"Wenn Du absolut nach Amerika willst, so gehe in Gottesnamen!"

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Unerklärlich sind die zahlreichen Transkriptionsfehler von deutlich lesbaren Wörtern, da Leemann als ehemaliger Lehrer Ende 19. Jahrhundert zweifellos sowohl die lateinische als auch die deutsche Schrift beherrschte. Er transkribiert «Coyote» als «Cagota», «Florida Indianer» als «Florian Indianer», «Missions Reben» als «Missoury-Reben» etc., und aus «schreckte der Esel gewaltig» wird «schnarchte der Esel gewaltig». Nicht um Lesefehler kann es sich handeln, wenn beispielsweise aus «French Brandy» «French oder Brandy» wird oder aus einer einstelligen eine zweistellige Zahl. So steht im Buch kurz nacheinander zweimal «60» statt «6», womit gesagt wird, Lienhard beziffere seine Unterhaltskosten im Fort auf 60 (statt 6) Dollar pro Tag.
Neben den sprachlichen Veränderungen ging durch das viele Kürzen und Weglassen von Text auch oft der inhaltliche Zusammenhang verloren, und es kam zu sinnstörenden Verwechslungen. Ein bekanntes Beispiel, das gelegentlich noch heute zitiert wird, ist die Stelle im Buch, wo (gemäss Leemann) Heinrich Lienhard von sich behauptet, er habe August Sutter für dessen neu gegründete Stadt den Namen «Sacramento City» (die heutige Hauptstadt Kaliforniens) empfohlen. Der Vergleich mit dem Manuskript zeigt, dass die Stelle dort gekürzt und abgeändert ist, wobei Ortsnamen verwechselt wurden. Leemann lässt der irrtümlichen Stelle auch noch eine dieser Bemerkungen folgen, wie sie bei Lienhard nirgends zu finden sind: «Dafür kann ich mir allerdings […] sagen, dass Sakramento City ihren Namen meiner Wenigkeit verdankt.»
Heinrich Lienhard war sechsundsiebzig Jahre alt, als Leemanns Buch erschien. Es war zweifellos eine schwierige Zeit für ihn, seinen mit grosser Sorgfalt verfassten Text in dieser Weise entstellt vor sich zu sehen und durchzulesen. In seinem persönlichen Exemplar4 finden sich in zittriger Altersschrift viele kleine Korrekturen in der Form von Streichungen und Randbemerkungen wie «Irrthümlich», «Mistake», «Nicht wahr», «nicht richtig erzählt» etc. Er korrigierte auch Namen von Freunden und notierte kurze Erklärungen von der Art «Eine Slough ist kein Jungle» oder «In California gab es keine Buffalos mehr». Auf Seite 11 schrieb er: «Mein Freund Leemann hat zimmlich viele Ihrrthümer gemacht, den schlimsten, dass er schrieb, ich habe mich im Intressen für die Mexikanische Regierung gegen die Vereinigten Staaten anwerben lassen, es ist gerade das Gegentheil davon der Fall.» Sein Fazit auf der letzten Seite drückt Enttäuschung und Resignation aus: «Ich habe die voran gedruckten Zeilen zimmlich durchgelesen und finde leider zimmlich Vieles, was nicht ganz mit dem Manuskript recht übereinstimmt, welches ich bedaure.»
Leemanns Edition erfuhr in den USA mehrere (Teil-)Übersetzungen. Im Jahre 1933 befasste sich Reuben L. Spaeth in seiner Master-Arbeit anhand von «Californien …» mit Heinrich Lienhard.5 Spaeths Arbeit umfasst einen 25-seitigen Kommentar sowie die vollständige englische Übersetzung des Buches, die jedoch unveröffentlicht blieb. 1939 erschien eine kleine Publikation unter dem Titel «I Knew Sutter», eine Arbeit von Germanistik-Studierenden, die einen kurzen Ausschnitt aus «Californien …» übersetzt hatten.6 Ein Jahr später widmete Jean Paul von Grueningen in «The Swiss in the United States» Heinrich Lienhard einen Beitrag unter dem Titel «An Early Migration to New Helvetia».7 Von Grueningen führte darin Leemanns 25 Kapitelüberschriften auf und verfasste einen biografischen Kommentar mit übersetzten Zitaten aus «Californien …», der zum Teil demjenigen von Reuben Spaeths Master-Arbeit entspricht.
