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Niemand hatte eine erschöpfende Erklärung für den Unfall. Nun, ein Dutzend Zeugen sehen ein Dutzend unterschiedlicher Dinge. Einige sagten aus, der Wagen habe sich verhalten, als sei ein Reifen geplatzt – ausgeschlossen, das zu rekonstruieren in Anbetracht des Zustandes, in dem sich der Wagen befand. Aber sie alle stimmten darin überein, dass er mit mindestens siebzig Meilen über den Mittelstreifen geschossen war. Erstaunlich, wie er in der daraus resultierenden Karambolage nur zwei Leute hatte mich sich reißen können, das Mädchen eingeschlossen.
Was das betraf, war Jean besonders verbittert. Die unschuldigen Toten trugen hauptsächlich dazu bei, dass die Erinnerung an ihn flüchtiger wurde als die buchstäbliche Asche, zu der er bereits geworden war.
Hör mal, hatte ich zu ihr gesagt, du darfst an solche Dinge keinen Gedanken verschwenden. Ein Unfall ist ein Unfall. So etwas passiert jeden Tag.
DER RAUCH
Nachdem Mickey sich verabschiedet hatte, ging ich hinüber ins Büro.
Jean lehnte sich hinter ihrem Schreibtisch im Stuhl zurück. Einige der Bücher lagen offen vor ihr. Sohos graues Tageslicht unterstrich ihre Nachdenklichkeit. Mein Eintreten trug nicht dazu bei, sie in ihrem Vertieftsein zu stören.
Ich setzte mich ans Fenster.
»Du hast deinen Kaffee noch nicht getrunken«, sagte ich.
Sie schüttelte den Kopf.
»Möchtest du, dass ich Gerry rufe?«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
»Der Postversand«, sagte sie.
»Was ist damit?«
»Nun, zur Zeit sind es vierundachtzig Agenten.«
Das war korrekt: Überall im Land gab es diese Büros, aktuell vierundachtzig, betrieben von jeweils einem Agenten mit Telefon und Schreibmaschine und einer Adressiermaschine und darüber hinaus mit nichts als braunen Umschlägen, von Wand zu Wand. Und natürlich die Ware – Pornos. Diese Seite des Geschäfts machte ihres speziellen Charakters wegen häufige Bürowechsel notwendig, trotz der Summen, die wir den Gesetzeshütern zahlten; doch ansonsten waren die Kosten äußerst gering. Sie würden nicht glauben, wie viel dieser Geschäftszweig abwirft. Über eine Million zweihunderttausend Pfund pro Jahr. Ich sagte ja, Sie würden mir nicht glauben. Niemand tut das, nicht einmal die Agenten, die keine Vorstellung davon haben, wie viele andere Agenten es noch gibt. Anders die Polizei natürlich, die mit ihren zehn Prozent in gewisser Weise einen zusätzlichen Agenten darstellt. Die wissen es. Darum verlangen sie so viel. Wenn Sie’s noch immer nicht glauben, dann betrachten Sie es einmal so: Jeder Agent hat eine Liste mit rund tausend Kunden. Einmal im Monat gibt es einen neuen Film, manchmal mehr als einen Film – zu unseren konkurrenzfähigen Konditionen von zehn Pfund pro Film. Die Agenten versorgen die Kunden automatisch mit den neuen Filmen. Sie können also Ihre eigene Rechnung aufmachen.
Das war nur eins unserer Geschäfte.
Jean prüfte die Bücher. Es gab Angestellte, die sie führten, aber Jean prüfte sie. Sie war gut darin. Der einzige weitere Geschäftsbereich, der ihr unterstand, betraf die Qualitätskontrolle der Mädchen, und zwar nicht der Mädchen, die man für hundert Pfund pro Einsatz bekam. Sie kümmerte sich um die teuren.
Mit den anderen geschäftlichen Dingen waren Mickey und ich befasst.
Ich zündete mir eine Zigarette an und bestätigte die Anzahl unserer Büros mit einem Kopfnicken.
»Ja«, sagte sie, denn es war keine Frage gewesen.
Ich wartete.
»Und keins davon hat kürzlich dichtgemacht«, sagte sie.
Auch dies keine Frage. Ich wartete weiter.
