"Wenn Du absolut nach Amerika willst, so gehe in Gottesnamen!"

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Karte von «Highland oder Neu Schweizerland» und Umgebung von 1847 (Ausschnitt) mit den Namen der Siedler, unter anderen westlich der Stadt Ruefs Farm («Ruff»), die Jacob Schütz 1843 noch bewirtschaftete,
südwestlich davon dessen eigene Farm und im Südosten Seneca Gales Farm. Nördlich der Stadt die Farmen der Gebrüder Ambühl.
Schütz war seit einigen Jahren mit der verwitweten Tochter eines Schweizer Farmers verheiratet,120 eine Verbindung mit einer besonderen Geschichte. Die Frau hatte vier oder fünf Monate nach der Hochzeit eine Tochter geboren, worauf Schütz, der sich getäuscht und betrogen fühlte, sie aus dem Haus weisen wollte. Erst jetzt erfuhr er von ihr, dass sie vor der Heirat mit einem anderen, mittellosen jungen Mann verlobt gewesen sei und diesen auch habe heiraten wollen. Ihr Vater habe sie aber, obwohl er von ihrer Schwangerschaft gewusst habe, gezwungen, ihren Verlobten aufzugeben und stattdessen den wohlhabenden Schütz zu heiraten. Nachdem seine Frau ihm alles erzählt hatte, gab Schütz ihrem Bitten nach, und sie durfte mit dem Sohn Fritz aus erster Ehe bei ihm bleiben. Lienhard erinnert sich, dass Schütz und seine Frau zwar getrennt, aber doch unter einem Dach und in gutem Einvernehmen lebten. Die kleine Tochter Maria allerdings wurde bei einer anderen Familie untergebracht.
Als Schütz im März 1844 einmal am Haus jener Familie vorbeiritt, sah er das kleine Mädchen spielen. Er ging zu ihm hin, sprach einige Worte mit ihm, worauf Maria so spontan und freundlich reagierte, dass sie sein Herz offenbar im Sturm eroberte und er beschloss, die Kleine in seinem Haus aufzunehmen. Als Lienhard mit Jacob Leder Anfang März bei Schütz um Arbeit nachgefragt hatte, war Maria erst ein oder zwei Tage bei ihm, und das Bild, das sich ihm und Jacob damals bot, blieb ihm unvergesslich: «Wir fanden das Kind fast beständig an der Hand des alten Schütz, der ihre vielen Fragen kaum alle beantworten konnte. Aber er sah Glücklich aus, musste oft lachen und freute sich offenbar, endlich ein Kind gefunden zu haben. Gleich als ob das kleine Mädchen das Unrecht ihrer Mutter an Schütz wieder gutmachen wollte, war es überall bereit und zur Hand, ihrem väterlichen Wohlthäter behülflich zu sein, und zeigte nicht die geringste Scheu oder Furcht vor fremden Menschen, weder vor Pferden oder Vieh, so dass der Anblick dieses kleinen, lebhaften Wesens besonders geeignet war, das Antlitz des Vater Schütz aufzuheitern.»121 Nur den Schwiegervater, bemerkt Lienhard, habe er in Schütz’ Haus nie angetroffen.
