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Jane empfand Mutter Dimble als eine etwas unbequeme Zimmergenossin, weil sie betete. »Sonderbar«, dachte Jane, »wie einen das verwirren kann.« Man wusste nicht, wo man hinschauen sollte, und nachdem Mrs. Dimble sich von den Knien erhoben hatte, war es mehrere Minuten lang schwierig, den natürlichen Gesprächston wieder zu finden.
2 _______
»Sind Sie jetzt wach?«, fragte Mrs. Dimbles Stimme mitten in der Nacht.
»Ja«, antwortete Jane. »Es tut mir Leid. Habe ich Sie geweckt? Habe ich geschrien?«
»Ja. Sie haben geschrien, dass jemand auf den Kopf geschlagen würde.«
»Ich habe gesehen, wie sie einen Mann umbrachten, einen Mann, der in einem großen Wagen eine Landstraße entlangfuhr. Er kam zu einer Kreuzung und bog nach rechts ab, vorbei an einigen Bäumen, und dort stand jemand mitten auf der Straße und schwenkte ein Licht, um ihn anzuhalten. Ich konnte nicht hören, was sie sagten, denn ich war zu weit entfernt. Sie müssen ihn überredet haben, aus dem Wagen zu steigen, und er sprach mit einem von ihnen. Das Licht fiel voll auf sein Gesicht. Er war nicht derselbe alte Mann, den ich in dem anderen Traum gesehen habe. Dieser hatte keinen Bart, nur einen Schnurrbart. Er wirkte irgendwie hitzig und stolz. Es gefiel ihm nicht, was der Mann zu ihm sagte, und dann nahm er seine Fäuste und schlug ihn nieder. Ein anderer Mann hinter ihm versuchte, ihn mit einem Gegenstand auf den Kopf zu schlagen, aber der alte Mann war zu schnell und drehte sich rechtzeitig um. Dann gab es einen schrecklichen Kampf, der aber auch etwas Großartiges hatte. Sie waren zu dritt, und er kämpfte gegen alle drei. Ich habe in Büchern davon gelesen, konnte mir aber nie vorstellen, wie einem dabei zu Mute ist. Natürlich haben sie ihn schließlich überwältigt. Mit den Dingern in ihren Händen schlugen sie furchtbar auf seinen Kopf ein. Sie haben ihn ganz kaltblütig erledigt und sich dann gebückt, um ihn zu untersuchen und sich zu vergewissern, dass er wirklich tot war. Das Licht der Laterne kam mir seltsam vor, wie hohe Stäbe oder Stangen aus Licht – überall. Aber vielleicht war ich da schon im Begriff aufzuwachen. Nein, danke, alles in Ordnung. Es war natürlich furchtbar, aber ich habe keine Angst … nicht so wie in den früheren Träumen. Ich habe vor allem Mitleid mit dem alten Mann.«
»Glauben Sie, dass Sie wieder einschlafen können?«
»O ja! Haben die Kopfschmerzen nachgelassen, Mrs. Dimble?«
»Sie sind ganz weg, danke. Gute Nacht.«
3 _______
»Kein Zweifel«, dachte Mark, »dies muss der verrückte Pfarrer sein, den Bill der Blizzard erwähnt hat.« Die Ausschusssitzung begann erst um halb elf in Belbury, und seit dem Frühstück war Mark trotz des rauen und nebligen Wetters mit Reverend Straik im Garten spazieren gegangen. Gleich als der Mann ihn angesprochen hatte, hatten die abgetragenen Kleider und die plumpen Schuhe, der durchgewetzte Klerikerkragen, das dunkle, hagere, tragische Gesicht, narbig, schlecht rasiert und zerfurcht, die geradezu erbitterte Aufrichtigkeit auf Mark fehl am Platze gewirkt. Er hatte nicht erwartet, im Institut einer solchen Gestalt zu begegnen.
