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»Aber was hat das alles zu bedeuten?«, sagte Jane. »Ich will ein normales Leben führen. Ich will meine Arbeit tun. Es ist unerträglich! Warum sollte gerade ich für so etwas Schreckliches auserwählt sein?«
»Die Antwort darauf ist nur viel höheren Mächten als mir bekannt.«
Sie schwiegen. Jane machte eine unbestimmte Geste und sagte verdrießlich: »Nun, wenn Sie nichts für mich tun können, gehe ich wohl besser …« Dann fügte sie unvermittelt hinzu: »Aber woher wissen Sie das alles überhaupt? Ich meine … von welchen wirklichen Geschehnissen sprechen Sie?«
»Ich denke«, erwiderte Miss Ironwood, »dass Sie selbst wahrscheinlich mehr Grund haben, Ihre Träume für wahr zu halten, als Sie mir gegenüber zugeben. Wenn nicht, wird es bald so sein. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Wir wissen, dass Ihre Träume teilweise wahr sind, weil sie Informationen entsprechen, die wir bereits haben. Professor Dimble hat Sie zu uns geschickt, weil er die Bedeutung dieser Träume erkannt hat.«
»Wollen Sie damit sagen, dass er mich hierher geschickt hat, nicht weil er mir helfen wollte, sondern damit ich Ihnen Informationen liefere?«, fragte Jane. Die Vorstellung passte gut zu Dimbles Verhalten, als sie ihm von ihren Träumen erzählt hatte.
»Genau.«
»Ich wollte, ich hätte das etwas eher gewusst«, sagte Jane kalt und stand entschlossen auf, um zu gehen. »Ich fürchte, es handelt sich um ein Missverständnis. Ich hatte gedacht, Professor Dimble wollte mir helfen.«
»Das wollte er auch. Aber er hat versucht, zugleich etwas noch Wichtigeres zu tun.«
»Wahrscheinlich sollte ich dankbar sein, dass man mich überhaupt beachtet hat«, sagte Jane trocken. »Und wie wollte er mir helfen? Vielleicht mit all diesem Zeug?« Der Versuch, beißende Ironie in ihre Stimme zu legen, misslang, als sie diese letzten Worte sagte, und heißer, unverhüllter Zorn schoss wieder in ihr Gesicht. In gewisser Hinsicht war sie sehr jung.
»Junge Frau«, sagte Miss Ironwood, »Sie sind weit davon entfernt, den Ernst dieser Angelegenheit zu begreifen. Was Sie gesehen haben, betrifft etwas, im Vergleich zu dem Ihr und mein Glück und sogar unser beider Leben keinerlei Bedeutung haben. Ich muss Sie bitten, der Situation ins Auge zu sehen. Sie können sich Ihrer Gabe nicht entledigen. Sie können versuchen, sie zu unterdrücken, aber es wird Ihnen nicht gelingen, und Sie werden sich schrecklich fürchten. Sie können Ihre Gabe aber auch uns zur Verfügung stellen. Wenn Sie das tun, werden Sie sich auf lange Sicht viel weniger fürchten müssen, und Sie werden dabei helfen, die Menschheit vor einem sehr großen Unheil zu bewahren. Die dritte Möglichkeit ist, dass Sie jemand anders davon erzählen. Wenn Sie das tun, so muss ich Sie warnen. Sie werden dann mit großer Wahrscheinlichkeit in die Hände anderer Leute fallen, die mindestens so begierig sind wie wir, aus Ihrer Fähigkeit Nutzen zu ziehen, denen Ihr Leben und Ihr Glück aber nicht mehr bedeuten als das Leben und das Glück einer Fliege. Die Menschen, die Sie in Ihren Träumen gesehen haben, sind wirkliche Menschen. Es ist keineswegs unwahrscheinlich, dass sie wissen, dass Sie ihnen unabsichtlich nachspioniert haben. Und wenn das so ist, dann werden sie nicht ruhen, bis sie Sie in ihrer Gewalt haben. Ich würde Ihnen, auch um Ihrer selbst willen, raten, sich uns anzuschließen.«