Heinrich Lienhard lernte viel auf der Farm, sowohl im Umgang mit Pferden, was ihm später in Kalifornien zugute kam, als auch in der Landwirtschaft. Eine neue Arbeit erklärte ihm Schütz jeweils kurz und überliess ihn dann bald sich selbst. Im April 1844 gingen sie eines Morgens zusammen auf ein grosses Maisfeld, auf dem Lienhard die Maisstengel bereits abgehackt und zerkleinert hatte, und Schütz zeigte ihm nun, wie er mit Pferd und Pflug umzugehen habe, um das Feld noch zu pflügen. Nach ein paar Runden fand Schütz, Lienhard werde jetzt schon allein zurechtkommen, und liess ihn verdutzt allein zurück. Sein erster Impuls war, alles stehen zu lassen und Schütz ins Haus zu folgen; er entschied sich dann aber, vorher wenigstens eine Runde zu versuchen. «Ich lenkte meine Pferde so gut es eben gieng, und es gieng natürlich schlecht genug, da ich meinte, ich könne meine Augen nicht zu gleicher Zeit auf die Pferde und den Pflug halten. Zudem wurde der Pflug anfangs jeden Augenblick durch die vielen sich zusammenstauenden Maisstengel aus der Furche gehoben. Da gab es dann eine schöne Wülerei: Haufen [von] Maisstengeln mit Grund vermischt, der Pflug oft fast bis an den Baum im Grunde oder im nächsten Augenblick ganz aus Demselben, und die Furchen (wenn sie überhaupt diesen Namen verdienten) bald rechts, bald links aus der Richtung. Mit Schweiss förmlich bedekt, hatte ich endlich die erste Runde gemacht, und fast glaubte ich, schon eine geringe Verbesserung wahrzunehmen. Die Zweite Runde folgte, und jetzt war ich überzeugt, dass es bereits besser gieng. Mit jeder Runde wurden die Furchen besser, und mit jeder Besserung wuchs mein Eifer und schwand meine Verzagtheit, und noch ehe man mir mit dem Horn zum Mittagessen blies, war ich zu der Ansicht gekommen, dass ich wahrscheinlich ebenso gut pflügen könne als fast jeder Andere, und das Pflügen war mir bald mehr zum Vergnügen als zu einer anstrengenden Beschäftigung geworden.»122
Dank Schütz fühlte sich Lienhard nach einem halben Jahr richtig wohl in Neu-Schweizerland: «Der Monat April war sehr schön und Angenehm, und ich fühlte mich beim Pflügen mit meinen zwei vortrefflichen Pferden so glücklich, wie ein junger Mensch mit gutem Gewissen [und] voll Hoffnung für die Zukunft nur kann. Ich wetteiferte mit den Lerchen des Feldes im Singen und Pfeifen und pflügte dabei drauflos, dass es eine wahre Freude war. Selbst die Pferde schienen meine Stimmung zu theilen, die ganze Natur war voll fröhlichen Lebens.»123 Schütz erklärte ihm eines Tages, dass er seine Pferde nicht so streng brauchen dürfe und dass die Tiere mittags wenigstens eine Stunde mehr Ruhezeit brauchten. Er solle nachmittags deshalb nicht vor zwei oder drei Uhr an die Arbeit zurückgehen. Erstaunt fragte ihn Lienhard, was er denn in der Zwischenzeit arbeiten solle, worauf Schütz lachend erwiderte, er könne tun, was ihm gefalle, nur zu arbeiten brauche er nicht.
Zu Beginn der Sommermonate begann in Highland regelmässig die gefürchtete Fieberzeit. Das Wechselfieber, eine Art von Malaria, war «eins der grössten Übel, die die Einwanderer zu ertragen hatten»,124 und es forderte Jahr für Jahr zahlreiche Todesopfer. Lienhard lernte das Fieber bereits im ersten Sommer in all seinen Varianten kennen. Über Tage und Wochen wechselten sich heftige Fieberschübe mit nicht minder heftigen Schüttelfrösten ab, und die starken Kopfschmerzen trieben ihn fast zur Verzweiflung. Fühlte er sich zwischendurch etwas besser, liess der nächste Rückfall bestimmt nicht lange auf sich warten. Es dauerte fast drei Monate, bis er wieder ganz gesund war. Schütz und seine Frau pflegten ihn über die ganze Zeit, weshalb er für die Sommermonate keinen Lohn annahm.
Im Spätherbst 1844 zog es Heinrich Lienhard fort von Neu-Schweizerland. Schütz bot ihm zwar an, den Winter als Gast bei ihm und seiner Familie zu verbringen, doch Lienhard wollte versuchen, in St. Louis eine Lehrstelle als Möbelschreiner, Sattler oder Koffermacher zu finden. In der Stadt angekommen, stellte er bald fest, dass viele andere junge Männer ebenfalls Arbeit suchten, darunter mehrere Landsleute, die wie er im Switzerland Boarding House logierten. Alle Stellen waren besetzt, und da wenig Geld im Umlauf war, gab es kaum eine Möglichkeit, zwischendurch etwas zu verdienen. Mit zwei anderen Schweizern unternahm er einmal den Versuch, neu eingetroffenes Treibholz zu Cordholz125 zu verarbeiten. Doch sie gaben bald wieder auf, denn das mit Wasser vollgesaugte Pappelholz liess sich, einmal zu Cordholzlänge verarbeitet, selbst mit ihren neu gekauften Äxten nicht spalten.