A Pioneer at Sutter’s Fort, 1846–1850
Marguerite E. Wilbur stand 1930 kurz vor der Herausgabe ihrer Übersetzung von Leemanns Buch, als sie auf der Suche nach biografischem Material erfuhr, dass sich Lienhards Manuskript in Familienbesitz in den USA befinde. Lienhards Sohn Adam H. Lienhard stellte es ihr daraufhin zur Verfügung, und 1841 erschien ihr Buch «A Pioneer at Sutter’s Fort». Es umfasst Lienhards Aufenthalt in Kalifornien von 1846 bis 1850, ohne die Reise in die Schweiz 1849/50. Obwohl Wilburs Bemerkung auf der Titelseite «From the original German Manuscript» hinsichtlich Textbearbeitung und Übersetzung einige Fragen offenlässt, gilt das Buch bis heute als originalgetreue Wiedergabe von Lienhards Text. Dies ist jedoch nur in beschränktem Mass der Fall.
Wilbur sah sich angesichts von über hundert Manuskriptbogen wie Leemann gezwungen, massive Kürzungen vorzunehmen. Von ihren Auslassungen merkt sie rund 80 an, nennt deren ungefähren Umfang (von einigen Zeilen bis zu 13 Bogen) und gibt kurze Begründungen von der Art: «Unwichtige Details auf den Bogen 122 und 123 über Abecks früheres Leben und seine eigene Krankheit wurden ausgelassen»; «Einige irrelevante Details über Dürrs Aufenthalt in Fort Laramie auf Bogen 149 und 150 wurden ausgelassen»; «Auslassung auf Bogen 157 über die Schwierigkeiten, Gold zu verstecken»; «Bogen 131, 132 und 133 wurden weitgehend ausgelassen. Diese beschreiben das Niederbrennen von Lienhards Hütte [es war die Hütte der Indianer], seine Unterstützung des deutschen Deserteurs, Schwierigkeiten mit seinen indianischen Arbeiterjungen (‹servants›), Dieberei der Indianer, Spiele der Indianer und Beschreibungen der in dieser Umgebung lebenden Tiere».
Der aus dem Manuskript übernommene Text folgt dort dem Original, wo er Wilburs Editionsziel entspricht. Die Übersetzung ist sehr frei und verkürzt den Originaltext im Verlauf des Übersetzens nach Möglichkeit weiter. Dazu gehört unter anderem, dass Sätze, in denen Lienhard sich Gedanken zu einem erzählten Ereignis macht oder seine Meinung darlegt, weggelassen sind. Wilburs eigene Ergänzungen, mit denen sie fehlenden Text überbrückt, sind oft ungenau. Auch bei ihr geht durch die Auslassungen gelegentlich die Übersicht verloren, und die Folgen sind wie bei Leemann Verwechslungen verschiedenster Art. Unzutreffend übersetzte Wörter lassen auf Transkriptionsprobleme schliessen. So wird zum Beispiel Lienhards «Zoffingen» [Zofingen] zu «Zollfinger», und wo er gut lesbar «Sturzenecker» schreibt, korrigiert Wilbur dies aufgrund einer amerikanischen Quelle richtig zu «Sturzenegger», merkt dann aber an: «Lienhard nennt ihn ‹Hurzenwecker›.»
«A Pioneer at Sutter’s Fort» reflektiert den fatalen Umstand, dass Wilburs Editionsziel nicht mit Lienhards Schreibintention übereinstimmte, ja dieser geradezu entgegengesetzt war. Sie erläutert ihre Prioritäten in der Einleitung wie folgt: «Viele Abschnitte erwiesen sich von geringem historischem Wert und wurden in der folgenden Übersetzung weggelassen. […] Langatmige Beschreibungen von Tieren, von Landschaften, von Flora und Fauna, Lienhards persönliche Stimmungen und Gefühle sowie unbedeutende alltägliche Ereignisse, die nichts zum Hauptthema beitrugen, wurden weggelassen. Alle Erwähnungen von Männern und Ereignissen im Zusammenhang mit der kalifornischen Geschichte wurden vollständig beibehalten.»