»Sie sprechen ständig von ›wir‹ und ›uns‹. Sind Sie eine Art Gesellschaft?«
»Ja. Man könnte es eine Gesellschaft nennen.« Jane war stehen geblieben; und sie hatte beinahe geglaubt, was sie hörte. Dann überkam ihr ganzer Abscheu sie plötzlich erneut – ihre ganze verletzte Eitelkeit, ihre Erbitterung über die unsinnige, verwickelte Situation, in der sie sich gefangen sah, und ihre allgemeine Abneigung gegen das Geheimnisvolle und Unvertraute. Sie wollte jetzt nur noch aus diesem Raum hinaus, fort von Miss Ironwoods ernster, geduldiger Stimme. »Sie hat es nur noch schlimmer gemacht«, dachte Jane, die sich noch immer als Patientin betrachtete. Laut sagte sie: »Ich muss jetzt gehen. Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Ich will nichts damit zu tun haben.«
4 _______
Mark fand schließlich heraus, dass man erwartete, er werde wenigstens die eine Nacht bleiben, und als er hinaufging, um sich zum Abendessen umzukleiden, hatte sich seine Stimmung gebessert. Dies lag zum Teil an einem Whisky-Soda, den er unmittelbar zuvor mit ›Fee‹ Hardcastle getrunken hatte, und zum Teil daran, dass der Wattebausch auf der Oberlippe inzwischen entbehrlich geworden war, wie er durch einen Blick in den Spiegel feststellte. Auch das Zimmer mit seinem hellen Kaminfeuer und dem eigenen Bad hatte etwas damit zu tun. Wie gut, dass er sich von Jane hatte überreden lassen, diesen neuen Abendanzug zu kaufen! Er sah sehr gut aus, wie er da auf dem Bett lag; und Mark sah jetzt, dass der alte es nicht mehr getan hätte. Am meisten Mut aber hatte ihm das Gespräch mit der Fee gemacht.
Man konnte nicht gerade sagen, dass er sie mochte. Im Gegenteil, sie hatte in ihm die ganze Abneigung geweckt, die ein junger Mann in der Gegenwart einer übermäßigen, ja unverschämten und zugleich völlig unattraktiven Sexualität empfindet. Und etwas in ihrem kalten Blick hatte ihm gesagt, dass sie sich dieser Reaktion wohl bewusst sei und sie amüsant finde. Sie hatte ihm allerhand anstößige Geschichten erzählt. Immer schon hatte es Mark bei den ungeschickten Versuchen emanzipierter Frauen, sich in dieser Art von Humor zu ergehen, geschaudert, aber das war stets von einem Gefühl der Überlegenheit gemildert worden. Diesmal hatte er das Gefühl, selbst die Zielscheibe zu sein. Diese Frau provozierte die männliche Prüderie zu ihrer Unterhaltung. Später dann hatte sie ihm Erinnerungen aus dem Polizeidienst aufgetischt. Trotz anfänglicher Skepsis war Mark entsetzt über ihre Vermutung, dass ungefähr dreißig Prozent aller Mordverfahren damit endeten, dass ein Unschuldiger gehängt wurde. Und sie gab Einzelheiten über den Hinrichtungsraum zum Besten, die ihm bis dahin nicht bekannt gewesen waren.