Schliesslich nahm Lienhard eine schlecht bezahlte Stelle bei einem schwäbischen Metzger namens Christ an. Dabei tröstete er sich mit dem Gedanken, dass es ihm in Zukunft vielleicht von Nutzen sein könnte, wenn er schlachten lernte. Er merkte aber bald, dass sich seine Erwartungen nicht erfüllen würden, denn Christs Hauptgeschäft bestand darin, in der nahen Schlachterei Abfälle wie Schweinsköpfe, Schweinsfüsse und Innereien abzuholen und daraus Würste herzustellen; diese Ware verkaufte er dann in einem Park. Als er Lienhard zum ersten Mal auf seine Tour mitnahm, um ihm alles zu zeigen, fuhren sie auf dem Rückweg durch ein Wäldchen, wo Christ ihn anwies, hier künftig bei jeder Fahrt Holz aufzuladen und mit dem Fuhrwerk nach Hause zu bringen. Lienhard fragte ihn darauf, ob das Holz ihm gehöre, was Christ verneinte und hinzufügte, die Besitzerin des Wäldchens sei eine reiche Witwe, die den Verlust nicht bemerke. Auf Lienhards Einwand, er werde kein Holz stehlen, befahl es ihm Christ in barschem Ton. Zu Hause angekommen, packte Lienhard entrüstet seine Sachen und zog am folgenden Morgen wieder ins Switzerland Boarding House. Er hatte nun einen Monat in St. Louis verbracht, war um einige unangenehme Erfahrungen reicher und um zehn Dollar ärmer. Er beschloss, die unbefriedigende Situation zu beenden, und fuhr bei der nächsten Gelegenheit nach Highland zurück.
Im Januar 1845 verpflichtete er sich für zwei Monate bei einem Farmer namens Gale, in der Hoffnung, bei einer amerikanischen Familie besser Englisch zu lernen. Seneca Gale offerierte ihm zwar nur zwei Dollar Lohn pro Monat, wollte ihm aber nach dem Abendessen regelmässig Englischunterricht erteilen. Gale hatte früher als Lehrer gearbeitet und war nach Lienhards Worten ein aufgeklärter und belesener Mann. Anfänglich unterrichtete Gale ihn selbst, dann übernahm mehr und mehr seine 23-jährige Tochter Mariet126 diese Aufgabe. Sowohl Mariet als ihr Vater versicherten Lienhard, dass er es, wenn er ein ganzes Jahr bei ihnen bliebe, in der englischen Sprache mit jedem Einwanderer in Neu-Schweizerland würde aufnehmen können.
Trotz strenger Arbeit auf der Farm fühlte sich Heinrich Lienhard bei den Gales so zufrieden, dass es ihn nicht einmal mehr am Sonntag zu seinen Freunden nach Highland zog. Oft erhielt die Familie Besuch von anderen jungen Männern, und es blieb ihm nicht verborgen, wem diese Aufmerksamkeit galt. Er sah es deshalb mit Genugtuung, dass Mariet keinen der Besucher besonders zuvorkommend behandelte: «Sie sagte mir dann auch selbst, was ich wahrgenommen zu haben glaubte, und wenn sie mich dann wegen meiner schöner Feuer lobte und [mir] zudem kleine Gefälligkeiten erwies, empfand ich immer mehr Zuneigung zu ihr, und diese Zuneigung ward, wie mir schien, erwiedert. Aber ich war damahls noch ein armer Kerl, und der Gedancke, mich mit einem Mädchen näher einzulassen, befor ich vollständig im Stande sein würde, eine Frau selbst zu erhalten, hielt mich von jeder zu grossen Zutraulichkeit ab, und ich blieb daher immer ein wenig Zurückhaltend.»127
Mr. Gale wollte Lienhard für den Sommer 1845 verpflichten und ihm pro Monat sechs Dollar bezahlen, ein guter Lohn für damalige Zeiten. Aber ein Berner namens Christian Wenger hatte Lienhard aus Galena128 geschrieben, dass man dort in den Bleiminen zehn bis zwanzig Dollar pro Monat verdienen könne. Gale äusserte sich zwar skeptisch über diese Nachricht und riet ihm von der Reise ab, doch Lienhards Neugier war stärker, auch wenn ihm die Entscheidung nicht leichtfiel: «Die Mariet hatte nicht gern, dass ich weggieng, und schien der Ansicht zu sein, dass ich nicht genug Anhänglichkeit besitze. Und ich gestehe, dass ich wirklich gar nicht gern von da wegging. Mir war es, als ob ich nicht ganz recht handle, von dieser Familie wegzuziehen, wo ich doch so gut behandelt wurde; ich wusste daher kaum, was ich thun sollte. Dachte ich aber wieder an die 10–12 Dollars per Monat anstatt der $ 6.