»In dem Fall ergeben diese Zahlen für mich wenig Sinn«, sagte sie. »Natürlich stimmen sie rein rechnerisch. Aber verglichen mit den Zahlen der letzten drei Monate stimmen sie nicht.«
»McDermott hat mir gesagt, dass er in der Region rund um Coventry etwas jonglieren musste. Wir mussten ein paar neue Adressen beschaffen.«
»Von solchen Dingen spreche ich nicht. Komm her und sieh dir das an.«
Ich erhob mich, stellte mich neben sie und beugte mich über den Schreibtisch.
Jean schob zwei Bücher nebeneinander. Ich sah mir eine Zahlenkolonne an, dann die andere. Dann sah ich mir beide noch einmal an.
Ich sagte nichts.
»Du verstehst, was ich meine«, sagte sie.
DIE SEE
Ich klettere auf den Panzer und setze mich auf den Geschützturm, der durch den Einschlag der Raketen auf ewig mit dem Rest des Metalls verschmolzen ist. Die Ebene ringsum sorgt dafür, dass meine aktuelle Position doppelt so hoch erscheint und die See mehr Tiefe vorgaukelt.
Ich zünde mir eine Zigarette an und ziehe den Flachmann aus der Tasche meines Anoraks, nehme einen großen Schluck und warte, bis er wirkt. Ich nehme noch einen Schluck und stelle die Flasche auf den Rand des Geschützturms. Wie eine metallene Parodie auf Millais’ Die Kindheit von Raleigh ragt das geschwärzte Geschütz aufs Meer hinaus.
Sicherlich, in vielerlei Hinsicht wäre Jean eine ideale Wahl gewesen, hätte ich eine Partnerin gesucht, die sich ums Geschäft kümmert, und nicht allein eine Ehefrau. Da ich keins von beidem gesucht hatte, stellte ihr Geschäftssinn einen zusätzlichen Pluspunkt dar. Doch ich hätte sie niemals für eins von beiden in Betracht ziehen können, solange ich mir im Unklaren darüber war, wie sie auf meine wahre Natur und meine Tätigkeit reagieren würde.
Für lange Zeit hielt ich mich zurück. Für sehr, sehr lange Zeit. Selbst was den normalen Umgang betraf, ging ich nach der Tragödie für sechs Wochen auf Abstand.
Und danach, als die Entwicklung den Verlauf genommen hatte, wie von mir vermutet, war es ein schrittweiser Prozess gewesen – denn bevor der Stein richtig ins Rollen kam, musste ich so viel über sie herausgefunden haben, wie sie über mich erfahren würde.
Doch ich hätte niemals von ihr erwartet, dass sie in die ihr meinerseits nach und nach gewährte Rolle auf die Weise hineinwachse, wie sie es tat. Menschen stellen immer wieder eine Überraschung dar; alles Erdenkliche steckt in ihnen, doch nur sehr wenige wissen um die Möglichkeiten, die sich unterhalb der Oberfläche verbergen, von der sie meinen, dass die sie ausmache, und noch weniger haben den Mut, ihr früheres Selbst abzustreifen wie einen Kokon. Zu einem späteren Zeitpunkt in unserer Ehe sagte sie mir, es habe einen Punkt gegeben, wo sie alles, was ich gelegentlich angedeutet hätte, nicht nur vermutet, sondern begierig erwartet habe. Und als die Schranken schließlich gefallen waren, eröffnete ihr jede neue Perspektive beim Blick in meine Welt neue Einsichten auch in das eigene Selbst, zeitigte Reaktionen, die sich Horizonten zuwandten, sie berührten, die niemals auch nur Gegenstand von Erwägungen gewesen waren. Sie hatte etwas von einer schweren Alkoholikerin mit einer Dauerkarte für eine Schnapsbrennerei. Nach dem Tod ihres Mannes wurde sie buchstäblich eine andere Frau.
DER RAUCH
»Es sieht nach einem Fall von Vermessenheit aus«, sagte Jean.
Ich stand am Fenster und zündete mir die nächste Zigarette an.
