben. Nur war er nicht auf dem Schlachtfeld. Er war zu der Zeit in York.«
Jane konnte nicht recht folgen und sah Miss Ironwood an.
»Wenn das stimmt, was er sagt«, sagte Miss Ironwood, »und wir gehen davon aus, dann hat er das alles geträumt. Verstehen Sie?«
»Er hat von der Schlacht geträumt?«
»Ja. Aber er träumte sie richtig. Er hat in seinem Traum die wirkliche Schlacht gesehen.«
»Ich sehe den Zusammenhang nicht.«
»Das Zweite Gesicht – die Gabe, Wirklichkeit zu träumen – ist manchmal erblich«, sagte Miss Ironwood.
Etwas schien mit Janes Atem nicht zu stimmen. Sie fühlte sich irgendwie verletzt – das war genau das, was sie immer schon gehasst hatte: etwas aus der Vergangenheit, etwas Irrationales und völlig Unerwünschtes, das aus seinem Versteck hervorkroch und sie nun belästigte.
»Kann man es beweisen?«, fragte sie. »Ich meine, wir haben doch nur seine Aussage, nicht wahr?«
»Wir haben Ihre Träume«, sagte Miss Ironwood, und ihre ernste Stimme war streng geworden. War diese alte Frau vielleicht der Meinung, man sollte seine fernen Vorfahren nicht als Lügner bezeichnen?
»Meine Träume?«, fragte Jane etwas scharf.
»Ja.«
»Was soll das heißen?«
»Meiner Meinung nach haben Sie in Ihren Träumen wirkliche Ereignisse gesehen. Sie haben wirklich Alcasan in seiner Todeszelle sitzen sehen; und Sie haben einen Besucher gesehen, den er wirklich hatte.«
»Aber … aber nein, das ist lächerlich!«, sagte Jane. »Dieser Teil war bloßer Zufall. Und der ganze Rest war ein reiner Albtraum. Es war absolut unsinniges Zeug. Er hat ihm wie gesagt den Kopf abgeschraubt. Und dann haben sie diesen grässlichen alten Mann ausgegraben und zum Leben erweckt.«
»Zweifellos gibt es da einige Unklarheiten. Aber meiner Ansicht nach stehen selbst hinter diesen Episoden wirkliche Ereignisse.«
»Ich fürchte, ich glaube nicht an solche Dinge«, sagte Jane kalt.
»Das ist bei Ihrer Erziehung ganz natürlich«, antwortete Miss Ironwood. »Sofern Sie nicht bereits selbst festgestellt haben, dass Sie dazu tendieren, wirkliche Dinge zu träumen.«
Jane dachte an das Buch auf dem Tisch, das sie anscheinend gekannt hatte, ohne es je zuvor gesehen zu haben. Und dann Miss Ironwoods Erscheinung – auch die war ihr bereits bekannt, bevor sie sie mit eigenen Augen gesehen hatte. Dennoch, es war einfach widersinnig.
»Dann können Sie nichts für mich tun?«
»Ich kann Ihnen die Wahrheit sagen«, sagte Miss Ironwood. »Ich habe versucht, es zu tun.«
»Ich meine, können Sie mich nicht befreien – mich heilen?«
»Das Zweite Gesicht ist keine Krankheit.«
»Aber ich will nichts damit zu tun haben«, sagte Jane heftig. »Es muss aufhören. Ich hasse solche Dinge.«
Miss Ironwood sagte nichts.
»Kennen Sie denn nicht jemanden, der dem Einhalt gebieten könnte?« fragte Jane. »Können Sie mir niemanden empfehlen?«
»Ein normaler Psychotherapeut«, sagte Miss Ironwood, »wird davon ausgehen, dass die Albträume bloß Ihr eigenes Unterbewusstsein reflektieren. Er würde versuchen, Sie zu behandeln. Ich weiß nicht, welche Ergebnisse eine Behandlung haben würde, die auf dieser Annahme beruht, aber ich fürchte, die Folgen könnten ernst sein. Und verschwinden würden die Träume mit Sicherheit nicht.«