–, so konnte ich doch in sechs Monaten viel mehr verdient haben als bei Highland, zudem konnte ich mehr von der Welt sehen. Obschon ungern, entschloss ich mich doch zum gehen und glaube, dass ich der Familie Gale, besonders der Mariet, damit Wehe gethan habe.»129
Anfang März 1845 fuhr Lienhard nach St. Louis und bestieg ein Dampfschiff nach Galena. Während dieser Fahrt flussaufwärts erblickte er zu seiner Rechten zum ersten Mal die Stadt Nauvoo, wo er sich gut zehn Jahre später, nur wenige Meter vom Ufer entfernt, niederlassen und den Rest seines Lebens verbringen würde. Nauvoo war 1845 der grösste Ort in Illinois und hauptsächlich von Mormonen bewohnt. Ihr neuer Tempel stand kurz vor der Vollendung, und das prächtige Bauwerk erhob sich majestätisch über die Stadt und den Fluss.130

Das obere Mississippital, wo Lienhard 1845 unterwegs war.
In Galena angekommen, fand er zusammen mit Wenger und einem anderen Schweizer, dem Bündner Christian Theus, Arbeit bei zwei Grubenbesitzern, die gemeinsam ein Stück Land gepachtet hatten. Der eine war ein Engländer, der andere ein Schweizer namens Bühler, und ihre Gruben befanden sich einige Meilen ausserhalb der Stadt. Lienhard und Theus arbeiteten mit dem Engländer in einem Schacht, der bereits über zwanzig Meter tief war und in dem ein zweiter Querstollen vorgetrieben wurde. Als Arbeitsgeräte standen eine Winde, Bottich, Hammer, Bohrer und Sprengmaterial zur Verfügung. Während einer der beiden Gehilfen beim Grubeneingang die Winde betätigte, musste der andere unter Tag dem Engländer zur Hand gehen. Lienhard schauderte es, als er in das dunkle Loch hinunterblickte, und er war erleichtert, dass man ihm die Arbeit an der Winde zuwies: «Obwohl das Aufwinden der Unten gesprengten Felsensplitter [und] der arbeitenden Männer aus der 60 Fuss tiefen Grube einige Kraftanwendung verlangte, so hätte ich doch nicht mit dem Teuss tauschen mögen, welcher dem Engländer in der Grube zu helfen hatte.»131
Eines Tages fühlte sich Theus aber nicht wohl, und Lienhard musste für ihn einspringen. «Als ich Unten ankam, war mir Schwindlig, ich fiel gegen die Seite der Höhle, und mir war es, wie einem Betrunkenen sein muss, welcher bei finsterer Nacht gegen eine Steinmauer fällt. Ich wurde jedoch von meiner halben Treumerei durch die Worte des Engländers aufgeweckt, welcher mir zurief, in gebükter Stellung [mich] ihm zu nähern, da ich mir sonst mein Kopf an dem Felsen anschlagen würde. Ich blickte mich erst jetzt recht um und sah endlich der matte Schein eines Lichtes in einiger Entfernung. Halb kauernd näherte ich mich demselben; der Seitenschacht mochte vier bis vier und einhalb Fuss hoch und vielleicht ebenso weit sein. Der Engländer setzte jetzt den gestählten Steinborer an, und ich musste in äusserst unbequämer Stellung mit dem schweren Eisenhammer auf denselben losschlagen. War das geborte Loch tief genug, wurde sogleich geladen, und ich rief in die Höhe hinauf, dass Teuss mich hinauf ziehe. Ich stellte mich in den Zuber, erfasste das Seil und rief dann: ‹Auf!