Lienhard hatte jedoch weder die Absicht, noch erhob er den Anspruch, über die Geschichte Kaliforniens zu berichten, wenigstens nicht in dem Sinn, wie Wilbur dies vorschwebte. So übergeht sie sämtliche 13 Bogen, auf denen Lienhard über seine indianischen Nachbarn im oberen Sacramento-Tal – Nachkommen und Vertreter jahrtausendealter Kulturen Kaliforniens – berichtet, desgleichen die meisten anderen Textstellen, in denen er von seiner Zusammenarbeit mit den indianischen Kindern und Jugendlichen erzählt, die ihm Sutter als Gehilfen zur Verfügung stellte. Lienhard schrieb persönliche Erinnerungen, und es versteht sich, dass sein «Hauptthema», wenn denn überhaupt eines, er selbst, seine Interessen und Erlebnisse waren. Mit anderen Worten, im Zentrum seines Erzählens stand all das, was Wilbur nicht interessierte: Lienhards Freude an der Natur, die reiche Flora und Fauna Kaliforniens, die Indianer und ihre Lebensweise, seine Schweizer Freunde und Bekannten, denen er in einer Reihe von eindrücklichen Porträts ein Denkmal setzt, sein treuer Hund Tiger, sein Pferd Jonny, das wie er selbst die Freiheit über alles liebte, und schliesslich die vielen kleinen alltäglichen Freuden und Leiden bei seiner Arbeit in und um Sutters Fort. All dies aus einem Erinnerungswerk wegzukürzen, ist paradox. Letzteres gilt auch für die Tatsache, dass Wilbur, nachdem alles Persönliche getilgt war, ausführt, ein «besonderer Reiz» von Lienhards Bericht sei seine «merkwürdige Distanz» als Erzähler, indem er «mehr wie ein neugieriger Zuschauer erscheine als wie ein aktiver Teilnehmer am Tun und Treiben der Zeit».
In einer Besprechung von Wilburs Werk machte Erwin E. Gudde8 klar, dass er wenig von Lienhards Kalifornienbericht hielt.9 Der Horizont des Autors sei zu begrenzt, als dass dieser einen signifikanten Beitrag zur Geschichte leisten könnte. Er interessiere sich nur für sich selbst und für seine Kontakte zu anderen Pionieren. Die von Wilbur erwähnte «Distanz» sei nicht mehr als seine Abscheu vor den Frontier-Lastern Alkohol, Frauen («Indian Squaws») und Spielen. Er zeige keine Anzeichen von Objektivität und Fairness, und Männer, die er nicht gemocht habe, so zum Beispiel Frémont und Sutter, habe er mit unerbittlichem Hass verfolgt. Im Zusammenhang mit dem Tod eines von Lienhard erwähnten Indianermädchens schreibt Gudde, Lienhard unterstelle Sutter Vergewaltigung und Körperverletzung mit Todesfolge («manslaughter»). Wenn Gudde zitiert, über welche Wege Lienhard von den Hintergründen dieses Vorfalls vernommen hatte, um ihn als unglaubwürdig, «empfindsam und schwatzhaft» («sensitive and gossipy») darzustellen, spricht die Textstelle immerhin insoweit für die Verlässlichkeit des Autors, als er nicht einfach behauptet, sondern ausdrücklich und genau die Quelle seiner Information offenlegt.
Lienhard wird mancherorts nicht verziehen, dass er in seinen Erinnerungen durchaus nachvollziehbar beschreibt, wie sein Idealbild von Sutter während der Zeit, als er für ihn arbeitete, langsam Risse bekam. Tatsache ist, dass jedermann, der sich länger im Fort aufhielt, und auch bekannte Personen ausserhalb wie Bidwell, Vallejo und Larkin wussten, dass von den Kindern und Jugendlichen, die Sutter sich aus den Bergen zur Arbeit und Weitervermittlung zwecks Schuldentilgung bringen liess, nicht alle jungen Indianerinnen nur nähen und kochen lernten. Bloss wurde darüber nicht offen gesprochen, geschweige denn von einfachen Leuten wie Lienhard darüber geschrieben. Sutters Einfluss war zu gross, als dass man dies gewagt hätte, zumal es sich «nur» um Indianerinnen handelte.