»Ich werde weit zurückgehen müssen«, sagte sie mit einem Blick auf die Bücher. »Das hat nicht erst gestern angefangen.«
Ich erwiderte nichts. Wenn es etwas gab, was ich hasste, dann das. Man zahlte ihnen mehr, als sie jemals hätten erwarten können, und doch war es nicht genug.
»Wie lange wird es dauern?«
»Keine Ahnung«, sagte sie.
»Es hat keinen Sinn, schon jetzt mit Mickey zu sprechen.«
»Nein.«
Durchs Fenster beobachtete ich ein Flugzeug, wie es träge über den Himmel zog.
»Wie auch immer«, sagte ich, »ich schaue mal im Steering Wheel vorbei.«
»Hältst du das für eine gute Idee?«
»Ich halte das für eine sehr gute Idee.«
Ich verließ das Büro, goss mir einen Drink ein, nahm ihn mit in mein Ankleidezimmer und machte mich daran, in einen der Anzüge zu steigen, die kürzlich aus Rom eingetroffen waren. Ich war gerade dabei, als Jean hereinkam und ich in den verspiegelten Wänden des Raumes aus achtundvierzig verschiedenen Blickwinkeln verfolgen konnte, wie sie Hose und Pullover auszog. Dann beobachtete ich, wie sie losging, auf mich zusteuerte und sich an mich schmiegte und ihre Arme um meine Taille schlang und ihre Fingernägel in meinem Bauch vergrub. Als sie zu sprechen begann, war es nicht mehr der geschäftsmäßige Ton, den sie im Büro an den Tag gelegt hatte.
»Was ist mit Arthur passiert?«, fragte sie.
Ich drehte mich zu ihr, um sie anzusehen. Jetzt glitten ihre Hände hinauf zu meinen Schulterblättern, und wieder gruben sich die Nägel ein, während ihre Hände langsam an meinem Rückgrat entlang nach unten fuhren.
»Mickey hat sich um ihn gekümmert.«
Die Nägel gruben sich tiefer ein und sie presste sich noch fester an mich. Ihre Augen glühten, wurden jedoch sogleich von den sich senkenden Lidern verhüllt – wie die Augen eines Habichts. Ich wusste, was sie mir sagen, was sie ausdrücken wollte, aber es in Worte zu fassen, hätte ihre Gefühle bloßgelegt. Ich kannte das Gefühl gut. Es ist, als hätte man den Finger am Abzug, atmete ein um abzudrücken und hielte dabei den Atem an, als wollte man sie festhalten, die Sekunde vor dem Abdrücken, vor dem letzten Akt der Anstrengung. Jedenfalls wusste ich genau, was sie fühlte. Ihr Körper vermittelte es mir und mein Körper entschlüsselte die Signale mit Leichtigkeit, denn er reagierte exakt auf die gleiche Weise. Das Steering Wheel konnte warten.
DIE SEE
Ich werfe meine Zigarette in die Luke des Geschützturms und nehme noch einen Schluck aus dem Flachmann. Ich schaue auf meine Uhr. Es ist Viertel nach acht. Bin ich erst einmal zum Bungalow zurückgegangen und mit dem Marina nach Mablethorpe gefahren, wird das in der Stadt geöffnet haben, was außerhalb der Saison geöffnet hat. Ich nehme einen letzten Schluck aus dem Flachmann, stecke ihn zurück in meine Tasche, springe vom Panzer und eröffne eine neue Linie von Fußabdrücken im Sand, die den anderen Gesellschaft leistet.
Im Gehen zünde ich mir eine weitere Zigarette an und ich sehe Mickey Brice’ Bild vor mir, nicht so, wie ich ihn in der Sekunde vor seinem Tod vor mir hatte, sondern so wie in Ling House, Courtenays Anwesen ein paar Meilen außerhalb von Newmarket. Es waren nicht allein die Pferderennen, weswegen wir dorthin fuhren.