All dies war wenig erfreulich. Aber es wurde durch den angenehm vertraulichen Charakter des Gesprächs mehr als ausgeglichen. Immer wieder hatte man ihn im Laufe des Tages spüren lassen, dass er ein Außenseiter war: dieses Gefühl war völlig verschwunden, solange Miss Hardcastle mit ihm sprach. Er hatte den Eindruck, aufgenommen zu sein. Miss Hardcastle hatte offenbar ein bewegtes Leben hinter sich. Sie war nacheinander Frauenrechtlerin, Pazifistin und Faschistin gewesen. Sie war von der Polizei misshandelt und eingekerkert worden. Sie hatte aber auch mit Premierministern, Diktatoren und berühmten Filmstars verkehrt. Sie hatte mit beiden Enden des Gummiknüppels Bekanntschaft gemacht und wusste, was polizeiliche Gewalt vermochte und was nicht. In ihren Augen gab es nur wenig, was sie nicht vermochte. »Besonders jetzt«, sagte sie. »Hier im Institut unterstützen wir den Kreuzzug gegen den Bürokratismus.«
Der polizeiliche Aspekt des Instituts war, wie Mark ihren Ausführungen entnahm, für die Fee das Wichtigste. Die Institutspolizei war dazu da, der Institutsleitung all das abzunehmen, was man vielleicht als Hygieneangelegenheiten bezeichnen könnte. Darunter fielen sowohl Impfungen als auch Beschuldigungen wegen widernatürlicher Verirrungen; von da, meinte die Fee, sei es nur noch ein Schritt, um auch alle Erpressungsfälle an sich zu ziehen. Was das Verbrechen im Allgemeinen betraf, so hatten sie bereits in der Presse dafür geworben, dem Institut weitgehend freie Hand bei Experimenten zu lassen, die aufzeigen sollten, inwieweit eine humane, heilende Behandlung an die Stelle der alten vergeltenden oder rächenden Strafe treten könnte. Hier stand ihnen noch viel gesetzlicher Bürokratismus im Weg. »Aber es gibt nur zwei Tageszeitungen, die wir nicht kontrollieren«, sagte die Fee. »Und die werden wir fertig machen. Man muss den Mann auf der Straße dahin bringen, dass er automatisch Sadismus sagt, wenn er das Wort Bestrafung hört.« Dann habe man freie Bahn. Mark konnte diesem Gedankengang nicht gleich folgen, doch die Fee erklärte ihm, dass es gerade der Gedanke der verdienten Strafe sei, der der britischen Polizei bis zum heutigen Tage ihre Arbeit so schwer mache. Verdiente Strafe habe nämlich immer ihre Grenzen: man könne dem Kriminellen nur soundso viel antun und nicht mehr. Bei der heilenden Behandlung dagegen gebe es keine feste Grenze; sie könne fortgesetzt werden, bis sie eine Heilung bewirke, und jene, die sie verabreichten, würden entscheiden, wann dieser Zeitpunkt gekommen sei. Und wenn Heilung human und wünschenswert war, wie viel mehr galt dies erst für die Vorbeugung? Bald werde jeder, der schon einmal mit der Polizei zu tun gehabt habe, unter die Kontrolle des N.I.C.E. kommen, und am Ende jeder Bürger. »Das ist der Punkt, wo wir beide ins Spiel kommen, Kleiner«, fügte die Fee hinzu und tippte mit dem Zeigefinger gegen Marks Brust. »Auf lange Sicht gibt es keinen Unterschied zwischen Polizeiarbeit und Soziologie. Sie und ich, wir müssen Hand in Hand arbeiten.«
Dies hatte in Mark wieder die alten Zweifel geweckt, ob man ihm wirklich einen Posten anbot, und wenn ja, was für ein Posten das war. Die Fee hatte ihn vor Steele gewarnt, er sei ein gefährlicher Mann. »Es gibt zwei Leute, auf die Sie sehr Acht geben sollten«, sagte sie. »Der eine ist Frost, und der andere ist der alte Wither.« Aber über seine allgemeinen Befürchtungen hatte sie nur gelacht. »Sie sind schon mittendrin, Kleiner«, sagte sie. »Seien Sie nur nicht zu wählerisch, was Ihre Arbeit angeht. Sie müssen die Dinge nehmen, wie sie kommen. Wither mag keine Leute, die ihn festzunageln versuchen. Es hat keinen Zweck zu sagen, Sie wären hierher gekommen, um dieses zu tun, und würden jenes nicht tun. Dafür entwickeln sich die Dinge zurzeit einfach zu schnell. Sie müssen sich nützlich machen. Und glauben Sie nicht alles, was man Ihnen erzählt.«
Beim Abendessen saß Mark neben Hingest. »Nun«, sagte Hingest, »hat man Sie also doch noch eingefangen, wie?«
»Sieht so aus, ja«, antwortete Mark.