› Alsobald gieng es langsammen Tempos höher. Hatte ich halbwegs oben die alte Seitenhöle erreicht, schwang ich mich in dieselbe, liess Seil und Zuber los, welcher sofort wieder auf den Boden der Grube zurück gelassen wurde. Der Engländer war dann gewöhnlich bis dahin mit laden fertig, zündete die Schwefelschnur an, begab sich ebenfalls in den Bottich, nach Oben das Zeichen zum Aufziehen gebend, und bald befand er sich an meiner Seite. Es dauerte in der Regel nicht lange, so Donnerte es in der Tiefe, oft die Felsen um uns erschütternd, nach welchem für einige Minuten ein dichter Pulverrauch folgte. War dieser im Abnehmen, wurde zuerst der Engländer, dann ich wieder hinunter gelassen. Unten angekommen, räumten wier die losen Felsentrümmer hinweg, und der Mann an der Winde bekam wieder frische Arbeit.»132
Lienhard gefiel weder der Ort noch die Beschäftigung, und er fand auch den Lohn von zehn Dollar pro Monat für diese gefährliche Tätigkeit gering. Nach ein paar Wochen in «dieser einsammen, überall durchlöcherten Gegend»133 teilte er Wenger mit, dass er sich nach einer anderen Beschäftigung umsehen wolle. Wenger schien der Arbeit in der Grube auch überdrüssig zu sein, denn er machte seinen beiden Kameraden jetzt einen neuen Vorschlag. Sie könnten zu dritt, meinte er, in den Fichtenwäldern am Black River, einem weiter nördlich gelegenen Zufluss des Mississippi, Holz schlagen und es nach St. Louis flössen. Dies sei eine einträgliche Tätigkeit und würde bestimmt jedem von ihnen einen Gewinn von mehreren hundert Dollar bringen. Er versicherte, sich über alles genau erkundigt zu haben und gut Bescheid zu wissen, so dass Lienhard und Theus sich mit dem neuen Plan einverstanden erklärten. Der Engländer und Bühler liessen ihre drei Gehilfen bereitwillig ziehen, denn seit Lienhards Ankunft war kein einziges Pfund Blei zu Tage gefördert worden.
In den nächsten Tagen beschafften sich die Männer das nötige Werkzeug, versahen sich mit einem grossen Vorrat an Lebensmitteln und brachten alles auf das kleine Dampfboot «Otter», das damals die Verbindung zwischen Galena und Fort Snelling134 beim Zusammenfluss des Mississippi und Minnesota River aufrechterhielt. Zu Lienhards Erstaunen fuhr die «Otter» dann aber sowohl am Black River als auch an allen weiteren Zuflüssen vorüber, ohne die Fahrt auch nur zu verlangsamen. Auf seine Fragen, weshalb nicht gehalten werde, wie man doch vereinbart habe, nannte man ihm verschiedene Gründe: Einmal hiess es, die Uferwälder seien schon zu sehr abgeholzt, ein andermal sollte das Flössen an der betreffenden Stelle zu schwierig sein, dann wieder warnte sie der Schiffsclerk vor den Indianern, die gerade an diesem Fluss den Weissen besonders feindlich gesinnt seien. Schliesslich erreichten sie die Endstation der «Otter» bei den St.-Croix-Fällen, wo sie erfuhren, dass sich diese Gegend für ihr Vorhaben am wenigsten eigne, indem sie hier mit all den früher genannten Problemen gleichzeitig rechnen müssten. So kam es, dass sie ihr bereits gelandetes Gepäck wieder auf die «Otter» brachten und das Fichtenwald-Projekt endgültig aufgaben.
Auf der Fahrt flussabwärts lernten sie einen Amerikaner namens John Minter kennen. Der Mann erzählte ihnen, dass er sich unterhalb der St.-Croix-Mündung auf zwei Inseln im Mississippi mit Holzfällen beschäftige; er brauche gerade Hilfe und würde ihnen 50 Cents pro Cord bezahlen, wenn sie für ihn arbeiten wollten. Da sie alle drei ohne Arbeit waren und es zudem wenig Sinn machte, die gesamten Lebensmittelvorräte nach St. Louis zurückzubringen, nahmen sie Minters Angebot kurz entschlossen an. Die beiden Inseln befanden sich unterhalb von Prescott135 (im späteren Staat Wisconsin), aber näher beim rechten Ufer (später Minnesota). Sie lagen rund zwei Meilen auseinander, und während Lienhard und Wenger auf der unteren Insel blieben, begaben sich Minter und Theus zur oberen.