Die Verlässlichkeit von Lienhards Manuskript, so Gudde, sei sogar dort äusserst zweifelhaft, wo der Autor als Augenzeuge berichte. Als Beispiel erwähnt er die Tage nach der Goldentdeckung und dürfte sich dabei auf die bekannte Textstelle beziehen, wo Lienhard erzählt, wie die wichtige Neuigkeit ins Fort gelangte, als nämlich der Schweizer Witmer, Sutters Wagenmeister, vor den Augen der ungläubigen Anwesenden aus einem schmutzigen Lappen eine ganze Anzahl kleiner Goldkörner hervorkramte. Die im Originaltext detailliert erzählte, fröhliche Szene übersetzte Wilbur in der üblich verkürzenden Form, wobei sie mehrere Personen verwechselte, unter anderem Witmer mit Sutter.10 Die Schilderung ist in der Tat ziemlich «verwirrend», nur wünschte man sich, Gudde hätte wenigstens für dieses eine Beispiel einen kurzen Blick ins Manuskript geworfen. Er kritisiert auch Wilbur für die zahlreichen Auslassungen (über deren Inhalt er sich bei Leemann informierte) und Ergänzungen, ebenso bemängelt er die Irrtümer in den Anmerkungen. Doch obwohl Letztere gravierende Transkriptionsprobleme verraten, kommt er zum Schluss, Wilburs Textbearbeitung erscheine ihm als Ganzes gut ausgeführt.
Guddes Buchbesprechung prägte die Rezeption von Lienhards Manuskript besonders in Kalifornien bleibend, umso mehr, als er selbst an seiner Überzeugung festhielt und gewisse Behauptungen in späteren Werken wiederholte. Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, ob einer derart herabsetzenden Beurteilung eines Autors als Mensch und Erzähler nicht schon damals wenigstens ein kurzer Vergleich mit dem Manuskript hätte vorausgehen sollen. Sowohl Leemann als auch Wilbur verfolgten in ihren Editionen spezifische eigene Interessen, rissen dazu den Originaltext auseinander, veränderten diesen massiv und setzten mit selektiver Themenauswahl Schwerpunkte, die ihn nicht nur entstellten, sondern als persönlichen Erinnerungsbericht seiner Essenz beraubten.
Wilbur veröffentlichte acht Jahre nach «A Pioneer at Sutter’s Fort» eine «romantische Biographie» Sutters unter dem Titel «John Sutter, Rascal and Adventurer».11 Sie schöpfte dafür Lienhards Erinnerungen nochmals aus und betonte deren Bedeutung als Quelle zu Sutter, womit sie allerdings nicht zur Rehabilitierung des Manuskripts beitrug. Der englische Historiker John A. Hawgood beurteilte ihren Roman mit folgenden Worten: «This book, though claiming to be based on source material, manuscripts, and letters, is the worst type of fictionised biography, beginning with Sutter’s thoughts at the age of ten. It is full of errors.»12
West from Fort Bridger
J. Roderic Korns und Dale L. Morgan veröffentlichten 1951 ihre Untersuchung «West from Fort Bridger», die 1994 in Buchform erschien. Ihr Hauptinteresse galt dem Hastings Cutoff, einer angeblichen Abkürzung zum Grossen Salzsee und über die Grosse Salzwüste. Lienhard gehörte zu den Emigranten, die 1846 diese Route als Erste ausprobierten, weshalb Korns/Morgan den betreffenden Manuskript-Abschnitt (Bogen 67/1 bis 73/4) übersetzten und in ihre Auswahl von Texten aus Tagebüchern, Briefen und Karten aufnahmen. «West from Fort Bridger» gilt heute als klassisches Werk über die Erschliessung der westlichen Trails und enthält unter anderem auch Aufzeichnungen von James Clyman, Edwin Bryant, James Frazier Reed sowie einen Beitrag über T. H. Jeffersons Karte.