Solange jemand wie ich erfolgreich ist und umsichtig genug, um als respektabel durchzugehen wie ein Filmstar oder Sänger oder Fußballer, wird es immer Menschen wie Courtenay geben. Ihm gefiel der Umgang mit Leuten, die sich auf dem Höhepunkt ihrer jeweiligen beruflichen Laufbahn befanden. Selbst ohne Beruf, nur im Besitz eines Titels und einiger tausend Morgen Land, mit Häusern innerhalb und außerhalb Londons und einem Vermögen, bei dessen Verschwendung er Unterstützung benötigte, schätzte Courtenay Zusammenkünfte in seinen verschiedenen Domizilen, Zusammenkünfte von Leuten, die für ihre glitzernden Prämien arbeiten mussten. Natürlich wählte er seine Gäste mit Bedacht. Selbst mit all seinem Geld meinte er, Indiskretion könne zu Kosten führen, die weit über rein Finanzielles hinausgingen.
Bei alledem genossen die Vergnügungen, die Courtenay für seine Gäste bereithielt, insgeheim ein Renommee unter den Auserwählten. Zu einem Courtenay-Wochenende eingeladen zu werden war eine Ehre und zugleich eine Herausforderung für die Sexualität der Menschen hinter der offiziellen Persönlichkeit.
Was mich betraf, ich nahm nicht oft daran teil. Das wäre einer Lieferung Sand in die Wüste gleichgekommen. Aber Mickey war so etwas wie ein Stammgast. Er und Courtenay konnten extrem gut miteinander, so, wie sie gestrickt waren. Mich interessierte das nicht; was immer Mickey in seiner Freizeit trieb, ging nur ihn etwas an.
Als ich die Einladung für ebenjenes Wochenende erhielt, sagte ich zu. Ich kannte Jean etwas länger als ein Jahr. Es schien mir ein geeigneter Anlass zu sein, aufzuzeigen, dass das, dem sich Menschen im Privaten hingaben, nichts Einzigartiges war und häufig in den besten Kreisen öffentlich vorexerziert wurde. Und da Mickey ebenfalls hinging, würden seine Anwesenheit und Mitwirkung ihr den Schritt in eine andere Welt möglicherweise erleichtern.
An besagtem Wochenende hatte Courtenay eine große quadratische Kokosmatte auf den Boden des Raumes gelegt, den er lächelnd als sein Spielzimmer bezeichnete. Seidenkissen, groß genug, um gleichzeitig drei oder vier Personen Platz zu bieten, waren rings um die Matte gruppiert worden, boten so ein weiteres, wesentlich komfortableres Viereck. Gegen elf Uhr nachts vereinten sich alle auf den Kissen zu einem Publikum. Courtenays Personal sorgte für beständigen Nachschub an den bevorzugten Getränken oder versorgte mit dem, was man sonst so nahm. Von der offiziellen Gästeliste war allein Mickey dem auf den Kissen lagernden Publikum ferngeblieben, wenn auch nur vorläufig. Das Licht war bereits gedimmt. Als das Hauptereignis begann, verlosch es ganz und nur ein auf die Mitte gerichteter Spot besorgte die Beleuchtung.
Dann erschien Mickey, in Begleitung eines zweiten gut gebauten Mannes und eines sehr schönen dreiundzwanzigjährigen Mädchens. Ich kann deshalb so präzise sein, weil es eines meiner Mädchen war. Alle drei waren nahezu nackt. Der zweite Mann trug kurze, dünne Nylonstricke in der Hand. Als er auf die Matte trat, ließ er sie auf eine Ecke fallen.
Die Idee hinter dem Ganzen – Mickey sollte gegen die beiden anderen in einer Art Ringkampf antreten, und obwohl mit allem Drum und Dran, keiner von der Sorte, die an Samstagnachmittagen gesendet wird. So kam der Niederlage in dieser kleinen Farce eine andere Bedeutung zu. Sollte Mickey als der Überlegene hervorgehen, so diktierte er die Art der Unterwerfung, der sich die beiden anderen zu unterziehen hätten. Zuvor jedoch musste es ihm gelingen, die zwei zu fesseln, um fortfahren zu können; und vice versa, sollte Mickey der Unterlegene sein. Für viele im Publikum war natürlich die Reise genauso aufregend wie die Ankunft. Ganz gewiss galt das für Jean. Neben ihr auf dem Kissen, spürte ich die von ihrem Körper ausgehende Hitze, erzeugt vom Wettkampf des Trios, das auf der Matte miteinander rang, der zwei, die den einen zu überwältigen suchten und umgekehrt, und alle drei dabei sehr überzeugend in ihrer Darstellung, bis Mickey entschied, dass er derjenige sein werde, der sich unterwerfen würde; er musste es nicht, sofern er es nicht wollte. Die Stricke, die seine Hände hinter seinem Rücken fixieren sollten, waren schließlich verknotet und die beiden anderen begannen damit, ihn zu bearbeiten.