»Sollten Sie sich nämlich eines Besseren besinnen«, sagte Hingest, »könnte ich Sie mitnehmen. Ich fahre heute Abend zurück.«
»Sie haben mir noch nicht erzählt, warum Sie selbst uns verlassen wollen«, sagte Mark.
»Ach, wissen Sie, es hängt davon ab, was einer mag oder nicht mag. Wenn Sie Gefallen an der Gesellschaft dieses italienischen Eunuchen und des verrückten Pfarrers und dieser Hardcastle finden – ihre Großmutter würde ihr die Ohren lang ziehen, wenn sie noch lebte –, dann gibt es natürlich nichts mehr zu sagen.«
»Ich glaube, man kann das Institut kaum von einem rein gesellschaftlichen Standpunkt aus beurteilen – ich meine, es ist etwas mehr als ein Club, nicht wahr?«
»Wie? Beurteilen? – Soviel ich weiß, habe ich in meinem ganzen Leben noch nie etwas beurteilt, außer auf einer Blumenausstellung. Es ist alles eine Frage des Geschmacks. Ich bin hierher gekommen, weil ich dachte, es hätte etwas mit Wissenschaft zu tun. Nun, da ich sehe, dass es eher eine politische Verschwörung ist, gehe ich nach Hause. Ich bin zu alt für solche Sachen, und wenn ich an einer Verschwörung teilnehmen wollte, dann sicher nicht an dieser.«
»Vermutlich meinen Sie damit, dass das Element der sozialen Planung Ihnen missfällt? Ich kann gut verstehen, dass es in Ihr Arbeitsgebiet nicht so gut passt wie in die Wissenschaft der Soziologie, aber …«
»Soziologie ist keine Wissenschaft. Und wenn ich merken würde, dass die Chemie mit einer Geheimpolizei zusammenarbeitet, die von einem ältlichen Mannweib geleitet wird, das keine Korsetts trägt, und Pläne ausarbeitet, jedem Engländer Heim und Hof und Kinder zu nehmen, würde ich die Chemie zur Hölle fahren lassen und zur Gärtnerei zurückkehren.«
»Ich verstehe dieses Gefühl der Zuneigung für den kleinen Mann, aber wenn man wie ich die Wirklichkeit studiert…«
»Dann würde auch ich den Wunsch verspüren, alles niederzureißen und etwas anderes an seine Stelle zu setzen. Natürlich. Genau das passiert, wenn Sie die Menschen studieren: Sie finden einen Saustall vor. Ich bin im Übrigen der Meinung, dass man Menschen nicht studieren kann, man kann sie nur kennen lernen, was etwas ganz anderes ist. Weil Sie die Menschen studieren, wollen Sie die Unterschichten das Land regieren lassen und ihnen klassische Musik vorsetzen – so ein Unsinn! Und Sie wollen ihnen alles wegnehmen, was das Leben lebenswert macht; nur ein Haufen von Spitzbuben und Professoren soll davon ausgenommen bleiben.«
»Bill!«, rief Miss Hardcastle plötzlich vom anderen Ende des Tisches herüber, so laut, dass selbst Hingest es nicht überhören konnte. Er sah sie an, und sein Gesicht wurde dunkelrot.