»Denken Sie nicht«, sagte Mr. Straik, »dass ich mich der Illusion hingäbe, unser Programm könnte ohne Gewalt verwirklicht werden. Es wird Widerstand geben. Sie werden mit den Zähnen knirschen und keine Reue zeigen. Aber wir werden uns nicht abschrecken lassen. Wir werden diesen Unruhen mit einer Festigkeit begegnen, die Verleumder zu der Behauptung verleiten wird, wir hätten sie gewollt. Lassen wir sie reden. In gewissem Sinne haben wir sie gewollt. Es kann nicht unsere Sache sein, jenes System geregelter Sünde zu erhalten, das man Gesellschaft nennt. Für dieses System ist die Botschaft, die wir zu verkünden haben, eine Botschaft völliger Verzweiflung.«
»Nun, genau das habe ich gemeint«, sagte Mark, »als ich sagte, Ihr Standpunkt und der meine wären im Grunde unvereinbar. Die Erhaltung der Gesellschaft durch gründliche Planung aller Lebensbereiche ist das Ziel, das ich vor Augen habe. Ich glaube nicht, dass es ein anderes Ziel gibt oder geben kann. Für Sie stellt sich das Problem völlig anders, weil Sie auf etwas Besseres als die menschliche Gesellschaft hoffen, in einer anderen Welt.«
»Mit jedem Gedanken und jeder Faser meines Herzens, mit jedem Tropfen meines Blutes weise ich diese verwerfliche Doktrin zurück«, sagte Mr. Straik. »Genau das ist die Ausflucht, mit der die Welt, diese Organisierung und Behausung des Todes, die Lehre Jesu Christi auf den falschen Pfad geführt und entmannt und die einfache Forderung des Herrn nach Rechtschaffenheit und Gericht hier und jetzt in Pfaffentum und Mystizismus verwandelt hat. Das Königreich Gottes muss hier verwirklicht werden – in dieser Welt. Und es wird geschehen. Beim Namen Jesu soll jedes Knie sich beugen. Und in diesem Namen sage ich mich völlig los von allen Formen organisierter Religion, die diese Welt bisher gesehen hat.«
Die Erwähnung des Namens Jesu brachte Mark, der ohne weiteres vor einem Hörsaal voll junger Frauen eine Vorlesung über Abtreibung oder Perversion gehalten hätte, so aus der Fassung, dass er leicht errötete; und als er das merkte, ärgerte er sich so über sich selbst und Mr. Straik, dass seine Wangen in der Tat sehr rot wurden. Dies war genau die Art von Gespräch, die er nicht ausstehen konnte; und seit dem Elend der Religionsstunden in der Schule, an die er sich nur zu gut erinnerte, hatte er sich nie so unbehaglich gefühlt. Er murmelte etwas über seine mangelnden Kenntnisse in Theologie.
»Theologie!«, sagte Mr. Straik mit tiefer Verachtung. »Ich spreche nicht über Theologie, junger Mann, sondern über den Herrn Jesus Christus. Theologie ist Geschwätz, Augenwischerei, Schall und Rauch, ein Spiel für reiche Müßiggänger. Ich habe den Herrn Jesus nicht in Hörsälen gefunden. Ich habe ihn in den Kohlengruben gefunden und neben dem Sarg meiner Tochter. Wer meint, Theologie sei eine Art Watte, die ihn am Tag des großen und schrecklichen Gerichts sicher schützen werde, der irrt. Denken Sie an meine Worte: so wird es geschehen! Das Reich Gottes wird kommen, in dieser Welt, in diesem Land. Die Macht der Wissenschaft ist ein Werkzeug. Ein unwiderstehliches Werkzeug, wie wir alle im Institut wissen. Und warum ist sie ein unwiderstehliches Werkzeug?«
»Weil Wissenschaft auf Beobachtung beruht«, sagte Mark.