Lienhard und Wenger stellten bald fest, dass fast die ganze Insel schon abgeholzt war und ihre Vorgänger nur das besonders harte Holz oder die zum Fällen ungeeigneten Bäume zurückgelassen hatten. Schlimmer aber war, dass es in den folgenden Tagen nicht mehr zu regnen aufhörte und der bereits Hochwasser führende Fluss in einem fort weiter anstieg. Bald trennte sie ein bedeutender Strom von der hohen Uferbank, das Wasser begann die Insel zu überschwemmen und näherte sich nach und nach auch ihrer Hütte. Da weder Lienhard noch Wenger schwimmen konnten, wurde ihre Lage immer bedrohlicher: «Wir versuchten, durch Umhacken von Bäumen eine Art provisorische Brücke bis zur hohen Uferbank zu formiren, allein die kleinen Bäume wurden vom Wasser sogleich weggeschwemt, und da es ausser diesen nur ganz grosse gab, welche uns viele Arbeit gegeben und womit wier unser Zweck wahrscheinlich doch nicht erreicht haben würden, gaben wier diese Idee auf. Ich brobierte, ob unsere Hausthüre ein Mann tragen könnte, allein sie sank mit mir unter. Somit blieb uns nichts übrig, als geduldig zu warten.»136
Als sie am folgenden Morgen erwachten, fanden sie in der Hütte «1–2 Fuss tief Wasser, in welchem unsere Kleiderkoffern und andere Gegenstände herum fluhteten».137 Die Hütte war rundum von rasch fliessendem Wasser umgeben, so dass sie sich aufs Dach flüchteten und inständig hofften, Minter oder Theus kämen noch rechtzeitig zu ihrer Rettung. Nach bangem Warten sahen sie endlich Minter in seinem grossen Kanu sich der Insel nähern. Er fuhr durch die offene Tür in die Hütte hinein, brachte sie und ihre Habseligkeiten auf der Uferbank in Sicherheit und beförderte dann zuerst Lienhard zur oberen Insel.
Diese Kanufahrt auf dem angeschwollenen Mississippi sollte Lienhard nie mehr vergessen: «Minter hiess mich in das Cano steigen, welches sehr schwer be laden war. Es war das Erstemal in meinem Leben, dass ich ein solches Fahrzeug betrat, und ich fand, dass das Cano durch das vermehrte Gewicht von Minter und mir selbst bedenklich tiefer ins Wasser sank und dass kaum 3–4 Zoll Holz noch über dem Wasser war. Das Wasser des Mississippi floss reissend schnell, und indem ich ein völliger Neuling in einer solchen Bootfahrt war, schwankte das Fahrzeug so bedenklich, dass ich jeden Augenblick erwartete, das Cano werde umstürzen. Ich bot Alles auf, um ja recht aufrecht und ruhig zu sein; da ich aber helfen musste, das Cano vorwärts zu rudern, welches ich früher auch noch niemals gethan hatte, blieb das Hin- und Herschwanken, und zwar derart, dass Minter hinter mir jeden Augenblick ausrief: ‹Pass auf – oder wir leeren noch aus!› Ich glaube nicht, dass ich in meinem ganzen Leben je so viel Bange hatte als bei dieser ersten Canofahrt. Der Schweiss floss mir in Ströhmen über das Angesicht herab, und ich getraute mir nicht einmal, denselben abzuwischen, weil ich fürchtete, dadurch eine Unregelmässigkeit hervor zu bringen.»138
Obwohl der Fluss weiter stieg, arbeiteten sie auch auf der oberen Insel während mehrerer Tage weiter. Sie versuchten, das bereits gehackte Holz vor den Fluten zu retten, fällten – bis zur Hüfte im eiskalten Wasser stehend – weiter Bäume und verarbeiteten diese zu Cordholz. Dann kam auch hier der Moment, wo nur noch der höchste Punkt der Insel, auf dem die Hütte stand, aus dem Wasser ragte und sie gezwungen waren, ihre Arbeit zu unterbrechen, um das Ende des Hochwassers abzuwarten. In den folgenden Tagen fand Lienhard reichlich Gelegenheit, den Umgang mit dem Kanu zu lernen, denn sie verbrachten ihre Zeit mit Fischen und der Jagd auf Wasservögel, Fasane und andere Tiere, die sie mit dem Kanu aufspüren konnten.