»Stimmt es«, schrie die Fee, »dass Sie gleich nach dem Abendessen wegfahren wollen?«
»Ja, Miss Hardcastle, das stimmt.«
»Könnten Sie mich vielleicht mitnehmen?«
»Mit Vergnügen«, sagte Hingest in einem Ton, der niemanden täuschte, »wenn wir den gleichen Weg haben.«
»Wohin fahren Sie?«
»Nach Edgestow.«
»Fahren Sie durch Brenstock?«
»Nein, ich verlasse die Umgehungsstraße bei der Kreuzung gleich hinter Lord Hollywoods Eingangstor und fahre dann die Potter’s Lane hinunter.«
»Schade! Nützt mir nichts. Dann warte ich lieber bis morgen früh.«
Danach wurde Mark von seinem Nachbarn zur Linken in ein Gespräch verwickelt und sah Bill den Blizzard erst nach dem Abendessen in der Eingangshalle wieder. Er hatte bereits den Mantel an und wollte gerade zu seinem Wagen gehen.
Als er die Tür öffnete, begann er zu reden, und Mark sah sich genötigt, ihn über den kiesbestreuten Vorplatz zum Wagen zu begleiten.
»Befolgen Sie meinen Rat, Studdock«, sagte er, »oder denken Sie wenigstens darüber nach. Ich selbst halte zwar nichts von Soziologie, aber Sie haben eine recht anständige Karriere vor sich, wenn Sie am College bleiben. Sie tun sich selbst keinen Gefallen, wenn Sie sich mit dem N.I.C.E. einlassen – und bei Gott, Sie werden auch sonst keinem damit nützen.«
»Ich denke, man kann über alles zweierlei Ansicht sein«, sagte Mark.
»Wie? Zweierlei Ansicht? Es gibt ein Dutzend Ansichten über alles, bis man die Antwort weiß. Dann gibt es niemals mehr als eine. Doch das ist nicht meine Sache. Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Hingest«, sagte Mark. Hingest ließ den Motor an und fuhr davon.
Ein leiser Frosthauch lag in der Luft. Über den Baumwipfeln stand Orion und funkelte auf ihn herab, doch Mark kannte dieses erhabene Sternbild nicht einmal. Er zögerte, ins Haus zurückzugehen. Vielleicht erwarteten ihn dort weitere Gespräche mit interessanten und einflussreichen Leuten; vielleicht aber würde er sich auch wieder als Außenseiter fühlen, allein herumstehen und Gespräche beobachten, an denen er nicht teilnehmen konnte. Er war ohnehin müde. Als er die Vorderseite des Gebäudes entlangschlenderte, kam er bald zu einer weiteren, kleineren Tür, durch die man wahrscheinlich ins Haus gelangen konnte, ohne die Eingangshalle oder die öffentlichen Räume zu betreten. Er ging hinein, stieg die Treppe hinauf und legte sich schlafen.
5 _______
Camilla Denniston brachte Jane hinaus – nicht durch die kleine Tür in der Mauer, durch die sie hereingekommen war, sondern durch das Haupttor, das ungefähr hundert Schritte weiter auf dieselbe Straße hinausführte. Gelbes Licht ergoss sich von Westen her durch einen Spalt in der grauen Wolkendecke und tauchte die Landschaft für kurze Zeit in eine kalte Helligkeit. Jane hatte sich geniert, vor Camilla Denniston Zorn oder Furcht zu zeigen, und so war beides fast vergangen, als sie sich verabschiedete. Aber eine entschiedene Abneigung gegen das, was sie »all diesen Unsinn« nannte, blieb zurück. Sie hatte keine absolute Gewissheit, dass es Unsinn war, war aber entschlossen, es so zu behandeln. Sie wollte nicht hineingezogen, nicht vereinnahmt werden. Jeder musste sein eigenes Leben leben. Verstrickungen und Einmischungen zu vermeiden war seit langem eines ihrer wichtigsten Prinzipien. Selbst als sie entdeckt hatte, dass sie Mark heiraten würde, wenn er sie fragte, war sofort der Gedanke »aber ich muss trotzdem mein eigenes Leben weiterführen« aufgekommen und niemals länger als ein paar Minuten aus ihrem Bewusstsein geschwunden. Ein gewisser Groll gegen die Liebe selbst und darum auch gegen Mark, der auf diesem Weg in ihr Leben eingedrungen war, blieb zurück. Inzwischen wusste sie sehr genau, wie viel eine Frau durch die Heirat aufgab. Mark schien das nicht klar genug zu erkennen. Obwohl sie es nicht aussprach, war diese Furcht vor Beeinträchtigungen und Verstrickungen der tiefere Grund für ihren Entschluss, kein Kind zu bekommen – oder jedenfalls erst viel später. Jeder musste sein eigenes Leben leben.