»Sie ist ein unwiderstehliches Werkzeug«, rief Straik, »weil sie ein Werkzeug in Seiner Hand ist. Richtschwert und Balsam zugleich. Das konnte ich keiner der Kirchen klarmachen. Sie sind mit Blindheit geschlagen, verblendet von den schmutzigen Fetzen des Humanismus, der Kultur, der Menschenfreundlichkeit, des Liberalismus und ihrer eigenen Sünden oder was sie dafür halten, obgleich sie wirklich das am wenigsten Sündige an ihnen sind. Darum stehe ich allein: ein armer, schwacher, unwürdiger Mann, aber der einzige lebende Prophet. Ich weiß, dass Er in Macht und Herrlichkeit kommen wird. Und darum sehen wir die Zeichen Seiner Ankunft, wo wir Macht sehen. So kommt es, dass ich mich mit Kommunisten und Materialisten und jedem anderen verbünde, der wirklich bereit ist, die Ankunft des Herrn zu beschleunigen. Noch der Geringste dieser Menschen hier begreift den tragischen Sinn des Lebens und hat die Unbarmherzigkeit, die völlige Hingabe, die Bereitschaft, alle bloß menschlichen Werte aufzuopfern, lauter Dinge, die ich unter all der widerlichen Heuchelei der organisierten Religionen nicht finden konnte.«
»Sie wollen damit also sagen«, sagte Mark, »dass es in der unmittelbaren Praxis keine Grenzen für Ihre Zusammenarbeit mit dem Institut gibt?«
»Lassen Sie die Vorstellung einer Zusammenarbeit fahren!«, sagte der andere. »Arbeitet der Ton mit dem Töpfer zusammen? Arbeitete Kyros mit dem Herrn zusammen? Diese Leute werden Werkzeuge sein. Auch ich werde ein Werkzeug sein. Ein Mittel zum Zweck. Aber hier kommen wir zu dem Punkt, der Sie angeht, junger Mann. Sie haben keine Wahl, ob Sie Werkzeug sein wollen oder nicht. Wenn Sie einmal Ihre Hand an den Pflug gelegt haben, gibt es kein Zurück mehr. Niemand kehrt dem N.I.C.E. den Rücken. Jene, die es versuchen, werden in der Wildnis umkommen. Aber die Frage ist, ob Sie sich damit zufrieden geben, eines der Werkzeuge zu sein, die zur Seite geworfen werden, wenn sie Ihm gedient haben – die gerichtet werden, nachdem sie andere gerichtet haben. Oder werden Sie unter jenen sein, die das Erbe antreten? Denn es ist alles wahr, wissen Sie. Die Heiligen werden die Erde erben – hier in England, vielleicht innerhalb der nächsten zwölf Monate –, die Heiligen und niemand sonst. Wissen Sie nicht, dass wir sogar über Engel zu Gericht sitzen werden?« Dann dämpfte Straik plötzlich seine Stimme und fügte hinzu: »Die wahre Wiederauferstehung findet schon jetzt statt. Das wirkliche Leben wird ewig währen, hier in dieser Welt. Sie werden es sehen.«
»Es ist gleich zwanzig nach«, sagte Mark. »Sollten wir nicht zur Ausschusssitzung?«
Straik machte schweigend mit ihm kehrt. Teils, um eine Fortsetzung des Gesprächs in dieser Richtung zu verhindern, und teils, weil er wirklich eine Auskunft haben wollte, sagte Mark nach einer Weile: »Mir ist etwas ziemlich Unangenehmes passiert. Ich habe meine Brieftasche verloren. Es war nicht viel Geld darin: nur etwa drei Pfund. Aber es waren Briefe und andere Dinge darin, es ist ziemlich ärgerlich. Sollte ich das irgendjemandem melden?«
»Sie können es dem Hausverwalter sagen«, meinte Straik.