Dann, nachdem es vorbei war, wurde Mickey erlöst, und das Trio stärkte sich mit Champagner für den nächsten Wettkampf. Hierfür würde man jemanden von den weiblichen Gästen um Teilnahme bitten, diesmal gemeinsam mit Mickey gegen den anderen Mann. Da ich das alles bereits zuvor gesehen hatte, war mir bekannt, worin die Handlung münden werde: Dieses Mal würde Mickey gewinnen, und wer auch immer die Frau sein sollte, sie würde Mickey helfen, mit dem anderen Mann das zu machen, was der zuvor mit Mickey gemacht hatte, und anschließend, völlig unerwartet, würde das Mädchen die Szene betreten, das vordem den jetzt unterlegenen Konkurrenten unterstützt hatte, und die Teilnehmerin aus dem Publikum mit einer Zielstrebigkeit attackieren, die nur zu einem aussichtslosen Bemühen vonseiten dieser Teilnehmerin führen konnte, die stets die Besiegte war. An diesem Akt der Vorstellung beteiligte sich weder Mickey noch der andere Mann.
Das war zugleich der Teil, den Courtenay am meisten genoss und der das Publikum am heftigsten stimulierte. Der geäußerte Wunsch nach einer Teilnehmerin aus dem Publikum war genau das: ein Wunsch. Eine Einladung. Wer würde den Mumm haben, dabei mitzuwirken? Wer würde sich vor einem namhaften Publikum dieser Form der Sexualität unterwerfen? Käme sie selbst aus dem Kreis der Namhaften? Und wer würde die unerwartete, völlige Erniedrigung im letzten Akt der dargebotenen Unterhaltung durchstehen und dann für den Rest des Wochenendes wieder die gewohnt kühl-gelassene Attitüde an den Tag legen? Auch das machte die Gäste richtig an. Ich erinnere mich, bei dieser Gelegenheit Courtenay mit einem Blick eingefangen zu haben: Courtenay, voller Erwartung wie Messalina, eine Dame aus der Geschichte, der er nicht nur hinsichtlich seiner sexuellen Vorlieben glich.
Ich erinnere mich auch, an diesem ganz bestimmten Punkt Jeans Gefühle empfangen zu haben. Es war der weibliche Teil des Trios, der, wie die Assistentin eines Zauberkünstlers, beim Publikum um eine Teilnehmerin mit anderem Status warb. Möglich, dass jede Frau im Publikum das Gleiche empfand, aber Jean drückte die kollektiven gemischten Gefühle aus, indem sie überhaupt nichts tat, völlig ruhig blieb, kaum atmete. Und als sich schließlich ein Mädchen von den Kissen erhob, gab es kein großes Ausatmen, weder von Jean noch von den anderen Frauen im Publikum, kein Ausdruck von Erleichterung. Es schien – nun, da die Möglichkeit sich zu entscheiden verstrichen war –, als wären ihre Gefühle eine Mischung aus Erwartung und Bedauern.
Später, in unserem Bett, drückte Jean es in etwa so aus: Was sie am stärksten beeindruckt habe, sei die Erkenntnis gewesen, dass ihr viele Leute dort bekannt gewesen seien.
»Was, wären die Teilnehmer unbekannt gewesen und hätte es kein Publikum gegeben?«, fragte ich sie.
Sie beantwortete meine Frage nicht mit Worten.
DER RAUCH
Als ich ins Steering Wheel kam, traf ich nur auf Johnny Shepherdson. Die restlichen vier trieben sich andernorts herum. Natürlich begegnete man mir seitens der Geschäftsführung mit äußerster Zuvorkommenheit, so, wie es den Shepherdsons in einem meiner Läden widerfahren wäre. Das Einzige, was sie nicht taten, bevor ich mich in den eigentlichen Klubbereich bewegte, war das Bügeln meiner Hosen.