In diese Zeit auf der Insel fielen Lienhards erste Begegnungen mit Indianern, besonders mit den Dakota der etwas weiter südlich liegenden Ortschaft Red Wing. Wenn Bewohner aus dem Dorf in ihren Kanus an der Insel vorüberfuhren, hielten sie manchmal an und kamen in ihre Hütte, wo sie dann um etwas Mehl, Salz oder andere Kleinigkeiten baten. Alle Begegnungen verliefen friedlich, wenn auch die Waffen immer griffbereit blieben. Die weissen Männer liessen ihre Besucher nie aus den Augen, und als einmal einige Indianer darum baten, ihr Abendessen in der Hütte zubereiten zu dürfen, verfolgten sie deren Aktivitäten mit angespannter Aufmerksamkeit. Näherten sich Einheimische auf dem Fluss in Überzahl, herrschte höchste Alarmstufe: «Es war da keine Zeit zu verlieren, schnell hatte ich meine Büchse Schussfertig gemacht und hinter die Türe gestellt, mein scharfes, grosses Metzgermesser hatte ich an meinem Körper verborgen, um, sollte es nöthig werden, es tüchtig gebrauchen zu können. Teuss hatte leider jetzt noch keine Schiesswaffe, hatte aber wie ich ein Messer zu sich genommen, hatte auch eine Axt fertig gemacht, mit welcher er sich, wenn nöthig, verteidigen wollte. Wier blieben ausserhalb der Hütte, denn ich war der Ansicht, dass wier keine unnöthige Furcht zeigen sollten, obschon etwelche der Indianer ein eigenthümliches Jauchzen vernehmen liessen.»139
Wie schnell eine Situation hätte eskalieren können, erlebte Lienhard am Tag seiner Ankunft auf der oberen Insel. Nachdem Minter nochmals zur unteren Insel gefahren war, um auch Wenger zu holen, erschien Letzterer plötzlich in einem Kanu, das von drei Indianerinnen gerudert wurde. Bei der Insel angekommen, stiegen sowohl Wenger als die Frauen aus: «Wier mussten Jeder fünf Cents und ein Blechbecher voll Mehl geben, weil sie den Wenger mitgebracht hatten, da Minter gefunden hatte, dass unser Canoe schon ohne den Wenger fast zu tief im Wasser gieng. Wenger sagte uns, Minter komme nach und müsse bald da sein; doch noch ehe die Indianerinnen unser Platz verliessen, hörten wier mein Namen rufen und endekten auf der Höhe des östlichen Ufers unsern Minter, welcher mir zurief, die Indianer zu töden, denn sie hätten den Wenger auch getödet. Wenger antwortete, dass er nicht tod und dass Alles in der Ordnung sei.»140
Die Indianer kannten die Gewaltbereitschaft der Weissen und waren in deren Nähe ebenfalls auf der Hut. Lienhard und Theus befanden sich eines Tages in einiger Entfernung ihrer Hütte an der Arbeit, als sie ein Kanu sich nähern sahen: «Die Squaw141 ruderte das Canoe, [während] er ein kleiner Karobiner ladete, wahrscheinlich, um einen Schuss fertig zu haben, wenn es nöthig werden sollte, währenddem er mit den weissen Männer in Berührung zu kommen gedachte. Es war der Häuptling der Sioux-Indianer von Redwing142. Er war an einem Auge blind, mochte etliche vierzig Jahre alt sein und war eher Klein als Gross, aber zimmlich untersetzt.» Lienhard und Theus wussten, dass sich Minter in der Hütte befand, weshalb sie ihre Arbeit nicht unterbrachen; nachher erfuhren sie aber, dass der Dakota in die Hütte gekommen sei und ein Beil mitgenommen habe. «Wier waren unzufrieden mit Minter, weil er uns nicht gerufen hatte, als der Häuptling uns das Hatchet nahm. Wier erwarteten nicht, dass wier es wieder zu sehen bekommen würden. Eines abends, wier waren gerade daran, unser Nachtessen zu nehmen, da trat ein stattlicher und schöner junger Indianer in unsere Hütte mit unserem Hatchet in der einen Hand, welches er bei Seite legte, währenddem er etwas sagte, was wier wieder freilich nicht zu verstehen vermochten, welches wahrscheinlich aber Dankesworte waren.»143