4 _______
Der Ausschuss tagte ungefähr zwei Stunden, und der stellvertretende Direktor führte den Vorsitz. Seine Art, die Sitzung zu leiten, war langsam und umständlich, und Mark, der in Bracton seine Erfahrungen gesammelt hatte, gewann bald den Eindruck, dass die eigentliche Arbeit des Instituts anderswo geleistet wurde. Dies entsprach auch seinen Erwartungen, und er war zu vernünftig, um anzunehmen, dass er schon zu diesem frühen Zeitpunkt im inneren Kreis oder was immer hier in Belbury dem Progressiven Element am Bracton College entsprach, Aufnahme finden würde. Aber er hoffte, man würde ihn nicht allzu lange seine Zeit in Schattenausschüssen vergeuden lassen. An diesem Morgen wurden hauptsächlich Einzelheiten der in Edgestow bereits angelaufenen Arbeiten besprochen. Das N.I.C.E. hatte anscheinend eine Art Sieg errungen, der ihm das Recht gab, die kleine normannische Kirche abzureißen. »Natürlich wurden die üblichen Einwände auf den Tisch gebracht«, sagte Wither. Mark, der an Architektur nicht sonderlich interessiert war und die andere Seite des Wynd nicht annähernd so gut kannte wie seine Frau, ließ seine Aufmerksamkeit abschweifen. Erst am Ende der Sitzung kam Wither auf einen regelrecht sensationellen Vorfall zu sprechen. Er meinte, die meisten der Anwesenden hätten die höchst traurige Nachricht wohl bereits gehört (Mark fragte sich, warum Vorsitzende immer mit solchen Wendungen anfingen), die offiziell bekannt zu geben er nichtsdestoweniger verpflichtet sei. Er bezog sich natürlich auf die Ermordung von William Hingest. Soweit Mark dem gewundenen und anspielungsreichen Bericht des Vorsitzenden entnehmen konnte, war Bill der Blizzard gegen vier Uhr früh mit eingeschlagenem Schädel neben seinem Wagen in der Potters Lane aufgefunden worden. Der Tod war mehrere Stunden zuvor eingetreten. Mr. Wither wagte anzunehmen, es sei den Anwesenden eine melancholische Befriedigung zu erfahren, dass die N.I.C.E.-Polizei noch vor fünf Uhr am Schauplatz des Verbrechens eingetroffen sei und dass weder die lokalen Behörden noch Scotland Yard irgendwelche Einwände gegen eine weitestgehende Zusammenarbeit erhöben. Wäre der Anlass passender, so hätte er einen Antrag begrüßt, Miss Hardcastle den Dank und die Glückwünsche des Ausschusses für das reibungslose Zusammenwirken ihrer eigenen Kräfte mit denen des Staates auszusprechen. Das sei ein Lichtblick in dieser traurigen Geschichte und, wie er meine, ein gutes Omen für die Zukunft. Dezent gedämpfter Applaus ging bei diesen Worten um den Tisch. Dann begann Mr. Wither mit einiger Ausführlichkeit über den Toten zu sprechen. Sie alle hätten Mr. Hingests Beschluss, sich vom Institut zurückzuziehen, sehr bedauert, wiewohl sie seinen Beweggründen volle Anerkennung zollten; sie alle hätten empfunden, dass diese offizielle Trennung nicht im Mindesten die herzlichen Beziehungen beeinträchtigen würde, die zwischen dem Verblichenen und den meisten – er glaube sogar sagen zu dürfen, ohne Ausnahme allen seinen früheren Kollegen im Institut bestanden. Der stellvertretende Direktor war durch seine besonderen Talente sehr gut befähigt, Leichenreden zu halten, und er ließ es auch nicht an der gebotenen Ausführlichkeit fehlen. Er schloss mit der Bitte an die Versammelten, sich zu erheben und das Andenken William Hingests durch eine Schweigeminute zu ehren.
Das taten sie, und es folgte eine schier endlose Minute, während der hier und da ein Hüsteln oder Schnaufen zu hören war. Hinter all den Masken glatter Gesichter mit fest geschlossenen Lippen stahlen sich belanglose Gedanken an dies und jenes hervor, so wie Vögel und Mäuse wieder auf eine Waldlichtung herausschlüpfen, wenn die Ausflügler gegangen sind, und jeder versicherte sich im Stillen, er jedenfalls sei nicht so morbide und denke an den Tod.
Dann scharrten Füße, Stimmen wurden laut, und die Sitzung wurde aufgehoben.I
5 _______
Das Aufstehen und die morgendliche Haushaltsarbeit waren für Jane viel angenehmer, weil sie Mrs. Dimble bei sich hatte. Mark half ihr häufig, da er aber die Ansicht vertrat – und Jane spürte es immer, auch wenn er es nicht sagte –, es müsse nur »irgendwie getan« werden, Jane mache sich eine Menge unnötiger Arbeit und Männer könnten einen Haushalt mit einem Zehntel des Aufhebens in Ordnung halten, das Frauen davon machten, war Marks Hilfe häufig ein Anlass für Streitereien zwischen ihnen. Mrs. Dimble dagegen machte alles so, wie sie es wollte. Es war ein heller, sonniger Morgen, und als sie sich zum Frühstück in die Küche setzten, fühlte auch Jane sich heiter und aufgeräumt. Während der Nacht hatte sie sich eine bequeme Theorie zurechtgelegt, derzufol-ge allein die Tatsache ihres Besuchs bei Miss Ironwood und der Aussprache mit ihr die Träume wahrscheinlich zum Verschwinden bringen würde. Damit wäre die Episode abgeschlossen. Und nun dachte sie an die aufregende Möglichkeit von Marks neuer Stellung, auf die man sich freuen konnte, und begann, sich Zukunftsbilder auszumalen.