Johnny saß, wo sie immer saßen, in der mit dunkelroten Lederpolstern ausgestatteten Nische, sein künstliches Bein unter dem Tisch starr von sich gestreckt. Niemand sonst war im Laden. Vor ihm auf dem Tisch stand ein Krug Bucks Fizz. Er goss sich etwas davon in ein hohes Glas, als ich mich der Nische näherte. Er war der Jüngste der fünf, um etliche Jahre jünger als die anderen. Ich schätzte ihn auf sieben- oder achtundzwanzig. Wäre er nicht Familie gewesen, sie hätten ihn bereits vor Jahren einbetoniert. Für meine Begriffe trank er zu viel.
Die Bedienung war mit dem zweiten Glas an der Nische in dem Moment, als auch ich dort angelangt war.
»George«, sagte Johnny, als ich mich setzte. Die Bedienung füllte das zweite Glas für mich und zog sich zurück.
Ich nahm einen Schluck Bucks Fizz.
»Cheers«, sagte ich.
Ich sah mich im Klub um. Die Putzkolonne war soeben fertig geworden. Von oben hörte ich das gedämpfte Geräusch eines Staubsaugers.
Der Laden hatte Stil. Für mich immer wieder erstaunlich, wenn man die Shepherdsons kannte.
»Wohl mit den Hühnern aufgestanden«, sagte Johnny.
»Ja«, meinte ich. »Mein Tagespensum ist bereits geschafft.«
»Sauber.«
Ich zündete mir eine Zigarette an.
»Sind deine Brüder da?«
»Nein«, erwiderte er.
Ich sagte nichts.
»Was bedeutet, dass sie weg sind, oder?«, sagte er.
Ich nickte.
Dann packte ich ihn mit der rechten Hand vorn am Hemd und zog so kräftig, dass sein Kopf seitlich auf die Tischplatte knallte. Ich zielte mit der geballten Faust auf die andere Seite seines Kopfes wie jemand, der einen Brief abstempeln will. Im Verlaufe dessen stieß Johnnys Kopf den Krug mit Bucks Fizz um. Nachdem ich Johnny ein weiteres Mal getroffen hatte, riss ich ihn hoch und drückte ihn nach hinten in die roten Lederpolster. Ich sah ihn eine ganze Weile an, bis er überzeugt davon war, dass ein Gegenschlag keine gute Sache wäre. Dann ließ ich von ihm ab.
Zwei drittklassige Schwergewichte setzten an, in unsere Richtung zu stürmen, doch Johnny warf ihnen einen Blick zu, der sie zur Umkehr bewog. Eigentlich hätten sie sich gar nicht erst in Bewegung zu setzen brauchen.
»Nun«, erklärte ich ihm, »da deine Brüder weg sind und nicht hier, möchte ich, dass du ihnen Folgendes ausrichtest: Wie selbst sie schon vermutet haben dürften, weilen Arthur Philips, Wally Carpenter und Michael Butcher nicht mehr unter uns. Sag deinen Brüdern nur, dass sie, und das betrifft auch dich, allein deshalb zwischen den mehr oder weniger Lebenden umherwandern können, weil ich derzeit nicht die Absicht habe, Neunzehnhundertdreiundsiebzig wiederzubeleben. Was natürlich nicht heißen soll, dass ich nicht gewinnen würde. Aber wenn alles von vorn beginnt, könnte Farlow ohne jeden Zweifel mit hineingezogen und sogar zu Fall gebracht werden und er würde nicht lange überlegen, was er zu erzählen hätte, nicht wahr? Und dann würde niemand gewinnen, oder? Würde jemand gewinnen, Johnny? Hä?«
Johnny sagte nichts.
»Nein«, sagte ich zu ihm.
Ich nahm einen Schluck aus meinem Glas. Bucks Fizz tropfte aus dem Krug und auf den Teppich.
»Weißt du, was ich an dir und deinen großen Brüdern wirklich hasse?«, fragte ich.
Er reagierte nicht.
»Ihr seid vulgär«, sagte ich zu ihm. »Ihr seid alle so verdammt vulgär. Das ist es, was ich am meisten an euch hasse.«
Ich leerte mein Glas und stand auf.