Roderic Korns und Dale Morgan waren die Ersten, die Lienhards gewissenhafte Genauigkeit als solche erkannten und überaus schätzten. Sie betonen den bedeutenden Beitrag, den er mit seinem Bericht zur Rekonstruktion dieses Trail-Abschnitts geleistet hat, und ihre Übersetzung entspricht, wie zu erwarten, dem Originaltext. Lienhards zuverlässige tägliche Aufzeichnungen, so Korns/Morgan, füllten eine wichtige Lücke in der Chronologie der einzelnen Etappen und zeigten auch, wie die Geschichte der Donner-Gesellschaft anders hätte verlaufen können.13 Sein Text kläre zudem Fragen im Zusammenhang mit Jeffersons Karte und gewähre neuen Einblick in Hastings’ Absicht, als er auf dem Trail die Emigranten abfing, um sie auf die neue Route umzulenken. Korns/Morgan legten ihrem Buch eine neue, detaillierte Karte der Region Salzsee und Salzwüste bei. Sie zeigt eine erstmals von Lienhard und seinen Mitreisenden gewählte, in gerader Linie westlich verlaufende Route vom Bear River im südwestlichen Wyoming bis zu den Needles an der Grenze zum heutigen Utah. Sie nennen die Abkürzung «Lienhard-Mormon Cutoff», da diese im folgenden Jahr auch von den Mormonen gewählt wurde.
Ihre biografischen Angaben entnahmen Korns/Morgan der Einleitung von «A Pioneer at Sutter’s Fort», weshalb sie einige Ungenauigkeiten aufweisen. Die Bemerkung, Lienhard schreibe den Namen «Hoppe» in der Form «Hapy» oder «Hapi», trifft nicht zu und stammt aus Leemanns Buch, wo Lienhard diesen in seinem Exemplar denn auch mehrmals korrigierte. Im Manuskript schrieb er immer «Hopy», wie der Name im Englischen wohl ausgesprochen wurde. Jacob D. Hoppe kam aus Maryland, hatte deutsche Vorfahren und sprach gemäss Lienhard auch noch ganz gut Deutsch. Sie reisten bis im September zusammen auf dem Trail, und Hoppe war zeitweise Captain der Gesellschaft. Die Feststellung von Korns/Morgan, Wilburs Übersetzung werde Lienhards Text über seine Zeit in Kalifornien voll und ganz gerecht, ist unzutreffend.
From St. Louis to Sutter’s Fort, 1846
Die Wertschätzung von Lienhards Manuskript durch Korns/Morgan dürfte 1951
Erwin G. Guddes Neugier für Lienhards Bericht über den California Trail geweckt haben. 1961 erschien sein Buch «From St. Louis to Sutter’s Fort», die Übersetzung des California Trails (Bogen 51/1–83/1). Er folgt dabei Lienhards Text, allerdings mit der Tendenz, dessen Ausführlichkeit etwas einzugrenzen. Die Übersetzung enthält kleine Kürzungen und mehrere ungenau übersetzte Stellen, ebenso einige Verwechslungen. Guddes betont einfach gehaltener Sprachduktus hat einen eher distanziert wirkenden Stil zur Folge, zudem scheint ihm Lienhards trockener Humor entgangen zu sein. Es dürfte deshalb eher am Sprachstil des Übersetzers liegen, wenn dem englischen Text «a certain lack of freshness in the narration»14 zugeschrieben wird, und weniger daran, dass es sich um eine Aufzeichnung aus späterer Zeit handelt, wie dies der Rezensent von Guddes Buch vermutet.
Gudde bezeichnet in seiner Einleitung Lienhards Trail-Abschnitt als «einen der drei klassischen Berichte der grossen Westmigration von 1846». Obwohl nach seinen Worten die Versuchung, auch den Rest des Manuskripts zu übersetzen, gross gewesen sei und Freunde ihm dies auch empfohlen hätten, habe er sich nicht dazu entschliessen können. Um dies zu begründen, greift er auf seine Buchbesprechung von 1942 zurück und wiederholt seine dortige Kritik an Lienhard zum Teil wörtlich. Die Reise nach Kalifornien, meint er, sei bei weitem der interessanteste und wertvollste Teil des Manuskripts. Der «über den weiten, offenen Raum des Trails ziehende» Lienhard scheine ein «anderer Mann» zu sein als der Lienhard in Sutters Fort nach der Goldentdeckung.