Mrs. Dimble wollte gerne wissen, was Jane in St. Anne’s erlebt hatte und wann sie wieder hinausfahren werde. Auf die erste Frage antwortete Jane ausweichend, und Mrs. Dimble war zu höflich, sie zu bedrängen. Zur zweiten Frage meinte Jane, sie werde Miss Ironwood nicht wieder behelligen und sie lasse sich auch nicht länger von den Träumen behelligen. Sie sagte, sie sei albern gewesen, aber jetzt sei alles in Ordnung. Dann blickte sie auf die Uhr und fragte sich, warum Mrs. Maggs noch nicht erschienen sei.
»Ich fürchte, meine Liebe, Sie haben Ivy Maggs verloren«, sagte Mrs. Dimble. »Habe ich Ihnen nicht erzählt, dass man auch sie auf die Straße gesetzt hat? Ich dachte, es wäre Ihnen klar, dass sie in Zukunft nicht mehr zu Ihnen kommen würde. Sie hat hier in Edgestow keine Bleibe mehr, wissen Sie.«
»Mist!«, sagte Jane und fügte ohne großes Interesse hinzu: »Wissen Sie, was sie jetzt macht?«
»Sie geht nach St. Anne’s.«
»Hat sie dort Freunde?«
»Sie ist mit Cecil und mir in das Landhaus gezogen.«
»Hat sie dort eine Stellung gefunden?«
»Nun ja, ich nehme an, man kann es so nennen.«
Mrs. Dimble ging um elf. Auch sie wollte anscheinend nach St. Anne’s, würde aber vorher noch ihren Mann treffen und mit ihm im Northumberland College zu Mittag essen. Jane ging mit ihr in die Stadt hinunter, um ein paar Einkäufe zu machen, und sie trennten sich am unteren Ende der Market Street. Kurz darauf traf Jane Mr. Curry.
»Haben Sie die Neuigkeit schon gehört, Mrs. Studdock?«, fragte Curry. Er tat immer sehr bedeutsam und hatte stets
einen etwas vertraulichen Ton. An diesem Morgen war beides noch auffälliger als sonst.
»Nein. Was ist passiert?«, sagte Jane.
Sie hielt Mr. Curry für einen aufgeblasenen Trottel und Mark für einen Dummkopf, weil er sich von ihm beeindrucken ließ. Aber sobald Curry zu sprechen begann, zeigte ihr Gesicht alle Verwunderung und Bestürzung, die er sich nur wünschen konnte. Und diesmal waren sie nicht geheuchelt. Er erzählte ihr, dass Mr. Hingest ermordet worden sei, irgendwann während der Nacht oder in den frühen Morgenstunden. Der Leichnam sei neben seinem Wagen in der Potters Lane gefunden worden, mit eingeschlagenem Schädel. Er war auf dem Weg von Belbury nach Edgestow gewesen. Er, Curry, eile gerade ins College zurück, um dem Rektor Bericht zu erstatten, er komme soeben von der Polizei. Offensichtlich hatte Curry sich den Mordfall bereits angeeignet. Die Angelegenheit lag in irgendeinem undefinierbaren Sinne in seinen Händen, und die Verantwortung lastete schwer auf ihm. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Jane dies alles komisch gefunden. Sie entwischte ihm so bald wie möglich und ging zu Blackies, um eine Tasse Kaffee zu trinken. Sie musste sich hinsetzen.