Dann packte ich den Henkel des tropfenden Kruges und stellte den Krug verkehrt herum auf den Tisch.
»Für einen Jungen deines Alters«, sagte ich zu Johnny, »trinkst du viel zu viel von diesem Zeug.«
Dann ließ ich ihn allein und ging über den dicken Teppich hinaus aus dem Klub.
DIE SEE
Mablethorpe ist eine Straße, die zu einer Promenade führt und zu einem Vergnügungspark. Der Ort wird durch einen Gasometer charakterisiert und in der Saison noch dazu durch ein Riesenrad. Hat man die Ortsgrenze passiert und fährt auf dieser Straße, kann man am Ende dieser flachen, geraden Strecke die Promenade und das Riesenrad sehen. Der Gasometer befindet sich rechts der Straße, fährt man in den Ort hinein. Das größte Gebäude hier ist ein neuer Supermarkt, errichtet, um im Sommer bei den sich selbst versorgenden Campern abzusahnen. Das ist Mablethorpe. Die Leute verbringen hier ihren Urlaub.
Doch im Augenblick gleicht es eher einer Goldgräberstadt nach Ausbeutung der Goldader. Es gibt ein halbes Dutzend Pubs. Vier davon öffnen ihre Tore nicht im Winter. Sämtliche Souvenirläden, die Spielhallen, die Fischbuden und Bingohallen sind zurzeit geschlossen. Könnte man sich hier einen Pier leisten, wäre der ebenfalls außer Betrieb. Anstelle eines Piers haben sie ein riesiges Abwasserrohr, das gut sichtbar zur See hinausragt, darum bemüht, sich hinter einem der Wellenbrecher zu verstecken. Ob es im Winter ebenfalls außer Betrieb ist, weiß ich nicht.
Oh nein, das war eine Lüge. Eine der Spielhallen gewährt Einlass, die an der Ecke, wo die Straße auf die Promenade trifft. Sie ist am Freitagabend geöffnet und den gesamten Samstag hindurch, wenn wie durch Zauberhand eine Handvoll Leute erscheint und umherstreift, ohne Geld auszugeben.
Als ich mit dem Wagen zum Ende der Straße fahre, tauchen in keiner der beiden Richtungen andere Wagen auf. Ein paar wenige parken auf beiden Seiten der Straße, aber nichts bewegt sich.
Ich werde meinen Wagen auf der Promenade abstellen. Für eine Promenade – das, so denke ich, kann man schon sagen – ist sie nicht schlecht. Einziges Problem nur, man kann von dieser Promenade aus nicht das Meer sehen. Man war gezwungen gewesen, diesen hohen, einem Hügel nicht unähnlichen Deich zu errichten, der sich als Barriere gegen die Flut eine Meile parallel zur Promenade erstreckt. Er wurde nach den East Coast Floods im Jahre neunzehnhundertdreiundfünfzig hochgezogen. Man hat versucht, ihn ansprechend zu gestalten – ein paar Teile Beton hier und da –, aber es bleibt eine Art maritimer Hadrianswall, höher als die der See zugewandten Gebäude, der die vergnügten Urlauber daran hindert, den Strand zu erreichen oder einfach mal so auf die See zu blicken.
Doch es gibt zumindest eine Lücke und die findet sich direkt gegenüber dem Ende der Straße. An diese Lücke grenzen auf der einen Seite die Toiletten an, auf der anderen schließt sich der Vergnügungspark an, sowohl das eine als auch das andere geschlossen. Ich denke, das sollten Sie wissen. Der Durchgang selbst ist ein zehn Meter breiter Betonstreifen, eine Rampe, die sich in Richtung See als bescheidene Nachahmung des schützenden Deiches erhebt, sodass man nicht einmal durch diese Lücke die See ausmachen kann, sofern man nicht zur Spitze der Rampe pilgert, an deren Ende, parallel zum Wasser, ein halbes Dutzend Poller aufgereiht stehen, die sich, von der Promenade aus betrachtet, vom unendlichen Himmel schwarz abheben. An der Spitze der Rampe gewinnt man den Eindruck, die See liege höher als der Punkt, von dem man sich soeben nach oben bewegt hat.