Kaum war sie wieder in ihrer Wohnung, läutete das Telefon. »Sind Sie es, Jane?«, fragte eine Stimme. »Ich bin es, Margaret Dimble. Etwas Furchtbares ist geschehen. Ich werde es Ihnen erzählen, wenn ich komme. Im Moment bin ich zu wütend, um zu sprechen. Hätten Sie vielleicht zufällig noch ein Bett? Wie? Mr. Studdock ist gar nicht da? Nicht ein bisschen, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich habe Cecil zum Schlafen ins College geschickt. Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht störe? Tausend Dank. In einer halben Stunde bin ich bei Ihnen.«
4 Die Beseitigung von Anachronismen
Kaum hatte Jane Marks Bett frisch bezogen, als auch schon, mit vielen Paketen beladen, Mrs. Dimble eintraf. »Sie sind ein Engel, dass Sie mich für die Nacht aufnehmen«, sagte sie. »Ich glaube, wir haben es bei jedem Hotel in Edgestow versucht. Dieser Ort wird schier unerträglich. Überall die gleiche Antwort! Alles voll bis unters Dach mit der Gefolgschaft dieses abscheulichen N.I.C.E. Sekretärinnen hier, Stenotypistinnen dort, Bauingenieure, Vermessungsleute – es ist schrecklich. Hätte Cecil nicht ein Zimmer im College, so müsste er wohl tatsächlich im Wartesaal des Bahnhofs schlafen. Ich hoffe nur, dass dieser Hausdiener im College das Bett gelüftet hat.«
»Aber was in aller Welt ist geschehen?«, fragte Jane.
»Man hat uns an die Luft gesetzt, meine Liebe!«
»Aber das ist doch nicht möglich, Mrs. Dimble. Ich meine, das kann unmöglich legal sein.«
»Das hat Cecil auch gesagt … Stellen Sie sich bloß vor, Jane, als wir heute Morgen aus dem Fenster schauten, sahen wir als Erstes einen Lastwagen in unserer Einfahrt; er stand mit den Hinterrädern mitten im Rosenbeet und lud einen Haufen Leute mit Äxten und Sägen ab, Leute, die wie Kriminelle aussahen. Direkt in unserem Garten! Ein abscheulicher kleiner Mann mit Schirmmütze war dabei, der die Zigarette im Mund behielt, während er mit Cecil sprach – das heißt nicht im Mund, sie klebte an seiner Oberlippe. Und wissen Sie, was er gesagt hat? Er sagte, sie hätten nichts dagegen, wenn wir bis morgen früh um acht im Haus blieben – wohlgemerkt im Haus, nicht im Garten. Nichts dagegen!«
»Aber das muss doch – muss doch ein Irrtum sein!«
»Cecil hat natürlich gleich den Schatzmeister des Bracton Colleges angerufen. Und natürlich war ihr Schatzmeister nicht im Haus. Den ganzen Vormittag lang haben wir immer wieder versucht zu telefonieren, und während der Zeit sind alle Pflaumenbäume und die große Buche, die Sie so gern hatten, gefällt worden. Wenn ich nicht so wütend gewesen wäre, hätte ich mich hingesetzt und mir die Augen ausgeweint. So war mir zu Mute. Schließlich hat Cecil diesen Mr. Busby erreicht, der sich als völlig unbrauchbar erwies und sagte, es müsse irgendein Missverständnis vorliegen, aber er habe jetzt nichts mehr mit der Sache zu tun und wir sollten uns an das N.I.C.E. in Belbury wenden. Selbstverständlich war es völlig unmöglich, eine Verbindung mit denen zu bekommen. Und zur Mittagszeit war klar, dass wir die Nacht einfach nicht mehr zu Hause verbringen konnten, was immer auch geschehen würde.«