Es ist bedauerlich, dass sich Gudde nach zwanzig Jahren von neuem auf Wilbur berief und seine Kritik, wiederum ohne Verifizierung, wiederholte. Zwar hatte er bei seiner Übersetzung des Trail-Abschnitts den grossen Unterschied zu «A Pioneer at Sutter’s Fort» erkannt, führte diesen jedoch auf den Autor zurück, der sich in Kalifornien völlig verändert habe. Dabei liess Gudde ausser Acht, dass Lienhard seine Erinnerungen dreissig Jahre später verfasste und es aus dieser zeitlichen Distanz kaum möglich gewesen wäre, in ein und demselben Manuskript zwei qualitativ derart unterschiedliche Texte zu schreiben. Hinzu kommt, dass sich die letzten anderthalb Seiten seines Buches mit den ersten zwei von Wilburs Buch überschneiden und die Texteingriffe, die Letztere von Beginn an vornahm, nicht zu übersehen waren.
New Worlds to Seek
John C. Abbotts Buch «New Worlds to Seek» ist die englische Übersetzung von Lienhards Kindheit und Jugend in der Schweiz, seiner ersten Reise nach Amerika und seines Aufenthalts von 1843–1846 in der Schweizer Siedlung Highland, Illinois (Bogen 1–51/2). Die Zeit in Highland, damals noch unter dem Namen «Neu-Schweizerland» bekannt, schliesst mehrere Abstecher in die benachbarten Staaten und Fahrten auf dem Mississippi ein. Das Buch endet an der Stelle, wo Guddes «From St. Louis to Sutter’s Fort» beginnt.
John Abbott (1921–2005) war während einundzwanzig Jahren Direktor der Lovejoy Library (Southern Illinois University, Edwardsville), wo er später die Leitung der Abteilung «Special Collections» übernahm. Dort widmete er sich vor allem der Erweiterung einer Sammlung von Quellen und Literatur zu Illinois und dem Mississippi-Tal. Daneben beteiligte er sich an mehreren ins Englische übersetzten Editionen von Berichten der Gründer und frühen Siedler Neu-Schweizerlands. Abbott war deshalb ein ausgezeichneter Kenner des geografischen und siedlungsgeschichtlichen Hintergrunds von Lienhards Text über die Jahre in Illinois.
Vertraut im Umgang mit Manuskripten, legte er Wert darauf, den Autor und sein Werk möglichst authentisch zu vermitteln. Er erkannte zu Beginn seiner Arbeit, dass die Transkription, die ihm als Vorlage dienen sollte, über weite Strecken nicht Lienhards Originaltext entsprach. Sein grosses Verdienst ist, dass er sich daraufhin entschloss, die ganze Transkription neu zu bearbeiten. Obwohl seine Deutschkenntnisse begrenzt waren, machte er sich mit der deutschen Schreibschrift vertraut und zog zur Übersetzung eine zweisprachige Mitarbeiterin bei.
Zwei Anmerkungen sollen hier kurz erwähnt werden. Der Name von Lienhards Aargauer Reisekamerad Heinrich Thomann wurde zwar brieflich kommuniziert, dessen Schreibweise in der Anmerkung aber versehentlich als «Thomman» angegeben.15 Die zweite Anmerkung betrifft ein Leseversehen. Lienhard schreibt: «Warte, Kerl, dich werde ich in das Staatskosthaus nach Alton schicken!» Die Übersetzung lautet: «Just you wait fellow, I’ll send you to the government courthouse at Alton!» Lienhard meinte mit «Staatskosthaus» natürlich Gefängnis (penitentiary), was irrtümlich mit «government courthouse» (staatliches Gerichtsgebäude) übersetzt wird. In einer Anmerkung erklärt Abbott dazu: «The Madison County Courthouse was in Edwardsville; Alton was the site of the State Penitentiary.» Lienhard wusste dies offensichtlich und formulierte es dementsprechend korrekt.16
Abbott ist mit «New Worlds to Seek» ein schönes Buch zu verdanken, das Lienhard und seinen Text auf überzeugende Art präsentiert. Es biete, schreibt Lienhards Urenkel John Henry im Vorwort, auch späteren Generationen seiner Familie die willkommene Möglichkeit, nicht nur über die frühe Zeit am Mississippi mehr zu erfahren, sondern auch über die von Fernweh geprägten Jugendjahre seines Urgrossvaters, der in Amerika ein freies, selbstbestimmtes Leben suchte und vom Zufall begünstigt auf unerwartete Weise fand.
1 Die Landzuweisungen erfolgten in der Regel in spanischen Quadratmeilen, wobei 1 Quadratmeile (spanisch «legua») rund 18 Quadratkilometern entsprach.