An sich machte Hingests Tod ihr nichts aus. Sie war ihm nur einmal begegnet und wie Mark der Ansicht, er sei ein unangenehmer alter Mann und ein ziemlicher Snob. Aber die Gewissheit, dass sie in ihrem Traum Zeugin einer wirklichen Mordtat geworden war, zertrümmerte mit einem Schlag alle tröstlichen Vorspiegelungen, mit denen dieser Tag begonnen hatte. Mit schmerzlicher Klarheit wurde ihr bewusst, dass die Sache mit ihren Träumen keineswegs beendet war, sondern gerade erst begann. Unwiderruflich war etwas in das heitere, umfriedete kleine Leben, das sie hatte führen wollen, eingebrochen. Auf allen Seiten öffneten sich Fenster in ungeheure dunkle Landschaften, und sie hatte nicht die Macht, sie zu schließen. Es würde sie um den Verstand bringen, wenn sie allein damit fertig werden müsste. Die andere Alternative war, wieder Miss Ironwood aufzusuchen. Aber dieser Weg schien nur noch tiefer in all diese Dunkelheit hineinzuführen. Das Landhaus in St. Anne’s – diese »Art Gesellschaft« – hatte auch etwas mit der Sache zu tun. Sie wollte da nicht hineingezogen werden. Es war ungerecht. Sie verlangte doch gar nicht viel vom Leben. Sie wollte nur in Ruhe gelassen werden. Und es war so widersinnig! Nach ihrer ganzen bisherigen Überzeugung konnte es solche Dinge nicht wirklich geben.
6 _______
Cosser – der sommersprossige Mann mit dem schmalen schwarzen Schnurrbart – kam auf Mark zu, als dieser die Ausschusssitzung verließ.
»Es gibt etwas zu tun für uns beide«, sagte er. »Wir müssen einen Bericht über Cure Hardy zusammenstellen.«
Mark war sehr erleichtert, etwas zu tun zu bekommen. Aber er fühlte sich ein wenig vor den Kopf gestoßen, denn er hatte Cosser nicht sehr gemocht, als er ihn am Vortag kennen gelernt hatte.
»Soll das heißen«, sagte er, »dass ich nun doch Steele zugeordnet bin?«
»Jawohl«, sagte Cosser.
»Ich frage nur«, sagte Mark, »weil weder er noch Sie besonders erpicht darauf schienen, mich zu bekommen. Ich will mich nicht aufdrängen, wissen Sie. Ich brauche überhaupt nicht im Institut zu bleiben, was das angeht.«
»Nun, wir wollen hier nicht darüber reden«, sagte Cosser. »Kommen Sie mit nach oben.«
Sie standen in der Eingangshalle, und Mark sah Wither in Gedanken versunken auf sie zukommen.
»Wäre es nicht besser, mit ihm zu reden und die ganze Sache zu klären?«, schlug Mark vor. Aber nachdem der Vizedirektor sich ihnen bis auf zehn Fuß genähert hatte, war er in eine andere Richtung abgebogen. Er summte vor sich hin und schien so tief in Gedanken versunken, dass Mark den Augenblick für eine Unterredung ungeeignet fand. Cosser sagte nichts, schien aber genauso zu denken, und so folgte Mark ihm hinauf zu einem Büro im dritten Stock.
»Es geht um das Dorf Cure Hardy«, sagte Cosser, als sie sich gesetzt hatten. »Sehen Sie, sobald die Arbeiten richtig losgehen, wird diese ganze Gegend um den Bragdon-Wald nicht viel mehr als eine Schlammwüste sein. Warum wir ausgerechnet dorthin wollen, weiß der Teufel. Wie dem auch sei, nach dem neuesten Plan soll der Wynd umgeleitet werden. Das alte Flussbett durch Edgestow soll ganz trockengelegt werden.