»Warum nicht?«
»Meine Liebe, Sie können sich keine Vorstellung davon machen. Die ganze Zeit sind riesige Lastwagen und Zugmaschinen vorbeigedonnert, und dann ein Kran auf einer Art Tieflader. Die Lieferanten kamen nicht mehr durch. Die Milch kam erst um elf. Das Fleisch kam überhaupt nicht, und am Nachmittag rief die Metzgerei an und sagte, ihr Fahrer sei nicht zu uns durchgekommen. Wir hatten selbst die größten Schwierigkeiten, in die Stadt zu kommen. Von unserem Haus bis zur Brücke haben wir eine halbe Stunde gebraucht. Es war wie ein Albtraum. Überall Lichter und Lärm, die Straße praktisch zerstört, und auf der Gemeindewiese errichten sie bereits ein riesiges Barackenlager. Und die Leute! Derart grässliche Männer. Ich wusste nicht, dass wir in England solche Arbeiter haben. Ach, grässlich, grässlich!« Mrs. Dimble fächelte sich mit dem Hut, den sie gerade abgenommen hatte, Luft zu.
»Und was wollen Sie nun tun?«, fragte Jane.
»Das weiß der Himmel!«, sagte Mrs. Dimble. »Einstweilen haben wir das Haus zugesperrt, und Cecil ist bei unserem Anwalt, Mr. Rumbold, gewesen, um zu sehen, ob wir das Haus wenigstens versiegeln lassen können, sodass niemand es betritt, bis wir unsere Sachen herausgeholt haben. Rumbold scheint nicht zu wissen, woran er ist. Er sagt ständig, das N.I.C.E. sei juristisch in einer ganz besonderen Position. Was das heißt, kann ich beim besten Willen nicht sagen. Soweit ich sehe, wird es in Edgestow überhaupt keine Privathäuser mehr geben. Zum anderen Flussufer hinüberzuziehen hat überhaupt keinen Zweck, selbst wenn sie uns ließen. Was meinen Sie? Oh, unbeschreiblich. Alle Pappeln werden gefällt. Und all diese hübschen kleinen Häuser bei der Kirche werden abgerissen. Ich habe die arme Ivy – Ihre Mrs. Maggs, wissen Sie – getroffen, und sie war in Tränen aufgelöst. Die armen Dinger! Sie sehen wirklich furchtbar aus, wenn die Tränen über das Make-up laufen. Sie ist auch auf die Straße gesetzt worden; arme Frau, als ob sie es nicht ohnedies schon schwer genug hätte. Ich war froh wegzukommen. Die Männer waren so schrecklich. Drei große Kerle sind an die Hintertür gekommen, sie wollten heißes Wasser und haben sich so aufgeführt, dass Martha vor Angst völlig den Kopf verlor und Cecil hinausgehen und mit ihnen sprechen musste. Ich dachte schon, sie würden Cecil schlagen, wirklich. Es war schrecklich unerfreulich. Irgendein besonderer Polizist schickte sie dann weg. Wie? Ach ja, überall sind dutzende von Uniformierten, die wie Polizisten aussehen, aber die haben mir auch nicht gefallen. Sie wippen ständig mit so einer Art Gummiknüppel, wie in den amerikanischen Filmen. Wissen Sie, Jane, Cecil und ich dachten beide das Gleiche: Wir dachten, es ist beinahe, als hätten wir den Krieg verloren. Oh, wunderbar, Tee! Das ist genau, was ich brauche.«