2 Die folgenden Ausführungen zur Entwicklung des Trails stützen sich vor allem auf George R. Stewart, The California Trail. An Epic with Many Heroes (1962/1971).
3 John D. Unruh, The Plains Across. The Overland Emigrants and the Trans-Mississippi West, 1840–1860 (1982), 84.
4 Es handelt sich dabei um 25 ungebundene Druckbogen mit Bleistiftnotizen von Lienhards Hand. Das Dokument gelangte 1983 aus Familienbesitz an die Bancroft Library in Berkeley, Kalifornien.
5 Reuben Louis Spaeth, Heinrich Lienhard in California, 1846–1850. Master’s Thesis, University of California, Berkeley 1933. Ein Exemplar dieser Arbeit ist in der Bancroft Library vorhanden.
6 Heinrich Lienhard, I knew Sutter. Translated from the Original German by Students of German at C. K. McClatchy Senior High School. Sacramento: The Nugget Press, 1939.
7 John Paul Von Grueningen (Hrsg.), The Swiss in the United States. Madison, Wisconsin: Swiss-American Historical Society 1940; Reprint: San Francisco: R and E Research Associates, 1970.
8 Erwin E. Gudde (1889–1969) war gebürtiger Deutscher, emigrierte als junger Mann in die USA und lehrte von 1923 bis 1956 Germanistik an der University of California in Berkeley.
9 Erwin G. Gudde, Review of Books, in: The Pacific Historical Review, XI, 2 (June 1942), 233.
10 Wilbur, Pioneer at Sutter’s Fort, 116–117; Manuskript 127/3–128/1.
11 Wilbur, Marguerite Eyer. John Sutter, Rascal and Adventurer (A New Romantic Biography). New York: Liveright Publishing Corp., 1949.
12 John A. Hawgood, John Augustus Sutter. A Reappraisal, in: Arizona and the West, IV, 4 (Winter 1962), 345, Anm. 2.
13Vom tragischen Schicksal der Donner-Gesellschaft wird weiter unten im Text ausführlicher die Rede sein (siehe Seite 250ff.).
14 Henry H. Clifford, Buchbesprechung, in: California Historical Society Quarterly, XLI (September 1962), 259f.
15 Abbott, New Worlds to Seek, 232, Anm. 24.
16 Manuskript 31/3/22; New Worlds to Seek, 139 und 236, Anm. 40.
Heinrich Lienhards Biografie 1822–1846
Kindheit und Jugend auf dem Ussbühl 1822–1843
Heinrich Lienhard wurde am 19. Februar 1822 in Bilten, Kanton Glarus, geboren. Er war ein Nachfahre Conrad Leonhardts1 von Urnäsch, der im 17. Jahrhundert aus dem Appenzellerland in die Linthebene gezogen war und sich am Ussbühl niedergelassen hatte, einem zu Bilten gehörenden Weiler. Heinrichs Eltern, Kaspar und Dorothea Lienhard-Becker,2 bewirtschafteten einen einfachen Bauernhof mit einigen Hektar Land und einem bescheidenen Viehbestand. Dorothea Lienhard gebar sieben Kinder, von denen drei im ersten Lebensjahr starben.3 Heinrichs Geschwister waren Peter, geboren 1812, Barbara (1819) und der jüngere Bruder Kaspar (1825).
Lienhards Geburtshaus steht in malerischer Lage hoch über dem Talgrund, nur ein paar Schritte von der Kantonsgrenze entfernt, die den Ussbühl in eine schwyzerische und eine glarnerische Hälfte trennt. Es ist noch heute in Familienbesitz und bietet seinen Bewohnern einen einzigartigen Blick von der March im Westen, über das weite Riedland der Linthebene im Norden bis zu den Vorläufern der Glarner Alpen im Osten. Hinter dem Haus ragt der bewaldete Nordhang des Hirzli in die Höhe, über den ein steiler Fussweg zum ehemaligen Bergland der Familie hinaufführt, wo Heinrich oft Vieh hütete und Holz sammelte. Auf alten Karten ist dort noch die Bezeichnung «Lienhard-Berg» (heute Hämmerliberg) zu finden, dem früheren Brauch entsprechend, eine Alpweide nach ihrem Besitzer zu nennen.