Sehen Sie, hier ist Shillingbridge, zehn Meilen nördlich der Stadt. Dort wird der Fluss umgeleitet und durch einen Kanal im Osten um Edgestow herumgeführt, hier, wo die blaue Linie verläuft. Dort unten mündet er dann wieder in das alte Flussbett.«
»Damit wird die Universität kaum einverstanden sein«, sagte Mark. »Was wäre Edgestow ohne den Fluss?«
»Die Universität haben wir in der Hand«, sagte Cosser. »Seien Sie unbesorgt. Und damit haben wir auch gar nichts zu tun. Die Sache ist die, dass der neue Wynd direkt durch Cure Hardy fließen wird. Nun sehen Sie sich einmal die Höhenlinien an. Cure Hardy liegt in einem engen kleinen Tal. Wie? Ach, Sie sind schon dort gewesen? Umso besser. Ich selbst kenne diese Gegend nicht. Also, der Gedanke war, am südlichen Talausgang einen Damm zu errichten und einen großen See aufzustauen. Als zweitwichtigste Stadt des Landes wird Edgestow eine neue Wasserversorgung brauchen.«
»Und was geschieht mit Cure Hardy?«
»Das ist ein weiterer Vorteil. Wir bauen vier Meilen weiter – da drüben, an der Bahnlinie – ein neues Musterdorf. Es wird Jules Hardy oder Wither Hardy heißen.«
»Wissen Sie, das wird einen höllischen Stunk geben, wenn Sie mich fragen. Cure Hardy ist berühmt. Es ist eine Sehenswürdigkeit. Da gibt es ein Spital aus dem sechzehnten Jahrhundert und eine normannische Kirche und all so was.«
»Genau. Und hier liegt unsere Aufgabe. Wir müssen einen Bericht über Cure Hardy verfassen. Morgen fahren wir hinaus und sehen uns einmal um, aber den größten Teil des Berichts können wir heute schon schreiben. Das dürfte nicht weiter schwierig sein. Wenn es eine Sehenswürdigkeit ist, können Sie sich darauf verlassen, dass es unhygienisch ist. Das ist der erste Punkt, den wir herausstreichen müssen. Dann müssen wir ein paar Tatsachen über die Bevölkerung herausfinden. Sie besteht wahrscheinlich zum überwiegenden Teil aus den beiden höchst unerwünschten Elementen – kleinen Rentnern und Landarbeitern.«
»Der kleine Rentner ist ein schlechtes Element, darin gebe ich Ihnen Recht«, sagte Mark. »Aber ich denke, über die Landarbeiter lässt sich streiten.«
»Das Institut hält nichts von ihnen. In einer durchgeplanten Gesellschaft stellen sie immer ein rückständiges und sehr widerspenstiges Element dar. Wir halten nicht viel von englischer Landwirtschaft. Sie sehen also, wir brauchen nur ein paar Fakten zu überprüfen. Davon abgesehen schreibt sich der Bericht beinahe von selbst.«
Mark schwieg einen Augenblick. »Das ist kein Problem«, sagte er, »aber bevor ich damit anfange, möchte ich gern et-was Genaueres über meine Position wissen. Sollte ich nicht mit Steele sprechen? Ich habe keine große Lust, mit der Arbeit in dieser Abteilung anzufangen, wenn er mich nicht haben will.«
»Das würde ich nicht tun«, sagte Cosser.
»Warum nicht?«
»Nun, zum einen kann Steele nichts gegen Sie machen, wenn der VD Sie unterstützt, wie er es einstweilen zu tun scheint. Zum anderen ist Steele ein ziemlich gefährlicher Mann. Wenn Sie einfach ruhig Ihre Arbeit tun, könnte er sich mit der Zeit an Sie gewöhnen. Aber wenn Sie hingehen und mit ihm reden, könnten Sie Krach bekommen. Und dann ist da noch etwas.« Cosser machte eine Pause, rieb nachdenklich seine Nase und fuhr fort: »Unter uns gesagt, ich glaube nicht, dass es in dieser Abteilung noch lange so weitergehen kann wie bisher.«
Mark hatte in Bracton bereits genug Erfahrungen gesammelt, um zu verstehen, was damit gemeint war. Cosser hoffte, Steele ganz aus der Abteilung verdrängen zu können. Mark glaubte, die ganze Situation zu durchschauen. Steele war gefährlich, solange er auf seinem Posten saß, aber das konnte sich bald ändern.
»Gestern hatte ich den Eindruck«, sagte Mark, »dass Sie und Steele ziemlich gut miteinander auskommen.«
»Hier kommt es darauf an, nie mit jemandem zu streiten«, sagte Cosser. »Auch ich selbst hasse Streitigkeiten und kann mit jedem zurechtkommen – solange die Arbeit getan wird.«
»Natürlich«, sagte Mark. »Übrigens, wenn wir morgen nach Cure Hardy fahren, könnte ich die Nacht zu Hause in Edgestow verbringen.«