»Sie müssen hier bleiben, Mrs. Dimble, solange Sie wollen«, sagte Jane. »Mark wird einfach im College schlafen müssen.«
»Also wirklich«, sagte Mutter Dimble, »wenn es im Augenblick nach mir ginge, dann dürfte kein Mitglied des Bracton Colleges überhaupt irgendwo schlafen! Aber bei Ihrem Mann würde ich eine Ausnahme machen. Wie die Dinge liegen, werde ich ohnehin nicht Siegfrieds Schwert spielen müssen – und was wäre das auch für ein hässliches, fettes und unbeholfenes Schwert! Übrigens wissen wir bereits, wo wir unterkommen. Cecil und ich werden nach St. Anne’s in das Landhaus ziehen. Dort haben wir zurzeit sowieso oft zu tun, wissen Sie.«
»Oh«, sagte Jane beinahe erschrocken, als ihr die Erlebnisse des Tages wieder einfielen.
»Aber, wie egoistisch von mir!«, sagte Mutter Dimble. »Da plappere ich über meine eigenen Schwierigkeiten und vergesse ganz, dass Sie dort gewesen sind und sicherlich viel zu erzählen haben. Haben Sie mit Grace gesprochen? Und hat sie Ihnen gefallen?«
»›Grace‹ ist Miss Ironwood?« fragte Jane.
»Ja.«
»Ich habe mit ihr gesprochen. Ich weiß nicht, ob sie mir gefallen hat oder nicht. Aber ich möchte jetzt nicht darüber sprechen. Ich kann an nichts anderes denken als an diese empörenden Ereignisse bei Ihnen. Sie sind die Märtyrerin, nicht ich.«
»Nein, meine Liebe«, sagte Mrs. Dimble, »ich bin keine Märtyrerin. Ich bin nur eine zornige alte Frau mit schmerzenden Füßen und Kopfweh – aber das wird schon weniger –, die versucht, sich in eine bessere Stimmung hineinzureden. Schließlich haben Cecil und ich nicht wie die arme Ivy Maggs unsere Lebensgrundlage verloren. So wichtig ist uns das alte Haus nun auch wieder nicht. Wissen Sie, das Vergnügen, dort zu leben, war in mancher Hinsicht ein melancholisches Vergnügen. Ich frage mich überhaupt, ob die Menschen eigentlich gerne glücklich sind? Ein wenig melancholisch, ja. All diese großen Zimmer im Obergeschoss, die wir wollten, weil wir dachten, dass wir viele Kinder haben würden, und dann bekamen wir nicht eines. Vielleicht habe ich zu viel Gefallen daran gefunden, ihnen an den langen Nachmittagen, wenn Cecil nicht da war, nachzutrauern. Mich selbst zu bemitleiden. Es wird besser für mich sein, von dort wegzukommen, glaube ich. Am Ende wäre ich noch wie diese fürchterliche Frau bei Ibsen geworden, die immer über Puppen redet. Für Cecil ist es wirklich viel schlimmer. Er hatte so gern alle seine Studenten um sich. Jane, jetzt haben Sie schon zum dritten Mal gegähnt. Sie sind todmüde, und ich rede Ihnen ein Loch in den Bauch. Das kommt davon, wenn man dreißig Jahre verheiratet ist. Ehemänner sind dazu da, dass man auf sie einredet. Es hilft ihnen, sich auf das zu konzentrieren, was sie gerade lesen – wie das Geräusch eines Wasserfalls. Da! Nun gähnen Sie schon wieder.«